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Die Legende vom hässlichen König

Die Legende vom hässlichen König

Lichtgestalt mit Schattenseiten

| Gunnar Landsgesell |
Als Schauspieler war Yılmaz Güney in der Türkei der Liebling der Nation. Später wurde er ins Gefängnis gesteckt und floh nach Frankreich, wo er als Regisseur und Autor die Goldene Palme gewann. Der Filmemacher Hüseyin Tabak blickt nun hinter den Mythos einer großen Regie-Persönlichkeit.

1982 war bei den Filmfestspielen in Cannes ein denkwürdiges Jahr. Die Goldene Palme ging ex aequo an zwei Filme, die beide auf die politische Situation ihrer Herkunftsländer Bezug nahmen. Der Exil-Grieche Costa-Gavras, bekannt für seine sachlich inszenierten Polit-Dramen, erhielt die Auszeichnung für Missing, der das Verschwinden eines US-amerikanischen Journalisten nach dem Militärputsch in Chile 1973 aufgreift. Der zweite Film Yol – Der Weg stammte vom kurdischen Filmemacher Yılmaz Güney, der damals nach einer abenteuerlichen Flucht von der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Frankreich Exil erhielt. Yol erzählt in semidokumentarisch anmutenden Bildern von fünf Männern und deren Freigang aus dem Gefängnis. Güney hatte den Film selbst aus dem Gefängnis heraus inszeniert, seine Weggefährten mussten sich penibel an die Anweisungen des Regisseurs halten.

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Die Goldenen Palmen für diese beiden Filme waren damit auch eine politische Geste, und für Yılmaz Güney bedeutete der Erfolg von Yol, dass er mit einem Schlag auch in Europa bekannt war. Nur zwei Jahre später starb Güney 47-jährig an Darmkrebs. Der heutige Stellenwert des Filmemachers zeigt sich daran, dass Cannes im vergangenen Jahr Yol – The Full Version aufführte, ergänzt um die ursprünglich vorhandene sechste Häftlingsgeschichte und offenbar straffer geschnitten.

In der Türkei war Güney schon vor seiner Zeit als Regisseur ein nationaler Superstar. Er spielte in über hundert Filmen Helden mit sozialer Ader, und dass er Kurde war, spielte dabei keine Rolle. Er einte das Land in einer kollektiven Begeisterung. In Die Legende vom hässlichen König, Hüseyin Tabaks dokumentarischer Annäherung an Güney, wird ein Mann, auf der Straße befragt, voll der Verklärung in die Kamera sagen: „Man findet heute keinen Mann wie ihn in der Türkei. Unser Land hat sie verbraucht. Das Militärregime wollte ihn, lebendig oder tot.“

Dass Die Legende vom hässlichen König kein Dokumentarfilm über einen Filmemacher allein sein kann, macht Hüseyin Tabak bereits zu Beginn des Films deutlich. Er holt Michael Haneke ins Bild, bei dem er an der Filmakademie studiert hat, und klärt gleichsam die Ausgangsposition. Güney sei der Mann, der ihn ermuntert habe, Filme zu machen. Warum, möchte Haneke wissen. Die Antwort ist dieses Filmprojekt. Es geht darum, den Mann hinter dem Mythos zu finden. Güney, das Idol, Güney, der Gott, wie er auch im Film bezeichnet wird, dessen frühe Rollen mit Robin Hood verglichen werden und die mit seiner Person in der öffentlichen Wahrnehmung verschmelzen – diesem Mann widmet Hüseyin Tabak eine kritische Huldigung. In den vielen Gesprächen, die er mit Weggefährten, Familienmitgliedern und Zeitgenossen führt, unterfüttert von Filmausschnitten, fördert er eine Lichtgestalt mit Schattenseiten zutage, die mindestens so expressiv wie seine Filme selbst ist.

Um Güney und diese Zeit begreiflich zu machen, wählt Tabak in seiner Annäherung zuerst einen Umweg. Er lässt Gilles Jacob, den damaligen Festivaldirektor von Cannes, über das Filmfestival sprechen. Dieses sei ein magischer Ort, an dem es zwei Wochen nichts anderes gebe als Film. „Es könnte Krieg erklärt werden, man würde es nicht merken“, sagt Jacobs. Costa-Gavras, Ko-Gewinner von 1982, assistiert gewissermaßen, wenn er sagt: „Das Größte, was man im Film erreichen kann, ist, nach Cannes eingeladen zu werden. Danach kehrt man in die reale Welt zurück.“ Das Kino, in seiner verdichteten Form des Festivals, wird hier selbst zum entrückten, mythologischen Raum erklärt. Es scheint eine logische Schaltstelle für Filmemacher wie Yılmaz Güney zu sein. Güney, der viele Jahre als Dissident in türkischen Gefängnissen verbrachte, interpretiert sein Kino explizit als Mittel zum antifaschistischen Kampf gegen die Militärdiktatur in der Türkei. Ein Film wie Yol, der zwar von der Institution Gefängnis handelt, aber in seinem Freiheitsverlangen das ganze Land zum Gefängnis erklärt, findet im Festival jenen politischen Verstärker, ohne den er seine Wirkung nicht entfalten könnte: eine möglichst große Öffentlichkeit. Cannes spielt dabei eine wesentliche Rolle, und Hüseyin Tabak nimmt sich eingangs Zeit, das zu rekapitulieren.

Der Blick auf den Mythos scheint leichter zu fallen, als der dahinter. Güney, der Agitator, der, etwa zu Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest, vor der Menschenmenge auftritt, dort von Sozialismus und Revolution spricht. Güney, der Schriftsteller, der wegen eines Textes, der als marxistisch interpretiert wird, ins Gefängnis muss. Güney, der Schauspieler, der zehn oder mehr Filme im Jahr dreht und seine Rollen im Eiltempo durchläuft. Der seine Gegner, selbst in ein makelloses weißes Sakko gekleidet, vermöbelt und in die Flucht schlägt, immer getragen von einer Welle der Sympathie von Seiten seines Publikums. Schließlich Güney, der Regisseur, der Yes¸ilçam, dem türkischen Hollywood, einen neuen Entwurf entgegenhält. Filme wie Umut („Hoffnung“) sind in schlichter Form, mit dem Augenmerk auf soziale Unterschiede inszeniert. Als Regisseur hat Güney sich neu erfunden, als Künstler und Revolutionär, der von einer neuen Gesellschaft träumt.

Hüseyin Tabak wird vielerorts fündig, sammelt Eindrücke, Erinnerungen, exotisch anmutende Filmclips, die irgendwie alle von der Überlebensgröße dieses Mannes berichten und an dieser festhalten. Dabei werden auch Widersprüche zu produktiven Details. Yılmaz Güney, der Liebling der Nation, sei nicht klassisch schön gewesen, heißt es an einer Stelle. Damals hätten die Filmproduktionen Schauspieler ausgesucht, die europäisch aussahen. Die Türkei von Staatsgründer Kemal Atatürk war laizistisch, die Schrift anstelle des Arabischen lateinisiert, und sie war nationalistisch-modern ausgerichtet. Bekanntlich gab es damals keine Kurden, sondern nur ein einiges Volk, das nun durch den 1937 in Adana in der Südosttürkei geborenen Yılmaz Güney um eine Facette reicher war. Güneys entschiedener Blick, sein Aussehen ließ die Schauspieler an seiner Seite wie schöne Puppen aussehen, merkt ein Weggefährte an. Deshalb dürften seine Fans ihn als ihren „hässlichen König“ tituliert haben.

Schwieriger und durchaus ambivalent erschließt sich hingegen die private Seite von Yılmaz Güney. Seine Tochter erzählt von einer abwesenden Person, die sie lange kaum kannte. Ein Los, das sie mit anderen Kindern prominenter Personen teilt. Güneys zweite Ehefrau beschreibt ihn als „sehr traditionellen Mann“ und sich selbst als damals jungfräulich, 16 oder 18 Jahre alt, „ein Mädchen, wie er sie wollte“. Das Bild eines leidenschaftlichen, aufbrausenden, egozentrischen Mannes wird sichtbar, der stark mit sich selbst beschäftigt ist. Zitate aus seinen Aufzeichnungen fügen sich gut ein: Unerfahren im Familienleben, schreibt Güney über sich, und nach dem Putsch 1971 im Gefängnis: „Ich musste mich neu erfinden, wie ein Baumeister, der ständig abreißt und neu baut.“ Und später, in „Hücrem“ („Zelle“), seinem Versuch, in die eigene Vergangenheit vorzudringen, formuliert er über sich: „Besonders in den vergangenen zehn Jahren war mein Leben voller Stürme, beherrscht von meiner Persönlichkeit.“

Es sind auch sehr private Eindrücke, die Hüseyin Tabak in seinem Versuch, hinter den Mythos zu blicken, gewinnt. Schon Güneys erste Frau Nebahat Cehre erzählt von einem Mann, der jeden Tag Blumen mit nach Hause brachte, der aber auch nie unbewaffnet unterwegs war. Ein Mann voller Eifersucht, der zugleich andere Bekanntschaften pflegte. „Wir sind Meister im Krieg, Anfänger in der Liebe, meine Geliebte“, ließ er sie wissen. Manchmal scheint sich bei Güney beides in einem Moment zu vereinen. Als Cehre eines Tages nach Hause kam, lag ein Abschiedsbrief auf dem Bett. Als sie ihn las und anfing zu weinen, kroch Güney unter dem Bett hervor.

Am Set war der Liebling der Nation unerbittlich, duldete keine Fehler, war ein notorischer Perfektionist, so hart zu sich wie zu anderen. Erstaunlich, dass auch diese Härte am Set, durchaus auch von anderen Filmemachern bekannt, filmisch festgehalten wurde. Güney ließ für seinen letzten Film, Duvar („Die Mauer“), in einem Kloster ein Gefängnis bauen, in dem seine Schauspieler vorübergehend ausharren mussten. Einen Buben setzt er psychisch und physisch unter Druck, offenbar, um Höchstleistungen zu bewirken. Später umarmt er ihn. Wieder eines dieser Motive, das sich durch Die Legende vom hässlichen König zieht, ein eigentümliches Verhältnis von Gewalt und Zärtlichkeit, das sich im Privaten und im Beruflichen findet, ohne über dessen Ursachen zu spekulieren.

Mit Duvar arbeitet sich Güney noch einmal an eigenen Erfahrungen ab, den Kinostart erlebt er nicht mehr, der Film wird nach seinem Tod fertiggestellt. Güneys knapp 20 Regiearbeiten, sie alle tragen schlichte Titel wie Sürü („Die Herde“), Aci („Der Schmerz“) oder Arkadas¸ („Der Freund“) greifen gesellschaftliche Themen wie Ungerechtigkeit, Generationenfragen oder die Hoffnung auf Veränderung auf. Die Aktualität, die diese Filme zweifellos besitzen, begründet sich dabei weniger im Weitblick Güneys, der später den Sozialismus für sich entdeckte, sondern in der Beharrlichkeit der Tradition. Genderverhältnisse verändern sich nur langsam, wovon auch jene reichhaltigen Arbeiten aus der Türkei, die heute bei Filmfestivals zu sehen sind, erzählen, wenngleich die Autorenschaft auch von Regisseurinnen wie Yes¸im Ustaogˇlu oder Deniz Gamze Ergüven stammt.

Die große türkische Nation, die der Kurde Yılmaz Güney herausfordern und verändern wollte, kehrt bei Hüseyin Tabak als bizarr anmutendes Ritual wieder, wenn Schulkinder ausrufen müssen: „Wir wollen die Alten achten. Unsere Nation mehr lieben als uns selbst. Oh, großer Atatürk. Möge mein Dasein dem türkischen Dasein ein Geschenk sein“. Dem schrillen Chor lässt Hüseyin Tabak Aufnahmen von Steinen und Holzbalken verfallener, wohl zerstörter Häuser folgen, während der Kinderchor weiter tönt: „Glücklich sind die, die sich Türken nennen dürfen“. Ein Mann, der mit Tabak die Trümmerfelder betrachtet, sagt lapidar: „Das blieb von 1993, in der Südosttürkei“.