Luca Guadagninos feinfühliges Meisterwerk „Call Me by Your Name“ erzählt in betörenden Bildern von Liebe und Freundschaft zweier junger Männer im Bella Italia der achtziger Jahre. That’s Amore. And more.
Was lange währt, wird endlich gut. Mehr als vierzige Preise hat Call Me by Your Name bereits errungen, für vier Oscars ist er nominiert. Die Kritik feiert die Geschichte zweier junger Männer, die einander im Italien der achtziger Jahre emotional und körperlich nahekommen, als einen der besten Filme der Saison. Und doch machte das Projekt eine Entwicklungshölle durch, die im krassen Gegensatz zu den idyllischen Filmbildern steht. Die US-Produzenten Peter Spears und Howard Rosenman arbeiteten bereits 2007 an dem Projekt, hatten die Rechte am Roman André Acimans schon vor dessen Veröffentlichung, rein auf Basis der Druckfahnen, erworben. Der Enthusiasmus war vorhanden, allerdings fand sich über Jahre hinweg kein Regisseur, der sich auf das Projekt einlassen wollte oder konnte. Absage folgte auf Absage. Die Dinge kamen erst 2014 in die Gänge, als der mit Spears und Rosenman befreundete US-Altmeister James Ivory begann, am Drehbuch zu arbeiten. Gemeinsam mit dem Italiener Luca Guadagnino, der ebenfalls Skript-Input lieferte, hätte Ivory den Film auch inszenieren sollen, doch die internationalen Finanziers befürchteten angesichts mehrerer Köche Komplikationen. Ivory trat dezent beiseite, und so machte Guadagnino den Film schließlich als alleiniger Regisseur zum dritten Teil seiner „Trilogie des Begehrens“ (nach dem exzellenten Familiendrama I am Love, 2009 und der sehenswerten, aber durchwachsenen Der Swimmingpool-Paraphrase A Bigger Splash, 2015). Und welch ein dritter Teil es geworden ist.
The Boys of Summer
Norditalien, 1983. Elio Perlman (Timothée Chalamet), ein 17-jähriger Amerikaner, verbringt den Sommer mit seinen Eltern in einem Haus unweit des Gardasees. Er spielt virtuos bis eklektizistisch Bach am Klavier und auf der Gitarre, ist geschichtsbewandert, liebt Poesie und geht mit Freunden schwimmen. Der Vater (Michael Stuhlbarg) forscht zum Thema antike Statuen, die italienischstämmige Mutter (Amira Casar) beschäftigt sich mit Literatur. Als der 24-jährige US-Student Oliver (Armie Hammer) eintrifft, der Professor Perlman einige Wochen bei seinen Recherchen assistieren soll, hält Elio ihn zunächst für arrogant und begegnet ihm entsprechend distanziert. Dass der Neuankömmling Elios Zimmer belegt und die beiden sich ein Badezimmer teilen müssen, hebt Elios Laune ebenfalls nicht. Oliver, ein selbstbewusst auftretender junger Mann mit athletischem Körper und großem Wissen – er kann etwa aus dem Stegreif darüber referieren, über welche lateinisch-griechisch-arabische Ecken sich das Wort Pfirsich herleitet – begeistert jedenfalls schnell die Mädchen der Gegend und beginnt eine Affäre mit der jungen Chiara. Der introvertierte Elio dagegen lässt sich mit der Französin Marzia ein und verliert mit ihr seine Unschuld. Als Elio, dessen Familie nach Aussage der Mutter „diskret jüdisch“ ist, entdeckt, dass Oliver ebenfalls Jude ist, weckt dies seine Neugier und bestärkt ihn darin, zu seinen Wurzeln zu stehen. Bei gemeinsamen Radtouren freunden sich die beiden an und beginnen eine leidenschaftliche Affäre. Während der eher introvertierte Elio sich immer mehr öffnet und ob des innigen Verhältnisses zu Oliver die verliebte Marzia vernachlässigt, rückt die Abreise des Gastes immer näher …
Schon die ersten Einstellungen des Films – die nachmittägliche Ruhe in der Perlman-Villa kurz vor der Ankunft Olivers, das magische Licht des Südens, das hypnotische Zirpen der Zikaden – nehmen gefangen und geben den Ton vor: Call Me by Your Name ist ein atmosphärisches Gedicht. Guadagnino und sein thailändischer Kameramann Sayombhu Mukdeeprom kreieren wunderschöne Bilder, die allerdings nie zu selbstzweckhaften Postkartenmotiven geraten. Längere Einstellungen vermitteln oftmals Unmittelbarkeit, gelegentlich ein Gefühl von Echtzeit. Über weite Strecken wird auch auf offensichtliche Bilder verzichtet: Als Elio Oliver Feuer gibt und sich daraus ein Gespräch über verstecktes Begehren entspinnt, gibt es keine Close-ups. Die Kamera beobachtet die beiden zunächst aus der Halbtotale, lässt sie ein Kriegsdenkmal umrunden und rückt nur unmerklich näher. So unmerklich, wie auch die geistige Annäherung der Figuren vor sich geht.
Das Zeitkolorit der jungen achtziger Jahre ist in allen Details da: Polos von Lacoste, Poster mit dem Konterfei von Bryan Ferry, ein Song aus Flashdance („Lady, Lady, Lady“, co-geschrieben vom Südtiroler Giorgio Moroder und gesungen von Joe Esposito, fügt sich ebenfalls in den US-italienischen Konnex), John Travolta und Star Wars auf den Titelseiten der Zeitschriften. Doch ist dies alles unaufdringlich in Szene gesetzt; es handelt sich um visuelle Details, die die Geschichte stützen, anstatt sie protzig zu überlagern (eine Falle, in die schon mancher Filme getappt ist).
Das Land, wo die Pfirsiche blühen
Auch was die Motivationen der Charaktere betrifft, verzichtet der Film weitgehend auf Klischees, nimmt sich Zeit. Guadagnino zeigt die Charaktere ausgiebig beim in der Sonne liegen, beim Schwimmen (mittlerweile eines der Trademarks des Regisseurs) oder beim Plaudern über Musik und Kunst. Ja, es geht hier um Menschen, die gebildet und wohlhabend sind und in einem idyllischen Teil der Welt leben, doch werden die Klippen der Luxusprobleme elegant umschifft. Denn hier wird nicht einfach die Geschichte einer homosexuellen Affäre erzählt, sondern auch die universelle Geschichte einer besonderen Freundschaft und Liebe (der Titel des Films – und des berührenden, melancholischen Romans – bezieht sich auf ein intimes Spiel, das die beiden spielen, um sich im jeweils anderen zu spiegeln). Zudem lässt der Film offen, inwieweit Elio und Oliver schwul sind – beide werden auch beim ebenso entspannten wie lustvollen Umgang mit Frauen gezeigt. Das, was Elio und Oliver verbindet, scheint eine einmalige Sache zu sein, die für Außenstehende schwer zu begreifen ist. So erzählt Call Me by Your Name nicht zuletzt von dieser einen, besonderen Begegnung mit einem Menschen, der einem etwas bedeutet. Eine Begegnung, die wir alle uns zumindest im Leben wünschen, die aber nicht jedem vergönnt ist.
„Nature has cunning ways of finding our weakest spot“, sagt Mr. Perlman in einem schönen, harte Wahrheiten nicht scheuenden Vater-Sohn-Gespräch, das im Grunde ein Monolog über emotionale Wunden versäumte Gelegenheiten ist: „We rip out so much of ourselves to be cured of things faster than we should that we go bankrupt by the age of thirty and have less to offer each time we start with someone new. But to feel nothing so as not to feel anything – what a waste.“
Während man Call Me by Your Name in Bezug auf Elio als Coming-of-Age-Film bezeichnen könnte, erzählt die die Beziehung zwischen Elio und Oliver auch viel von der Liebe zum Schönen. Italien, für viele das Land der Schönheit schlechthin, das mit seiner mediterranen Lage zur Wiege der westlichen Zivilisation gehört, ist somit der logische Schauplatz der Handlung. Orte sind in Guadagninos Filmen immer mehr als nur Nebendarsteller (man denke nur an die Wichtigkeit von Architektur in I am Love). Zur speziellen Atmosphäre des Films trägt auch der hervorragende Soundtrack bei, aus dem besonders zärtliche, eigens für den Film komponierte Song „Mystery of Love“ von Sufjan Stevens herausragt.
Der mittlerweile 89-jährige James Ivory, in dessen eigenen Regiearbeiten – darunter Maurice (1987) oder The Remains of the Day (1993) – oftmals Protagonisten im Mittelpunkt stehen, die ihre Gefühle und Leidenschaften unterdrücken, war die perfekte Wahl für das Drehbuch, die Oscarnominierung hochverdient. Ivorys Skript greift immer wieder die italienische Geschichte auf; schon in den eröffnenden Credits, die Fotos wohlgeformter Männer- und Knabenstatuen zeigen, verbinden sich Antike und Sinnlichkeit. In einer Szene, in der Elio und Oliver der Bergung einer Statue aus dem Gardasee beiwohnen und nach einer Meinungsverschiedenheit ein versöhnliches Shake-Hands mit dem abgefallenen Arm der Figur simulieren, ist diese Verbindung besonders deutlich zu spüren (und weckt womöglich entfernt Erinnerungen an die Pompeji-Szene aus Rossellinis Viaggio in Italia). Die jüdischen Wurzeln der Figuren stehen dabei nie im Vordergrund, sondern fügen sich wie beiläufig in die Identitätssuche Elios.
Die Symbole sind gut gewählt, beispielsweise die schon erwähnten Pfirsiche als Verkörperung von Sinnlichkeit. In einer bereits viel diskutierten Szene, in der Elio mit Hilfe einer solchen Frucht masturbiert, könnte man eine ernsthaftere Variante der Kuchenszene aus „American Pie“ (1999) erblicken: „American Peach“, sozusagen.
Bleibt noch, das durchwegs exzellente Ensemble zu loben, allen voran Timothée Chalamet, der dem introvertierten Elio bei allem Naturalismus eine schöne geheimnisvolle Aura verleiht. Der Schauspieler zeigt hier ebenso sensible wie physische Darstellungskunst, denn Guadagnino rückt den knabenhaften Körper Chalamets (der Schauspieler während der Dreharbeiten bereits 20) ausführlich ins Bild – allerdings ohne in plakativ zu sensualisieren: Es geht um ein Erwachen, ein Erblühen. Regie und Schauspiel ergänzen sich wunderbar.
Armie Hammer, der lange zögerte, die Rolle anzunehmen, liefert hier die wohl beste Leistung seiner bisherigen Karriere ab. Er ist großartig als der anfangs reservierte Amerikaner, der Elio erst allmählich an sich heranlässt und überzeugt schließlich auch in den zärtlichen, romantischen Szenen. Dass die Chemie zwischen den beiden Schauspielern schlichtweg grandios ist, ist ein weiterer Grund, warum Call Me by Your Name so gut funktioniert.
Wunderbar auch Michael Stuhlbarg, der zu den prononciertesten Nebendarstellern Hollywoods gehört. Hier spielt er mit einer Natürlichkeit auf, die seine Rolle zu etwas ganz Besonderem macht. Sein schon erwähnter Monolog gehört sicherlich zu den schönsten Momenten des Kinojahres.
Luca Guadagnino hat mittlerweile die Absicht geäußert, die Geschichte von Elio und Oliver weiterzuerzählen. Nicht bloß mit einer einzigen Fortsetzung, sondern gleich in Form eines Zyklus nach dem Vorbild von Truffauts „Antoine Doinel“-Reihe. Elio und Oliver über viele Jahre hinweg zu beobachten, darauf macht Call Me by Your Name große Lust.