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Transit – Interview mit Christian Petzold

Zwischen Welten

| Pamela Jahn |
In Christian Petzolds „Transit“ gibt es keine Heimat, nur Menschen auf der Suche nach ihr. Ein Gespräch über Lieblingsbücher, Asylparagraphen und was es heißt, anzukommen.

Die Zeit ist knapp, der Ort flüchtig. Menschen kommen und gehen. Nur die Sonne steht unbarmherzig über allem und rührt sich nicht. Auch Georg (Franz Rogowski) ist gerade erst eingetroffen in Marseille, aber er hat nicht vor, zu bleiben. Von der Hafenstadt aus soll es weitergehen, egal wohin, Hauptsache weg aus dem von deutschen Truppen verseuchten Europa. Wie alle um ihn herum ist auch Georg auf der Flucht in ein neues Leben. Doch der Weg in die Zukunft ist kein geradliniger. Schiffspassagen und Transits in andere, sichere Länder sind rar und so bleibt dem jungen Mann schließlich keine andere Wahl, als eine fremde Identität anzunehmen, um die eigene Haut zu retten. Unverhofft war er noch in Paris durch dem Selbstmord eines Schriftstellers namens Weidel an dessen Unterlagen und Reisedokumente geraten – darunter auch die Zusicherung eines Visums durch die mexikanische Botschaft für Weidel und seine Ehefrau Marie (Paula Beer), die, in Marseille ausharrend, noch nichts von Tod ihres Mannes ahnt. Aber auch ihre Begegnung mit Georg soll die Wahrheit nicht ans Licht bringen. Stattdessen verschwimmen die Tage des Wartens für alle Beteiligten immer mehr, immer dichter zu einem schwelenden Augenblick der Zusammenkunft und der Trennung, der Ungewissheit und der Liebe, losgelöst von Raum und Zeit, in einer Welt, die keinen Schutz bietet und keine Heimat kennt.

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Christian Petzold mag in Transit von Deutschen auf der Flucht vor den Nazis erzählen, inspiriert von und angelehnt an die Figuren und Erzählungen aus Anna Seghers‘ gleichnamigen, 1944 erstmals veröffentlichten Roman, auf dem der Film beruht. Dennoch ist seinem Blick zurück gleichzeitig eine Aktualität beigemessen, die so gewagt ist wie dringlich. Anstatt die Handlung historisch korrekt in die Vergangenheit zu verlegen, lässt der Regisseur seine Protagonisten kühn und unaufhaltsam durch ein Vakuum der Zwischenzeitlichkeit driften. Selbst wer über die Ausstattung auf ein eindeutiges gestern, heute oder morgen zu schließen versucht, wird nicht fündig werden: Geschichte und Gegenwart verbinden sich zu einem phantombildhaften Unort, irgendwo im Nirgendwo, der in seiner Nichtzugehörigkeit den Blick frei macht auf die Figuren, die in ihm agieren. Das eigentlich Erstaunliche dabei ist jedoch die halsbrecherische Eleganz, mit der Petzold selbst sich durch die Ewigkeit bewegt, ohne jemals anzuecken, aufzudecken oder sonst wie ins Schleudern zu geraten auf seiner „Road to Nowhere“, wie es die Talking Heads so passend über dem Abspann besingen. Transit zeigt den heute 57-jährigen Ausnahmeregisseur einmal mehr nicht nur in seinem Thema, sondern ganz in seinem Metier: Auf der Durchreise, ohne Halt, aber auch nie ganz ohne Hoffnung, wie das Leben selbst.

„Transit“ ist ein Wort, dass sich wie ein roter Faden durch Ihr gesamtes Werk zieht. Hat es sich nicht komisch angefühlt, das Kind diesmal direkt beim Namen zu nennen?

Ja, schon. Ich wollte den Film auch erst gar nicht Transit nennen. Aber das Buch von Anna Seghers hat mich einfach immer so sehr beeindruckt, dass ich am Ende den Titel dann doch übernommen habe. Ich weiß noch, mein erster Film, Pilotinnen, der hieß zunächst Drifters – das hat ja auch so etwas: Durch die Gegenwart driften und keinen Ort finden. Und es stimmt schon, im Grunde ist das die Metapher aller meiner Filme: Menschen, die durch die Zeiten oder durch Räume unterwegs sind auf der Suche nach etwas, was ihnen Halt bietet.

Wann sind Sie denn zum ersten Mal auf das Buch von Anna Seghers gestoßen?

Es war so, dass ich früher eine Schallplatte von Wolfgang Neuss besaß, einem Kabarettisten der fünfziger und sechziger Jahre, von dem ich damals ein großer Fan war. Auf dieser Platte wurde Anna Seghers als furchtbare DDR-Autorin hingestellt, kann man so sagen, und deshalb dachte ich lange, Seghers muss schrecklich sein. Doch dann lernte ich Harun Farocki kennen, und sein Lieblingsbuch war „Transit“. Ich war total schockiert. Daraufhin meinte Harun zu mir: „Lies doch erst Mal „Ausflug der toten Mädchen.“ Und das ist bis heute eine meiner absoluten Lieblingserzählungen von Anna Seghers. Danach habe ich „Das wirkliche Blau“ gelesen, und dann erst „Transit“. Aber da war es so, dass ich wirklich vom ersten Moment an wusste, dass dies der Roman ist, der all unserer Arbeit zugrunde liegt, Haruns und meiner.

Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden vorstellen?

Harun und ich hatten ein paar Paragraphen, eine Art Grundgesetz unserer gemeinsamen Arbeit. Zum einen gehörte dazu, was sie bereits angesprochen haben, nämlich dass alle Figuren immer in Transit, also gewissermaßen auf der Durchreise sein müssen. Weil es – wie bei Gilles Deleuze – im Kino immer ums Werden gehen muss und nie ums ein. Zum anderen ging es uns darum, immer zwei Geschichten zu erzählen, die parallel laufen und sich miteinander ausbalancieren.

Und wann nahm die Idee, „Transit“ zu verfilmen, dann tatsächlich konkrete Züge an?

Erst ungefähr ein Jahr vor Haruns Tod. Damals haben wir ein erstes Treatment verfasst, das allerdings eine historische Verfilmung war. Dann wurde Deutschland Fußballweltmeister und eine Woche später ist Harun verstorben. Aber in diesen Tagen haben wir noch einmal über das Buch gesprochen und ich sagte zu ihm, dass ich so kurz nach Phoenix ungern gleich noch einmal einen historischen Film drehen wollte. Und er meinte daraufhin auch: „Dann lass uns das doch aufschieben.“

Das heißt, die Romanerzählung in eine unbestimmte Gegenwart zu versetzen, war letztendlich Ihre eigene Entscheidung?

Ja, aber es gibt dazu auch eine kleine, etwas kitschige Anekdote: Denn um den Entschluss zu treffen, bin ich zum Grab von Harun und habe, wie im John Ford Film Young Mr. Lincoln, einen kleinen Ast auf das Grab gestellt und zu mir gesagt: Links heißt, ich drehe es nicht. Rechts heißt, ich versetze die Geschichte in die Gegenwart. Und nach einem kleinen Stoß in die richtige Richtung war es entschieden.

Sie haben bereits im Vorfeld explizit darauf hingewiesen, dass Ihr Film keine Adaption des Romans von Anna Seghers sei, sondern Ihre Interpretation der Geschichte.

Es gibt von Hitchcock den Satz: „Man kann nur schlechte Bücher verfilmen.“ Und dieser Satz ist absolut richtig. Denn die Bücher, die ich liebe – „Wahlverwandtschaften“, Faulkners „The Sound and the Fury“, Hemingway – daraus möchte ich niemals einen Film machen, weil ich der Meinung bin: Man objektiviert kein Buch. In dem Sinne hätte ich mich auch mit einer Verfilmung von „Transit“ ad absurdum geführt. Stattdessen habe ich mir gedacht, das einzige, was ich erzählen kann, ist doch meine eigene Leidenschaft, meine eigene Lektüre. Daraufhin habe ich ein zweites Buch dazu genommen, Georg K. Glasers Autobiografie „Geheimnis und Gewalt“, die im Film in die Geschichte von Anna Seghers mit hinein spielt. Daher beispielsweise der Name Georg. Aber auch die Reise im Zug, die Ankunft in Marseille, das alles stammt ursprünglich von Glaser. Genau genommen habe ich also die Geschichte eines Mannes, der eigentlich ein Tagedieb ist, aber sich im Verlauf der Handlung entwickelt, und die Liebesgeschichte aus Anna Seghers Roman in ein Verhältnis zueinander gesetzt.

Welche Faktoren spielten hinsichtlich der Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart bei der Umsetzung eine besondere Rolle?

Für mich ist durch Berlin zu laufen, wie durch Geschichte zu wandern. Auf der einen Seite gibt es da ein Wohnkonzept von Max und Bruno Taut von 1918, nebenan haben Bomben eingeschlagen, dann kommt eine Autobahnauffahrt, ein Stück weiter sieht man Gründerzeitbauten und plötzlich guckt man auf den Boden und sieht Stolpersteine von jüdischen Anwohnern, die dort gelebt haben, bevor sie von den Nazis deportiert und umgebracht worden sind. Und das ist alles zusammen. So ist Stadt. Und dann habe ich mich gefragt: Warum ist Film nicht so? Ein Konglomerat der Zeiten. Wo die Reiseschreibmaschine im Hotelzimmer steht. Oder jemand eine Zigarette von Nil raucht, die es zwar jetzt nicht mehr gibt, die aber auch ein Teil unserer Geschichte ist. Wie die Kleidung, die unsere hervorragende Kostümbildnerin Katharina Ost ausgesucht hat, die nie aus der Zeit, aber auch nie ganz von heute ist. Vielmehr schwebt sie – so wie gute französische Kleidung aus einem Godard-Film auch – gewissermaßen über der Zeit. Dagegen habe ich beispielsweise am Ende Smartphones rausgelassen, weil mein Sohn meinte, damit würden Filme hundertmal schneller altern – und da hat er recht. Denn Smartphones sind lediglich Konsumgegenstände, die jedes Jahr von oben abgelöst werden, und wir müssen neue kaufen.

An welchem Punkt im Entstehungsprozess des Films darf Ihr Sohn Ihnen denn solche Ratschläge geben?

Da er momentan noch zu Hause wohnt, bis er seine Schulausbildung abgeschlossen hat, und wir ab und an noch das Ritual des gemeinsamen Abendessens versuchen, kommen dabei natürlich Gespräche auf. Und sowohl er als auch meine Tochter sind schon beide sehr gute Zuhörer, die offen ihre Meinung sagen, auch wenn sie etwas vielleicht nicht so toll finden. Oder vor allem dann. Aber Transit fanden sie erstaunlicherweise sehr interessant. Davon waren sie sogar richtig begeistert.

Nutzen Sie Ihre Familie dann auch als Testpublikum? Oder wann dürfen sie den Film sehen?

Erst zur Premiere, vorher wird das nichts. Halten sie die Familie raus, heißt es immer.

Auch ohne genaue Zeitangaben ist Ihr Film allein schon aufgrund seiner Flüchtlingsthematik mit einem Fuß im Hier und Jetzt verankert. Wie wichtig war es Ihnen, in der Hinsicht einen Teil zur aktuellen Diskussion beizutragen?

Es ist ja so, dass wir in Deutschland ein Grundgesetz haben, in dem es den Asylparagraphen gibt. Dieser Paragraph besagt, dass wir jedem Menschen Asyl gewähren, der auf der Flucht ist, sei es aus politischen, sexuellen, religiösen oder anderen Gründen. Und das ist eine Verantwortung, die wir uns nicht nur erkämpft haben, sondern die allein aus historischen Gründen unabdingbar ist. Dazu gehört eben auch die Geschichte von Anna Seghers. Dazu gehören die Erfahrungen, die die deutschen Emmigranten und Flüchtlinge im Krieg gemacht haben, weil kein Land sie aufnehmen wollte. Das war damals. Jetzt leben wir in einem Europa, in das Flüchtlinge kommen, und sofort wird dieser Asylparagraph beschnitten. Gleichzeitig kommen all diese Begriffe wieder hoch, die 1940 bis 44 zum Desaster geführt haben. Begriffe wie Nation, Grenze, Identität. Plötzlich heißt es, wir könnten schließlich nicht jeden aufnehmen. Wir seien nicht das Sozialamt der Welt. Und diese Geisterdiskussion, glaube ich, steckt auch in meinem Film drin, ohne dass es gleich die große message ist. Ich persönlich empfinde meinen eigenen Film für so selbstbewusst, dass er mich selber gar nicht braucht.

Ein besonderes und im Hinblick auf Ihre bisherige Arbeit völlig ungewöhnliches Merkmal des Films, ist das abrupt einsetzende Voice-over. Gab es Stimmen, die Sie davon abhalten wollten, davon Gebrauch zu machen?

Ich hab‘ selbst immer gesagt: Niemals Voice-over! Weil es nur wenige Filme gibt, bei denen es tatsächlich richtig gut funktioniert, wie etwa bei Jules et Jim von Truffaut. Und Harun und ich, wir haben uns immer wieder Gedanken darüber gemacht. Wir haben sogar gemeinsam Texte darüber geschrieben, weil wir fanden, dass, wenn im Kino eine Off-Stimme „ich“ sagt, der Zuschauer zumeist beschissen wird. In Fight Club zum Beispiel, legt uns der Erzähler doch von Anfang an herein. Er redet die ganze Zeit vom „ich“, bis herauskommt, dass er eine gespaltene Persönlichkeit besitzt. Oder in Dthe Ususal Suspects, darin belügt der Ich-Erzähler die Polizei und uns. Und diese Lüge, finde ich, ist keine gute Konzeption fürs Kino. Das Publikum gehört nicht belogen. Das Gegenteil von dem ist Hitchcock, der dem Publikum alles zeigt und dadurch Spannung aufkommen lässt. Ich bin, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, überzeugter Hitchcockianer. Für mich war also klar, dass das Voice-over keine erklärende Funktion haben kann. Und auch nicht über den Dingen stehen darf, so gottgleich, wie der Romanautor selbst, der alles mit den Figuren machen kann. Es ist eher so, dass ich glaube, dass die Flüchtlinge dieser Welt irgendwann an einen Punkt geraten, wo ihnen jemand zuhört, und meistens bleibt da nur der Barkeeper übrig. Wie bei Anna Seghers, da ist es ja auch die Bar, wo erzählt wird. Deshalb habe ich den Barkeeper in der dritten Person erzählen lassen, denn er belügt uns nicht, sondern erzählt die Wahrheit lediglich wie ein schlechter Zeuge. Einer, der behauptet, sie hätten sich geküsst, dabei tun sie das gar nicht. Er erinnert sich falsch, aber dadurch wird deutlich, dass auch er seine eigene Geschichte, seine eigenen Sehnsüchte hat.

Es heißt, Sie hätten in Paula Beer Ihre neue Nina Hoss gefunden – wie sehen Sie das?

Falsch. Wenn überhaupt, dann ist Franz Rogowski die neue Nina Hoss. (Lacht.) Aber so kann man das natürlich gar nicht sagen. Denn niemand ersetzt hier niemanden. Es gab für Nina in Transit einfach keine Rolle. Trotzdem heißt das nicht, dass wir nicht wieder zusammenarbeiten werden. Was mich bei diesem Film speziell interessiert hat, ist, dass es hier um junge Menschen geht, die noch nicht wissen, wer sie sind, und die im Grunde auf schmerzhafteste Weise erwachsen werden. Und Paula verkörpert für mich genau das: Eine junge Frau, die sich noch nicht hat, aber mit einer wahnsinnigen Energie auf der Suche ist. Im Gegensatz dazu waren die Rollen, die Nina in meinen Filmen gespielt hat, zumeist Figuren, die sich schon mal gehabt haben. Die ihre Identität im Laufe des Films vielleicht verlieren, aber zumindest hatten sie mal eine. Das sind also zwei völlig verschiedenen Ansätze. Anders gesagt: Nina hat bereits ein Visum. Dagegen geht es eben auch in meinem nächsten Film, den ich erneut mit Paula drehen werde, um jemanden, der noch auf dem Weg ist, der noch nicht angekommen ist.

Haben Sie eigentlich selber manchmal Angst davor, anzukommen?

Nein, ich hatte nur Angst, als meine Frau zu mir meinte, sie sei schwanger. Seitdem fürchte ich mich vor nichts mehr, weil ich auf eine gewisse Art und Weise bereits angekommen bin.