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Matteo Garrone – Dogman (2018)

Dogman | Interview

Hundeleben

| Pamela Jahn |

Güte vermag mehr als Gewalt, heißt es. In Matteo Garrones „Dogman“ wird diese Theorie einem brutalen Realitäts-Check unterzogen. Der italienische Filmemacher im Gespräch.

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Wer sich vor Hunden fürchtet, kommt über das erste Bild von Dogman kaum hinaus: Ein blutrünstiger Pitbull streckt sein Maul in die viel zu nah auf ihn gerichtete Kamera. Speichel trieft, Zähne fletschen, und ein zwingender Fluchtgedanke macht sich im Kinosessel breit. Nicht jedoch bei Marcello (Marcello Fonte), der auf der Leinwand gerade dabei ist, dem aufgebrachten Vierbeiner eine reinigende Dusche zu verpassen. Behutsam streicht er dem Tier über den Rücken, redet ihm zu und lächelt ihn an, bis es ausschaut, als täten beide nichts lieber, als sich gemeinsam mit Wasser und Seife die Zeit zu vertreiben.

Marcello, das wird schnell klar, hat ein Händchen für Hündchen, ob groß oder klein, jung oder alt, zahm oder kampfeslustig. Ihm ist jedes Tier recht, das seinen bescheidenen Salon betritt. So aufopferungsvoll, wie er mit Doggen, Schnauzern und Pudeln umgeht, kümmert er sich zudem um seine geliebte Tochter Alida (Alida Baldari Calabria), und überhaupt ist der schmächtige Mann im blauen Arbeitskittel die Güte in Person, was ihn nicht zuletzt auch unter den Einwohnern des kleinen, heruntergekommenen Küstenstädtchens beliebt macht, in dem er sein Geschäft gerade noch mehr recht als schlecht betreibt. Doch ohne gelegentliche Kokain-Deals und andere kleinkriminelle Zuschüsse kommt auch er nicht mehr über die Runden. Wirklich brenzlig wird es jedoch erst, als einer seiner besten Kunden, eine menschliche Bulldoge namens Simoncino (Edoardo Pesce), seinen Kredit einmal mehr auszureizen gedenkt. Marcello braucht das Geld, dringend sogar, aber aus Angst vor den blutigen Folgen macht er schließlich erneut gute Miene zum bösen Spiel, lässt sich von dem Hünen mit der Eisenfaust schikanieren und malträtieren, bis er irgendwann sogar seinetwegen hinter Gittern landet. Erst nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis scheint es auch bei Marcello mit der Friedfertigkeit endgültig vorbei zu sein, und Garrone nutzt die Gelegenheit, sein kraftvolles, düsteres Drama als leise wütenden Kampf zwischen David und Goliath auszuspielen.

An der unmittelbaren Wechselwirkung zwischen physischer und psychischer Gewalt hat der italienische Regisseur sich bereits mehrfach abgearbeitet, sei es in L’imbalsamatore (2002) über die Faszination des Einbalsamierens oder in seiner radikalen Verfilmung des aufsehenerregenden Inside-Camorra-Bestsellers Gomorra (2008). Und es sind vor allem jene frühen, kühnen Versuchsanordnungen, denen Dogman am engsten verbunden ist. Bei aller Kunstfertigkeit, die Garrone vor drei Jahren (Interview) in Tale of Tales, einem auf Englisch gedrehten Episodenreigen aus Märchen und Realsatire, an den Tag legte, besticht sein neuer Film nicht nur durch exzellente Darsteller (und Vierbeiner) und eine effektive Kameraführung, sondern auch durch eine inszenatorische Strenge, die im Zuschauer eine ebenso bestürzende wie nachhaltige Wirkung erzeugt.


Interview

Ihr Film basiert auf einer wahren Begebenheit. Doch die  eigentliche Geschichte ist weitaus brutaler als die, die Sie in „Dogman“ erzählen. Warum die Zurückhaltung?
Matteo Garrone:
Es stimmt, die Geschichte, wie sie sich vor 30 Jahren in Italien zugetragen hat, ist vor allem als brutaler Racheakt bekannt und für den damit zusammenhängenden Akt der Folter. Die Grausamkeit des Ganzen, das makabre Ausmaß der Gewalt, all das würde sich hervorragend als Grundlage für einen Horrorfilm eignen, inklusive abgehackter Finger und anderer Barbareien. Aber ehrlich gesagt war ich niemals auch nur im Geringsten daran interessiert, auf diese Weise an die Sache heranzugehen, vor allem deshalb nicht, weil ich das Gefühl habe, dass es Geschichten dieser Art, in der ein unterlegener Typ sich an seinem Peiniger rächt, bereits zur Genüge gibt. Interessant wird es dagegen, wenn man sich dem Verhältnis der beiden Figuren zueinander über die Ebene der psychologischen Gewalt annähert. Das hat mich fasziniert.

Marcello ist kein Unschuldsengel, aber ein gute Seele durch und durch. Worum ging es Ihnen bei der Figur?
Es war mir wichtig, Marcellos menschliche Seite in den Vordergrund zu stellen, um zu verhindern, dass er jemals als Schlägertyp gesehen wird, der vorsätzlich Gewalt anwendet, denn das tut er nicht. Er bedient sich ihr lediglich als Mittel, um zu überleben, aber niemals, um sich zu rächen. Manchmal geht es ihm allein darum, seine Würde als Mensch zu wahren. Er will respektiert werden, allerdings ist er extrem naiv, wenn es darum geht, sich den gewünschten Respekt zu verschaffen. Ihm genügt im Grunde eine einfache Entschuldigung, um seinen Unmut zu beschwichtigen. Nur sind nicht alle Menschen so gutmütig wie er, und als da plötzlich einer vor ihm steht, der nur die Sprache der Gewalt kennt, bleibt Marcello nichts anderes übrig, als sich der Situation anzupassen und entsprechend zu reagieren, um seine Haut zu retten. Er versucht, den Klauen des Bösen zu entkommen, aber es gelingt ihm nicht. Er ist gefangen wie in einem Spinnennetz.

Wann kamen die Hunde ins Spiel? Und warum messen Sie ihnen im Film derart große Bedeutung bei?
Die Hunde waren von Anfang an entscheidend, vor allem in visueller Hinsicht. Sie sind die ersten Zeugen der Auseinandersetzung zwischen Simoncino und Marcello, und sie sind darüber genau schockiert wie wir. Darüber hinaus spielen sie eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, Marcellos liebevolle Seite zu zeigen, seine Herzlichkeit, Güte und Aufopferungsbereitschaft den Tieren wie den Menschen gegenüber. Er ist ein Mann, der alles für seine Tochter tun würde, ebenso wie für seine Tiere und für die Gemeinde, in der er lebt. Er liebt es, geliebt zu werden und Teil eines größeren Ganzen zu sein. Und zu Beginn des Films ist er das auch, bis die Dinge eine dramatische Wendung nehmen. Für mich ist Marcello wie ein moderner Buster Keaton: die Art wie er mit den Hunden auf Du und Du ist, gemeinsam mit ihnen zu Abend isst, sie massiert. Stellenweise funktioniert der Film in der Hinsicht fast wie ein Stummfilm. Es ging mir darum, ein Gegengewicht zu schaffen zu der extremen Härte des zweiten Akts, in dem sich Marcello in einem großen schwarzen Loch wiederfindet und einen Weg zurück in sein ursprüngliches Leben sucht.

Trotz des psychologischen Ansatzes kommt auch Ihr Film letztlich jedoch nicht ohne körperliche Gewalt aus.
Die Gewalt ist erforderlich, um zu begreifen, warum Marcello so handelt, wie er es tut. Sie ist wichtig, um den Kern und das Ausmaß seiner Angst zu verstehen. Denn es besteht ein großer Unterschied darin, ob jemand sich vor der Gewalt an sich ängstigt, oder ob er sich davor fürchtet, mittels Gewalt zur Unterwerfung gezwungen zu werden. Marcello ist ein einfacher Typ, der versucht, sein eigenes und das Leben derer, die ihm lieb sind, vor den Angriffen seiner Umwelt zu schützen – insbesondere vor Simoncino. Aber sein Verhältnis zu ihm ist durchaus ambivalent. Einerseits ist er fasziniert von dem Hünen, von seiner Stärke, seinem Mut, seiner Unberechenbarkeit. Und gleichzeitig hat Simoncino auch etwas Furchterregendes an sich, das Marcello Angst macht und ihn in die Enge treibt

Lässt sich die Beziehung zwischen den beiden Männern in gewisser Hinsicht auch auf die aktuellen politischen Verhältnisse in Italien übertragen?
Nicht nur auf die italienischen, auf die der ganzen Welt. Die extreme Rechtsbewegung, die sich derartiger Machtspiele bedient, ist derzeit überall auf dem Vormarsch.

Ist die italienische Mafia heute immer noch so mächtig wie vor 30 Jahren?
Ich weiß es nicht. Ich habe mich dem Thema in Gomorra auf ähnliche Weise wie hier anzunähern versucht. Auch damals ging es mir in erster Linie um die Psyche und weniger um die physische oder politische Macht. Die Jugendlichen handeln wie Kriminelle, weil sie glauben, sich in einem Film zu befinden. Als sie schließlich bemerken, dass es sich um die Realität handelt, ist es zu spät. Dieser Gedankenraum, die Verwirrung zwischen dem, was real und was virtuell ist, hat mich lange beschäftigt. Das heißt, mein Ansatz ist eigentlich immer humanistischer Natur. Es kommt vor, dass ich mich eines Genres bediene, wie es beispielsweise bei Gomorra der Fall war. Aber im Grunde erzählen alle meine Filme auf die eine oder andere Art moderne Märchen. Düstere Märchen vielleicht, aber dennoch Märchen. In der Hinsicht steht Dogman für mich in unmittelbarem Einklang mit meinen früheren Filmen. Die Grundlage meiner Geschichten bildet fast immer ein Ereignis, das sich in Wirklichkeit zugetragen hat, von dem aus ich die jeweilige Handlung entwickle und dabei nach und nach auf eine andere, zunehmend imaginäre und abstrakte Ebene hebe.

In „Dogman“ haben Sie sich diesmal einer Reihe von Motiven aus dem Western-Genre bedient.
Absolut. Allein das Dorf, in dem wir gedreht haben, hat etwas von einem modernen Western. Ich hatte bereits Gomorra und L’imbalsamatore dort gefilmt und besaß eine klare Vorstellung davon, wie ich die Location diesmal erneut für meine Zwecke nutzen konnte.

Wie hat sich der Ort in den letzten sechzehn Jahren seit „L’imbalsamatore“ verändert?
Er fällt immer mehr in sich zusammen. Jedes Mal, wenn ich zurückkehre, ist er ein bisschen einsamer, heruntergekommener. Es tut mir leid für die Menschen, die dort leben. Andererseits ist die zunehmende Verwahrlosung für mich als Regisseur ein Segen. Für die Geschichte war es perfekt. Wir haben fast nichts verändert, bis auf die nebeneinanderliegenden Geschäfte und den Spielplatz, den es vorher nicht gab. Aber mehr noch als die Architektur und Struktur des Dorfes liebe ich die Farben und das Licht dort. In der Hinsicht meint es dieser Ort einfach unendlich gut mit mir. Sie müssen wissen, ich drehe fast immer chronologisch, Szene für Szene der Reihe nach, was wettertechnisch durchaus zu Komplikationen führen kann. Aber nicht dort. Alles war genau so, wie ich es wollte. In der ersten Hälfte des Films scheint unentwegt die Sonne, während es im zweiten Teil, nachdem Marcelllo aus dem Gefängnis entlassen wird, permanent regnet. Eine herrlich graue, traurige Atmosphäre macht sich breit.

Worin besteht für Sie der Vorteil, chronologisch zu drehen?
Es ist mir wichtig, gemeinsam mit den Schauspielern die Entwicklung ihrer Figuren zu durchleben. Für Dogman zum Beispiel haben wir vor Drehstart zirka zwei, drei Monate geprobt. Alles, bis auf den letzten Teil. Und schon kurz nach Drehstart wurde uns bewusst, dass Marcello niemals auch nur annähernd emotional und mental dort ankommen konnte, wo ihn das Drehbuch hin verfrachten wollte. Der Folteraspekt war zwar von vornherein verhältnismäßig gering, aber er war immer noch vorhanden. Nur machte das für uns am Set plötzlich keinen Sinn mehr, es passte einfach nicht, dass Marcello diese Richtung einschlagen würde. Also haben wir das Ganze noch einmal umgedreht und in eine andere, wie ich finde spannendere, weil unberechenbare Richtung gelenkt. Hätten wir nicht chronologisch gedreht, wäre uns dieses Ungleichgewicht in der Charakterentwicklung vielleicht nicht oder viel zu spät aufgefallen.

Marcello Fonte ist wie geschaffen für die Rolle des gutherzigen Hundepflegers. Wie schwer war es, einen passenden Gegenspieler für ihn zu finden?
Schwer. Simoncino ist hinterwäldlerisch, kleingeistig und impulsiv. Er plant nicht voraus. Sein Leben ist das, was er unmittelbar vor sich sieht. Wenn er etwas will, dann will er es jetzt und sofort. Und er ist brutal, äußerst brutal. Aber auch Edoardo Pesce gelingt es, seiner Figur etwas Menschliches abzugewinnen, anstatt lediglich ins typische „bad-guy“-Klischee zu verfallen. Und wir alle wissen, wie enorm wichtig ein guter Fiesling auf der Leinwand ist. Ohne ihn würde die Geschichte in sich zusammenfallen wie ein Soufflé, das zu lange auf dem Tisch gestanden hat.

Im Vergleich zu Ihrem letzten Spielfilm, „Tale of Tales“, wirkt „Dogman“ geradezu bescheiden.
Sie haben recht, der Film ist relativ simpel. Tale of Tales war allein von der Struktur her um vieles aufwändiger und schwerer zu realisieren. Und beides hat seine Reize, finde ich. Nur ging es mir diesmal explizit darum, ein Stück weit die Freiheit meiner früheren Arbeiten zurückzugewinnen. Ich habe in einigen Szenen sogar die Kamera wieder selbst in die Hand genommen. Das war ein gutes Gefühl.

Bei aller Gewalt, die zum Einsatz kommt, strahlt Ihr Film eine gewisse Machtlosigkeit aus. Ähnlich wie in „Gomorra“ liefern Sie auch in „Dogman“ keine Antworten.
Weil es allgemein keine Antworten gibt, weder auf die Gewalt, noch auf das Böse in der Welt. Denn woher kommt sie denn, die Barbarei? Von uns selbst natürlich. Sie liegt in unserer Natur, in unserem Wesen. Wie viel Gewalt in uns steckt, hängt zum Teil davon ab, wie wir aufgewachsen sind. Aber auch der Zufall kann eine Rolle spielen, wie die Tatsache, dass wir uns zur falschen Zeit am falschen Ort befinden. Die Ursachen und Möglichkeiten sind unendlich. Fest steht nur, dass wir heute in einer Welt leben, in der Gewalt vordergründig als Instrument zur Machtkontrolle dient, im Kleinen wie im Großen. Und deshalb müssen wir wachsam sein und, wie in Marcellos Fall, manchmal auch gegensteuern und uns wehren. Er will nur Gutes, aber auch er macht Fehler, sei es aus Angst oder einfach, weil er eine falsche Entscheidung trifft. Wie wir alle. So ist das Leben. Worauf es ankommt, ist es, so wenige Fehler wie möglich zu begehen. Da gehört Erfahrung ebenso wie Glück dazu. Wer überleben will, muss auf der Hut sein, immer und überall, wie im Dschungel. Sicherlich mag es Menschen geben, die sich vor dem Tod nicht fürchten. Aber zu denen gehöre ich nicht. Ich liebe das Leben zu sehr, als dass ich gewillt wäre, es kampflos aufzugeben.