In „The Florida Project“ beweist Sean Baker erneut, wie man auch mit sparsamen Mitteln großes Kino machen kann.
Sean Baker macht Filme, die ins Auge stechen. Wortwörtlich sogar. War man in Tangerine (2016), dem ersten vollständig mit dem iPhone gedrehten Independent-Film, noch von der Wucht einer in Kunstlicht gebadeten Ästhetik erschlagen, kommt The Florida Project mit seinem bonbonfarbenen Look im grellen Sonnenschein auf den ersten Blick zwar etwas entspannter daher – aber wie gesagt, nur auf den ersten Blick. Denn Baker und, in dem Fall, sein Kameramann Alexis Zabe, holen förmlich aus den Schauplätzen heraus, was es zu holen gibt. Alles wirkt ein bisschen zu grell, zu bunt, zu krass, als würde man mit den Sinnen eines Kleinkindes auf diese Welt schauen, die, sobald man hinter die Fassade zu blicken wagt, noch eine ganz andere Farbpalette offenbart.
Tatsächlich sehen wir den Film aus den Augen der sechsjährigen Moonee (Brooklynn Prince), die gemeinsam mit ihren Spielkumpanen Scooty (Christopher Rivera) und Jancey (Valeria Cotto) die Gegend rund um ihr heimisches Motel-Areal unsicher machen, das nur wenige Meilen vor den Toren von Disney World, Orlando, Florida, liegt. Während sich ihr aufgewecktes Töchterchen mit Eiscreme und jeder Menge Streichen vergnügt, die dem Hotelmanager Bobby (Willem Dafoe) das Leben schwer machen, muss die junge Halley (Bria Vinaite) versuchen, die Miete und ein bisschen was Extra zum Leben aufzubringen. Aber leicht fällt es ihr nicht. Ihren Job als Stripperin hat sie vor kurzem geschmissen, weil sie sich nicht den Sonderwünschen der Kunden hingeben wollte. Stattdessen versucht sie nun Billig-Parfum an die Hotelgäste des Freizeitparks zu verkaufen oder sonst wie an genügend Cash zum Überleben zu kommen. Moonee kümmert das alles herzlich wenig, bis eines Tages dicke Wolken über ihrem „Magic Castle“-Motel aufziehen.
Mit einem Mini-Budget von zwei Millionen Dollar und einer ausgesuchten Besetzung aus Laien- und Profidarstellern hat Baker, der seit über zehn Jahren fest mit Ko-Autor Chris Bergoch zusammenarbeitet, nach Tangerine einen weiteren Coup gelandet, der ihn diesmal sogar fast bis in Oscar-Nähe katapultiert hätte. Dass es am Ende nicht für eine Nominierung für den Besten Film oder Regisseur gereicht hat, tut dem Erfolg des Films auf internationaler Ebene jedoch keinen Abbruch. Und auch wenn das Schicksal von Halley und Moonee wenig Hoffnung verspricht, den beiden Darstellerinnen, die sie verkörpern, dürfte zumindest eine rosige Zukunft bevorstehen.
Der Schauplatz Ihres neuen Films, ein herunter gekommener Motel-Komplex jenseits von Disney World, spielt in Bezug auf die Handlung eine tragende Rolle. Woher kam die Idee, im Schatten des Magischen Schlosses zu drehen?
Chris [Bergoch] hat mich zunächst darauf gestoßen. Aber als wir mit der Recherche begannen, haben wir gemerkt, dass bereits einiges darüber geschrieben worden war. Und auch eine Dokumentation gab es bereits, und zwar darüber, dass sich eine ähnliche Situation auch in O.C. an der Westküste abzeichnet sowie kreuz und quer im ganzen Land. Billige Motels, wie die, die wir im Film zeigen, sind quasi zur letzten Anlaufstelle für Familien in Geldnot geworden. Danach bleibt ihnen nur noch die Straße. Aber das große Paradox ist natürlich, wenn die Kinder dann einen Steinwurf entfernt vom „Magischen Königreich“ aufwachsen. Darum haben wir uns auf Orlando und Kissimmee in Florida konzentriert.
Das Drehbuch zu „The Florida Project“ hatten Sie und Chris angeblich schon länger in der Schublade. Haben Sie es dem Erfolg von „Tangerine“ zu verdanken, dass Sie den Film schließlich drehen konnten?
Auf jeden Fall. Das hat uns direkt die Möglichkeit gegeben, das Projekt zu finanzieren. Die Leute von June Pictures meinten daraufhin nur: „Hier ist das Budget, damit kannst du machen, was du willst. Und du bekommst den „Director’s Cut.“ Das war’s, mehr brauchte ich nicht zu hören. Wir zeigten ihnen das Treatment, das wir schon vor fünf Jahren geschrieben hatten, und sie haben es angenommen.
Es geht in Ihrem Film auch darum, Armut zu thematisieren, ohne immer gleich trist und deprimierend zu wirken.
Das war in Tangerine ja schon so ähnlich. Bereits da ging es darum, eine sehr ernste und im Grunde todtraurige Situation in einem comichaften Stil zu verpacken. Und wir haben damals gemerkt, dass es funktioniert. Aber was noch viel wichtiger war: Angesichts des Unterhaltungswerts, den der Film hatte, haben wir am Ende eine größeres Publikum erreichen können. Plötzlich bekamen wir all diese Nachrichten über Twitter und Facebook, von Leuten, die die Geschichte inspiriert hat, aktiv zu werden, helfen zu wollen. Und uns hat es gezeigt, dass es keinen Vorschlaghammer braucht, um Menschen auch mit harten Themen wie diesen zu erreichen. Deshalb haben wir uns in The Florida Project erneut auf dieses Model berufen.
Anders als bei „Tangerine“, haben Sie dafür diesmal ein ganzes Drehbuch ausgearbeitet.
Ja, bei dem Budget ging es gar nicht anders. Aber ich bin jemand, der die Schauspieler beim Drehen eigentlich immer zur Improvisation ermutigt. Ich denke, es hilft vor allem denen, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben vor der Kamera stehen, weil sie meistens Probleme damit haben, sich die Dialoge zu merken. Was ja auch kein Wunder ist, immerhin haben sie nie eine klassische Ausbildung absolviert. Wenn man als Regisseur mit Laien arbeitet, muss man sich darauf einstellen. Das ist bei jedem Menschen sowie bei jedem Film anders. Bria zum Beispiel, habe ich über Instagram gecastet. Einmal wegen ihrer Körpersprache, aber auch, weil sie mich zum Lachen gebracht hat. Dann haben wir sie eingeladen und sie hat sich auf Anhieb super mit den Kids verstanden. Das war keine anderthalb Monate vor Drehbeginn. Dass heißt, sie brauchte dringend einen Crash-Kurs im Schauspielern, das ging gar nicht anders. Sie musste ja innerhalb von ein paar Wochen in der Lage sein, eine Szene mit Willem Dafoe zu stemmen, das will schon was heißen. Da ist eine Menge Druck im Spiel. Vor allem für eine 22-Jährige, die sonst nur daran gewöhnt ist, in ihrem Zimmer allein vor dem Spiegel zu posieren.
Fiel es den Kindern einfacher?
Brooklynn ist eine professionelle Schauspielerin, wenn sie so wollen. Ich denke nicht, dass sie jemals irgendeinen Druck verspürt hat. Valeria schon, und auch der kleine Christopher. Aber wir hatten beim Casting ja bewusst alles so offen wie möglich gehalten. Jeder konnte sich bewerben, ob Laie oder Profi. Nur so haben wir Christopher Rivera, der im Film Scooty spielt, überhaupt gefunden. Allerdings ist er auch ein sehr extrovertiertes Kind, der immer für einen Spaß zu haben ist. Und ich glaube, es hat die Dreharbeiten ein bisschen als eine andere Art von Sommerlager gesehen. Bei Valeria war das anders, sie ist eher scheu. Und sie war gerade einmal fünf, als wir sie entdeckt haben. Sie muss unter einem enormen Druck gestanden haben. Aber man muss dazu sagen, dass alle drei extrem wundervolle Eltern haben. Das war Gold wert. Ich wollte auf keinen Fall die Sorte schleimiger Hollywood-Eltern um mich, die ihr Kind nur zur Schau stellen wollen. Das hätte vorne und hinten nicht funktioniert. Wir brauchten Kinder, die extrem gute Rückendeckung und Unterstützung hatten.
Was treibt die Familien dazu, in Budget-Motels zu ziehen?
Jede Familie hat ihre ganz persönlichen Gründe. Für viele ist es eine Übergangslösung. Oft kommen sie aus der Stadt, aus Gegenden wie New York, in der Hoffnung, Arbeit zu finden und von der wachsenden Wirtschaft Floridas zu profitieren. Das gelingt aber natürlich nicht allen und so landen sie irgendwann im Motel, weil sie da keine Nebenkosten zahlen müssen. Das hilf ihnen, sich ein bisschen länger über Wasser zu halten. Wasser, Müll, Wi-Fi ist alles inklusive, und dennoch müssen sie jeden Monat um die $1000 aufbringen. Das ist trotzdem nicht ohne. Dazu kommt, dass die Leute, die in den Motels unterkommen, leicht in Abhängigkeit geraten: Drogen, Alkohol, das Übliche. Oder sie werden zu kriminellen Handlungen verleitet, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Auch Leute, die von der Gesellschaft verstoßen wurden, landen hier. Die Gründe sind unzählig und vielfältig. Es ist sehr, sehr kompliziert.
In Ihrem Film gehen Sie auch auf das Problem Prostitution ein.
Die Tatsache, dass es noch immer illegal ist, das ist das Problem. Amnesty International hat sich in einer Grundsatzentscheidung dazu entschlossen, für die Legalisierung von Prostitution einzutreten, und auch ich stimme dem voll und ganz zu. Die Entkriminalisierung des Gewerbes hilft denen, die darauf angewiesen sind, sich auf diese Art und Weise durchzuschlagen, weil sie sonst keine andere Wahl haben.
Ich möchte kurz auf die Kameraarbeit zu sprechen kommen, die in Ihren Filmen eine sichtlich große Rolle zu spielen scheint.
Für mich ist Kino die Summe vieler verschiedener Elemente, aber die Kameraführung steht mit ganz oben, auf gleicher Höhe mit der Handlung. Ich hatte das große Glück mit so wundervollen DPs wie Radium Cheung und jetzt Alexis Zabe zusammenzuarbeiten, und was Alexis zu dem Film gebracht hat, ist unglaublich – er hat auf Anhieb verstanden, worum es ging. Er hat die Geschichte genommen, sich in die Umgebung eingefühlt als auch die politische Dimension dahinter sofort begriffen, und hat dann daraus seine eigene visuelle Darstellung gebastelt. Er hat das Ganze am Ende „Blaubeer-Eiscreme mit saurer Note“ genannt.
Wie haben die Leute aus den Motels reagiert, als es darum ging, ihr Zuhause zu filmen?
Auch in der Hinsicht gibt es Parallelen zu Tangerine. Wenn man es mit Leuten zu tun hat, die sonst von der Gesellschaft ignoriert werden, ist es oft so, dass, sobald sie die Gelegenheit bekommen, sie einem alles erzählen. Es gab ein paar Motel-Manager, die die Rolle von Willems Bobby Charakter beeinflusst haben. Ein Mann ganz speziell, John Manning, der uns seine Welt offengelegt hat. Er hatte alle Mühe, sein Motel vor dem Verfall zu bewahren, geschweige denn, seinen eigenen Job zu halten. Gleichzeitig musste er sich um 200 Familien, fast alles Härtefälle, kümmern. Er musste Familien evakuieren, weil die Betreiber nicht länger auf die Miete warten wollten. Das ist hart, vor allem, wenn man eigentlich helfen will, aber selbst zu denen gehört, die am kürzeren Hebel sitzen.
Gab es auch filmische Inspirationen? „Little Rascals“ zum Beispiel, oder „Oliver Twist“?
Unbedingt. Little Rascals hatte einen großen Einfluss auf mich. Wer den Film kennt, wird auch hier und da bestimmte Sätze entdecken, die wir übernommen haben, als Hommage sozusagen. Aber auch Filme mit Kindern allgemein, haben eine Rolle gespielt. Wir haben uns viel angeschaut. Grundsätzlich ging es mir darum, weite Einstellungen zu haben, und den Blick länger auf den Kindern zu halten. Ich wollte nicht mit dem Schnitt ihr Spiel manipulieren, sie sollten in den Szenen lebendig sein. Dieses Gefühl von Freiheit und Ungebundensein, das Little Rascals vermittelt, wollte ich auch auf unseren Film übertragen. Insgeheim hab ich die ganze Zeit gehofft, dass uns einer wie Spanky McFarlane über den Weg läuft. Ganz ehrlich, ich wollte den Film gar nicht machen, es sei denn wir würden unsere moderne Version eines Spanky finden – und dann Brooklynn.
Seit der Premiere letztes Jahr in Cannes ist Ihr Film in aller Munde. Hat Sie das überrascht?
Ja, total. Es ist schon Wahnsinn, dass der Film so gut aufgenommen wurde. Ich arbeite schon recht lange im Indie-Filmgeschäft, an Filmen, die in der überschaubaren Indie-Welt Aufmerksamkeit erregen. Aber dass mir jetzt sogar Freunde aus der High School Nachrichten schicken, weil sie gerade in der „New York Times“ über The Florida Project gelesen haben, das ist schon toll. Und es ist genau dass, was wir erreichen wollten. Was will man mehr?