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Nina Kusturica, Ciao Chérie

Ciao Chérie | Interview

Abschied und Ankunft

| Andreas Ungerböck |

Nina Kusturica über ihren Spielfilm „Ciao Chérie“, über das Drehen an den EU-Außengrenzen und über mangelnde Visionen in der Filmförderung.

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Nina Kusturica, 1975 in Mostar geboren, kam 1992 auf der Flucht vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg nach Österreich. Sie entstammt einer künstlerisch orientierten Familie, also lag es nahe, dass auch sie in diese Richtung tendieren würde. Sie studiert Regie bei Peter Patzak und Schnitt an der Wiener Filmakademie, wo 1998 ihr erster dokumentarischer Kurzfilm Ich bin der neue Star entsteht. Es folgen drei weitere kurze Filme, darunter der essayistische Draga Liljana (2001), in dem sie sich auf die Suche nach ihrer Jugendfreundin in Sarajevo begibt. Kusturicas Abschlussfilm Auswege (2003) nach einem Drehbuch von Barbara Albert wird in Zusammenarbeit mit den Österreichischen Frauenhäusern realisiert und schildert in drei nicht überlappenden Stories von der schrittweisen Emanzipation dreier Frauen unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die vor häuslicher Gewalt und Unterdrückung fliehen. Der Film wird 2004 nicht nur zu den Filmfestspielen nach Berlin eingeladen, sondern eröffnet in diesem Jahr auch die Diagonale. Nach dem Doku-Porträt 24 Wirklichkeiten in der Sekunde – Michael Haneke im Film, das sie gemeinsam mit Eva Testor fertigstellt, ist sie vor allem als Produzentin und Editorin (sie erhält 2006 den Schnittpreis bei der Diagonale für Kotsch) tätig.

2009 stellt Nina Kusturica den aufsehenerregenden Dokumentarfilm Little Alien fertig, der nichts an Aktualität verloren hat – im Gegenteil. Er beschäftigt sich aus nächster Nähe mit sogenannten „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“, die sich in verschiedenen Stadien der Odyssee durch Europa und in Österreich befinden. Der Film wird bis heute international gezeigt und die Regisseurin immer noch zu Diskussionen und Gesprächen eingeladen. 2014 gründet die Filmemacherin NK Projects, eine Art „offenes Haus“. Verwirklicht werden hier „Projekte, die eigenständige Formen und Inhalte vermitteln. Jedes Projekt entsteht im Rahmen einer kreativen Forschungsreise, in Zusammenarbeit mit Partnerinnen und Partnern, die zugleich neugierig auf Entdeckungen sind und der Vielfalt der künstlerischen Möglichkeiten vertrauen. Im künstlerischen und politischen Sinne ist NK Projects kreativer Raum ohne Grenzen und ein transkulturelles und multilinguales Laboratorium. Hier kommen Teams aus Filmschaffenden und Künstlerinnen und Künstlern zusammen, die an der Essenz der filmischen und darstellenden Kunst arbeiten“, wie es auf der Website heißt.

Ihr neuer Spielfilm Ciao Chérie, der zur Gänze in einem Ottakringer Callshop angesiedelt ist, wirkt in gewisser Weise wie eine Weiterführung von Little Alien. Auch dieser Film hat gewisse dokumentarische Anklänge und erzählt von Menschen „mit Migrationshintergrund“, die verschiedene Bezugspersonen in ihren Heimatländern oder jedenfalls aus ihrer Vergangenheit (die Japanerin Mimi etwa telefoniert mit ihrem Geliebten in Rom) anrufen. Dabei geht es um die jeweils aktuelle Situation, um das Abschiednehmen, um Schuldgefühle, um Enttäuschung, Distanz, um Liebe und Hoffnungen. Die Gesprächssituationen sind nicht unbedingt idyllisch, im Gegenteil, und auch die Lage der Callshop-Besitzerin Larisa, die in ständigem Clinch mit ihrer Teenager-Tochter Maja liegt und deren Mann sich grußlos verabschiedet hat, ist alles andere als rosig. Doch in den Begegnungen am Telefon und im Callshop selbst blitzt immer wieder auch Humor auf. So entsteht ein kleines Universum aus reichhaltigen Geschichten in einem, ja, multikulturellen Wien, das so gar nichts Bedrohliches an sich hat. Der Film fügt sich nahtlos ein in Nina Kusturicas sozial und politisch engagiertes Schaffen, das sich seit gut 20 Jahren konsequent um die Themenkreise Frauen, Migration und Selbstermächtigung dreht.

 


Interview mit Nina Kusturica

Wie sehr spielt denn Ihre Biografie für Ihre Filme eine Rolle?
Nina Kusturica: Ich gehe durch die Welt, beobachte, sammle, bemerke Dinge, die ich interessant und relevant finde, die ich erzählen möchte, und natürlich sieht man Dinge, mit denen man sich schon beschäftigt hat, eher als ganz Unbekanntes. Meine Kindheit in Bosnien bzw. Jugoslawien hat mich sehr geprägt, in diesem System, das uns sehr klar gesagt hat, was wir zu sehen und zu denken haben. In jedem Klassenzimmer hing ein Tito-Bild, und da gab es eine Geschichte im Schulbuch, in welcher die Kinder zu streiten beginnen, weil jedes behauptet: „Tito schaut mich an.“ Schließlich greift die Lehrerin ein und sagt: „Naja, liebe Kinder, Tito schaut uns alle an.“ Und wenn man dann das Foto wieder anschaute, hatte man tatsächlich diesen Eindruck. Es war ein System, in dem es viele Tabus gab, viele Dinge, die man nicht hinterfragen sollte. Das hat mich geprägt, und mein Misstrauen gegenüber dem, was man mir sagt oder erzählt, ist da entstanden. Ich wollte immer hinter die Bilder schauen, wollte wissen: Wer erzählt uns etwas und warum? Wollen wir das glauben? Meine Mutter und meine Tante sind Theaterschauspielerinnen, also habe ich sehr viel Zeit am Theater verbracht, bei den Proben. Wenn meine Mutter ihre Rolle gelernt hat, war ich immer der oder die „andere“, die Stichwortgeberin, Romeo zum Beispiel. Ich habe mit meinen Freundinnen immer Theater gespielt und Stücke „inszeniert“, also mir war immer klar, dass das ein ganz normaler Beruf ist, den ich auch machen kann.

Wie kamen Sie dann zum Film?
Als ich nach Österreich kam, mit 17, begann ich mich mehr für Film zu interessieren, das erschien mir relevanter und politischer zu sein als das Theater. Ich hatte schon in Sarajevo Matura gemacht. In Wien hatte ich Glück und bekam einen Job bei der Fernsehserie Familie Merian im Schnittraum, war sozusagen die Assistentin der Assistentin, die Praktikantin. Ich habe Unmengen an 16mm-Rollen nummeriert und kam eigentlich zum Film vom Schnitt aus, also von der handwerklichen Seite. Später habe ich auch zuerst Schnitt studiert und dann Regie. Aber Schnitt war der Einstieg, da habe ich mich in den Film als Kunstform verliebt. Und unabhängig von den Inhalten der Serie fand ich die Workflows sehr interessant, es gab Unmengen von Material, Abnahmen – viele Begriffe lernte ich da kennen. Als ich dann die Aufnahmeprüfung an der Filmakademie machte, fühlte ich mich fit, weil ich vieles schon kannte. Was Film und Schnitt künstlerisch leisten können, das habe ich wirklich während des Studiums gelernt. Man hatte viel Raum, es gab spannende Leute, es war eine tolle Zeit.

Bei wem haben Sie Regie studiert?
Bei Peter Patzak. Er war ein toller Lehrer, sehr partnerschaftlich. Er wollte mir nie etwas „beibringen“, sondern bestärkte mich immer darin, meinen Weg zu suchen. Er hatte eine große Wertschätzung für meine Arbeit und war für mich eine sichere Stütze. Das hat mir sehr viel bedeutet in dieser ersten Zeit in Wien, wo ich mich noch nicht so einfach zurechtfand, wo auch nicht ganz klar war, wie es für die Familie weitergehen würde. Für ihn war das selbstverständlich: Du bist eine angehende Filmemacherin, also mach das, was du dir vorstellst. Wir haben über Filme gesprochen, aber auch über Kunst, Literatur, Bücher – das war so ein „größeres“ Denken, das er mit mir geteilt hat.

Man hat ja den Eindruck, dass Ihre – oder eigentlich jede – Generation an der Filmakademie so eine Art Netzwerk bildet, das bis heute Bestand hat. Sie arbeiten ja auch immer wieder zusammen.
Die erste Zeit, also wenn noch alle zusammen sind und sich noch nicht spezialisieren, ist sehr intensiv, da ist das fast unvermeidlich. Man arbeitet und lernt zusammen, man lernt sich kennen, das hat dann auch Bestand. Es ist so, als würde man seine Kindheit zusammen verbringen, die filmische Kindheit, und nun sind wir alle erwachsen. Es ist etwas Besonderes, wenn wir einander sehen oder zusammen arbeiten. Manche Beziehungen haben sich verändert, das ist klar, aber es ist viel geblieben. Ich war unter anderen mit Niki Mossböck und Mirjam Unger im Jahrgang, Marco Antoniazzi, Jörg Kalt, Eva Testor und Kathrin Restarits waren ein Jahr hinter mir … Zwei Jahre über uns waren Barbara Albert, Jessica Hausner und Valeska Grisebach. Das einzig „Gefährliche“, so empfand ich das damals, war, dass so gewisse „Moden“ entstanden sind: Man macht einen Film auf eine bestimmte Weise, dann hat man Erfolg, kommt zu Festivals – das schränkt ein bisschen ein, weil man nicht mehr versucht, seinen eigenen Weg zu finden, sondern einem Rezept folgt. Gegen Ende des Studiums habe ich gespürt, dass ich da noch mehr probieren will. Der Druck von außen war schon stark, dass man Filme so in Richtung „Sozialstudie“ macht, die typisch österreichische Sozialstudie.

Womit hatte das zu tun? Mit dem Vorbild Haneke?
Nein, das war noch, bevor er an der Akademie unterrichtete. Es hatte viel mit Nordrand zu tun, das war meine Beobachtung, der ja sehr erfolgreich war, vielleicht auch mit Ulrich Seidl. Da kam das auf: Das könnte unsere Richtung sein für den österreichischen Film. Eine Komödie zu machen, schien gänzlich unmöglich. Solche Moden gibt es ja immer, wenn man sich zum Beispiel Festivals anschaut und welche Filme dort laufen. Oft sind es dann 20, 30 ähnliche Filme. Aber die Frage, wie man sich seine Eigenständigkeit bewahrt, stellt sich ja immer wieder, auch jetzt, wo ich gerade mein nächstes Projekt schreibe. Wir werden immer mehr zu einem Teil des Marktes, einen geschützten künstlerischen Raum gibt es kaum noch. Oder besser gesagt: Wenige haben diesen Raum – ein Beispiel, das mir gerade einfällt, wäre Western von Valeska Grisebach.

Wie sehen Sie denn Ihre Kurzfilme im Nachhinein? Waren das reine Fingerübungen, oder steckt doch mehr dahinter?
Offiziell waren es Übungen, es hieß immer: „Macht euch keinen Druck“, aber natürlich gab es doch den Druck, zu Festivals kommen zu können. Ich war ziemlich entspannt während der Arbeit an diesen Filmen, weil ich wirklich Lust am Entdecken hatte, und trotzdem wollte ich, dass sie etwas Abgeschlossenes haben und nicht nur reine Übung bleiben. Wishes hatte sicher mit meiner Herkunft vom Theater zu tun. Ich wollte ausprobieren, wie Film geht, was Film räumlich kann. Zum Teil finde ich die Kurzfilme lustig, aber dann kamen die Dokumentarfilme mit doch eher ernsten Themen. Auch Peter Patzak meinte kürzlich: „Wann machst du wieder etwas Lustiges?“, und es stimmt: Nach Auswege habe ich einen etwas anderen Weg eingeschlagen. Aber es kommen dann auch ernstere Überlegungen dazu: Was will ich mit meinen Filmen erreichen? Wie geht es dem Publikum, wenn es die Filme sieht? Daran denkt man weniger, wenn man ganz jung ist. Ich hoffe, bei Ciao Chérie sieht man wieder mehr von meinem Humor.

Wie kam es denn dazu, dass Sie „Auswege“ mit den Frauenhäusern zusammen gemacht haben und dass das Drehbuch von Barbara Albert stammte?
Barbara wurde vom Verein der Frauenhäuser angesprochen, ob sie einen Kurzfilm schreiben möchte. Sie hat diese drei Geschichten herausgearbeitet und mich gefragt, ob ich das machen möchte. Ich suchte damals ein Thema für meinen Diplomfilm und sah, dass das sehr wichtig und spannend war. Die Frauenhäuser haben dann ein bisschen Budget aufgestellt. Ich stellte fest, dass wir ein Drehbuch für ungefähr 30, 35 Minuten haben, aber so dem Thema nicht gerecht werden. Im Probenprozess haben wir an den Beziehungen gearbeitet, an den
Dialogen, und so ist das Projekt gewachsen. Dann dachten wir, wir könnten einen Langfilm daraus machen, aber das schien in 17, 18 Drehtagen nicht möglich. Und wir haben das dann mit wenigen Takes, mit einem ganz tollen Drehverhältnis gemacht, und im Schnitt hat sich herausgestellt, dass das funktioniert. Da war das Erstaunen groß an der Akademie, aber letztlich war es das. Und dann hat auch die Diagonale Interesse gezeigt, also blieb der Film so – ich hatte erst überlegt, ihn zu kürzen.

Und bei der Berlinale war er auch …
Ja, und er war 2004 der einzige österreichische Film in Berlin. Da war tatsächlich Franz Morak bei der Premiere. Und es gab großes Interesse, wegen der schwarz-blauen Regierung. Übrigens: Kürzlich war ich in London mit Little Alien, da wurde ich auch wieder wegen unserer Regierung gefragt, also wegen der jetzigen. Ich glaube, im Ausland schaut man mehr auf Österreich, als wir selbst das tun.

Was dachten Sie damals – es war doch sicher ein einschneidendes Erlebnis –, wie es weitergehen würde: eher in Richtung Spielfilm oder eher mit Dokumentarfilm?
Eher Spielfilm, das war mein Plan. Ich wollte da gerne weiterarbeiten. Aber dann wurden einige meiner Projekte abgelehnt, schon bei der Stoffentwicklung. Da war ich natürlich verunsichert und dachte: „Aha, wann werde ich endlich Filmemacherin sein, wann kann ich davon leben?“ Das war eine schwierige Zeit. Dann begann ich zu produzieren, auch weil es mich interessierte, hinter diese Mechanismen zu schauen. Geschnitten habe ich auch einiges, und  einige Projekte habe ich in dieser Zeit geschrieben und entwickelt.

Sind diese Projekte für Sie noch relevant oder abgehakt?
Aus der Arbeit an einem Stoff zur Tradition des Geschichtenerzählens enstand Ciao Chérie. Einige andere Ideen beschäftigen mich auch noch. Eine Geschichte schrieb ich mit Daniel Wisser, dem Schriftsteller – die war wohl ihrer Zeit ein bisschen voraus. Wir haben uns überlegt, das wieder anzugehen, auch wenn Daniel meint: Jetzt schreiben alle darüber. Es ging um die Begegnung einer gutbürgerlichen österreichischen Familie mit Geflüchteten. Das war 2005 fast visionär und zu früh.

Dann kam aber „Little Alien“ …
Ja, der wurde ziemlich schnell entwickelt. Da gab es einige zufällige Begegnungen mit Leuten, mit dem Integrationshaus … das ging ziemlich flott dahin.

Der Film wurde sechs Jahre vor der großen Flüchtlingswelle fertiggestellt, und trotzdem ist er heute noch brandaktuell. Wie sehen Sie das?
Als Filmemacherin bin ich immer auf der Suche nach Geschichten, die etwas über nicht so offensichtliche Verhältnisse in unserer Gesellschaft erzählen. Corinna Milborn hatte damals ein Buch über die Zustände und Missstände an den Grenzen der Europäischen Union geschrieben, „Festung Europa“. Sie hat mir in der Entwicklung auch geholfen, ich habe recherchiert bezüglich der Situation an den Grenzen, dazu gab es damals noch wenig Material. Das Projekt wurde übrigens auch einmal abgelehnt mit der Begründung: Wenn der Film fertig ist, wird das Thema nicht mehr aktuell sein. Als müssten wir mit einer Kinoförderung Tagesnachrichten produzieren. Der Film hat mich fünf Jahre beschäftigt – zwei in der Herstellung, und, nach einem etwas schwierigen Start, drei Jahre nachher. Es hat sich herumgesprochen, dass es diesen Film gibt, über die Lebenswirklichkeit von Menschen, die ein Teil der Gesellschaft, aber quasi unsichtbar sind. Dann gab es sehr viel Interesse, und es war nicht mehr zu stoppen. Mehr als 60 Reisen habe ich mit dem Film gemacht, mehr als 200 Diskussionen. Das wurde dann auch so eine politische Arbeit, Workshops mit Jugendlichen, Diskussionen im Kino, Schulvorführungen. Es wurde zu einer Art Mission.

Nochmals zurück: Wie haben Sie denn die Menschen kennengelernt, die im Film vorkommen?
Ich hatte etwas über diesen seltsamen Begriff „umF“ gelesen; also unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein Freund hat im Integrationshaus ein Kunstprojekt gemacht, der hat mir erzählt, dass da 30 junge Menschen aus alter Welt leben ohne Eltern. Sozialarbeiter und Zivildiener kümmerten sich um sie. Ich begann, mit ihnen zu sprechen, und sie erzählten mir ihre Geschichten, aber auch die von anderen Familienmitgliedern. Dann bekam ich eine Art Fachberatung von der Asylkoordination Österreich und konnte in dieses System hineinblicken.

Ich wusste nicht, dass Griechenland damals sozusagen die Endstation war …
Damals haben griechische Polizisten die Flüchtlinge geprügelt, heute sind es kroatische oder bulgarische. Die EU lagert das Problem aus, behauptet zwar, die Menschenrechte zu respektieren, aber das stimmt nicht. Was wir 2008 gefilmt haben, gibt es noch immer, nur an anderen Orten. Das Prinzip ist das gleiche.

Das Irre ist ja die Bürokratie, auch in Österreich. Auch wenn diese Beamten ja freundlich sind, aber dieses ständige Im-Kreis-Schicken, dieses „Wenn du das hast, dann bekommst du jenes“, das ist schon sehr zermürbend.
Ja, es hat etwas von Entmenschlichung, und das erinnert mich an die dunkelsten Zeiten Europas. Man redet sich auf Gesetze aus, als wären das Naturgesetze. Sind sie aber nicht. Die Erde gehört uns allen. Aber man verschanzt sich hinter Schreibtischen und tut so, als sei es normal, dass die einen über die anderen bestimmen. Deshalb habe ich große Sorge um Europa.

Wie war das zum Beispiel in diesem Bunker in Ceuta? Hatten diese Leute das Vertrauen, sich von Ihnen filmen zu lassen?
Wir waren überrascht: Viele der jungen Leute haben sich gefreut, dass jemand Interesse an ihren Geschichten hat, da gab es einen Vertrauensvorschuss. Ich dachte auch, dass das viel schwieriger sein würde. Wir hatten diese Abmachung. Wenn sie das Gefühl hätten, dass wir als Filmteam, auch wenn wir nur zu viert waren, zu auffällig seien, dass es gefährlich würde, dann sollten sie uns das sagen. Es war für mich eine Gratwanderung: Natürlich brauchte ich Bilder für den Film, andererseits wollten wir ja niemanden gefährden. Aber die waren viel draufgängerischer als wir. Die meisten hatten schon so viel erlebt, denen war es egal, ob da ein Filmteam dabei war. Es fiel mir schwer, mit einem Dokumentarfilm einfach in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen, die sich noch dazu in einer sehr komplizierten Lebenssituation befinden, einzudringen und diese dadurch auch zu verändern. Schon deshalb wollte ich, dass mein nächster Film ein Spielfilm wird. Die EU-Grenze in Nordafrika hat uns sehr herausgefordert. Die Szene, in der sich ein Junge unter dem Lastwagen versteckt, das war auch für uns gefährlich. Wir haben in Tanger gedreht, mit einem marokkanischen Sicherheitsteam, das war auch haarig. Wir waren wohl  ein bisschen naiv. Wir wussten nicht, dass an den europäischen Grenzen die Sicherheitvorkehrungen so sind, als sei Krieg. Wir bekamen keine Drehgenehmigung. Später hat mir ein erfahrener Kollege gesagt: „Nina, du darfst nie sagen, dass du einen Film über Flüchtlinge drehst, du musst sagen, es geht um den Obsthandel. Dann darfst du auch in den Häfen drehen, denn das finden alle cool.“ Erst während der Dreharbeiten wurde mir klar, welches Spiel die EU spielt: Man bezahlt Libyen, damit dort Menschen eingesperrt oder erschossen werden, und man bezahlt die marokkanischen Soldaten in Ceuta und Melilla.

Haben Sie noch Kontakt zu den Menschen aus dem Film?
Ja, außer mit Achmed, der nach Somalia zurückgekehrt ist. Mit allen, die in Österreich sind, habe ich noch Kontakt. Die haben zum Teil schon Kinder. Die konnten alle dableiben, nur bei einigen der afghanischen Jungen ist der Status noch immer nicht ganz klar. Die somalischen Frauen, damals Mädchen, haben inzwischen die Staatsbürgerschaft oder zumindest Asyl erhalten. Sie haben Berufe und Ausbildung. Asha kommt auch in Ciao Chérie vor. Es sind sehr berührende Geschichten, wie sie daran arbeiten, hier Fuß zu fassen.

Ein bisschen wirkt „Ciao Chérie“ wie eine Ergänzung oder Weiterentwicklung von „Little Alien“, nur eben im fiktiven Rahmen …
Ja, in Ciao Chérie sind die Geschichten erfunden, die meisten Dialoge wurden vorher geschrieben, einige wurden improvisatorisch entwickelt, abhängig von der jeweiligen Szene und vom jeweiligen Castmitglied. Ich wollte sozusagen das Beste aus Auswege und aus Little Alien hier vereinen, von der Herangehensweise her, darum wurde das auch nicht wie ein klassischer Spielfilm entwickelt. Das begann schon bei der Auswahl des Drehortes. Wir haben 200 Callshops angeschaut, bevor wir uns für diesen einen entschieden haben. Und natürlich haben wir ganz viele Gespräche geführt, etwa mit den afghanischen jungen Männern, die in der Heimat verheiratet werden sollen, wir haben über die Callshop-Betreiberinnen und ihre Situation recherchiert, über die Tatsache, dass fast alle diese Leute Geld nach Hause schicken. Wir haben sehr viel gesammelt. Dann
begannen Nora Friedel und ich zu casten: Zum Teil haben wir erfahrene Schauspielerinnen und Schauspieler gefunden wie Nahoko Fort, die den Geliebten in Rom anruft, Simonida Selimovic´, die die Ladenbesitzerin spielt, Ayo Aloba, der den Nigerianer mit Gedächtnisverlust spielt, oder Isabella Campestrini als die Freundin des afghanischen Jungen.

Die anderen sind Laien?
Ja, es gibt in Wien keine Schauspielerinnen aus Togo, aus dem Senegal zum Beispiel. Also haben wir Laien gecastet und geschaut, was sie mit den Charakteren, die ich geschrieben habe, anfangen können. Im Casting mit Laien war das Wichtigste, zu schauen, ob sie uns den Zugang zu ihren Gefühlswelten ermöglichen. Das hat letztlich gut funktioniert, auch wenn es nicht ihre Geschichten sind. Das war für mich auch eine neue Erfahrung. Wir hatten den Luxus eines kleinen multifunktionierenden Filmteams und deshalb 40 Drehtage. Wir haben ziemlich chronologisch gedreht, zum Teil bei laufendem Betrieb – was billiger war, als wenn wir die Schließung bzw. den Verdienstentgang bezahlen hätten müssen. Und wir hatten ja nicht so ein aufwändiges Equipment, dass wir die halbe Ottakringer Straße hätten absperren müssen. Wir haben auch immer wieder kleine Überraschungen eingebaut, die sozusagen vor Ort passiert sind. Ein paar Szenen im Film sind so entstanden.

Die Lieder im Film, waren die auch geplant?
Sehr spät. Die Bilder waren Michael Schindegger, dem Kameramann, und mir ziemlich früh klar, aber vieles rundherum, was zum Beispiel im Ton passiert während den Telefonaten, diese Tableaus mit den Liedern, darauf kamen wir erst später. Das sollte so eine Art „akustische Entlastung“ sein, weil das Ohr durch die Dialoge am Telefon doch ziemlich gefordert ist. Es kommen zehn Sprachen vor, das ist schon gewöhnungsbedürftig. So etwas muss man ausprobieren, man kann unmöglich am Papier entscheiden, ob das so funktioniert.

Sie haben zuvor von Humor gesprochen. Aber die Telefongespräche in dem Film selbst sind nicht wirklich fröhlich, die wenigsten jedenfalls.
Das stimmt. Humor ist eher im Drumherum, in dem, was im Shop passiert. Die Gespräche, das war für mich so der filmische Raum. Menschen, die angekommen sind, werden hier quasi fixiert in diesem Zustand. Sie dürfen nie etwas anderes werden als Angekommene. Aber das Leben geht ja weiter, hat einen Reichtum, der nichts mit dieser Situation zu tun hat. Das hat mich als Filmemacherin und als politischen Menschen interessiert: Was passiert nach dem Überwinden der Grenze, nach dem Ankommen? Ich habe mich dann auch erinnert, wie das war mit mir und meiner Familie, als wir nach Österreich kamen. Es gibt so ein Tabuthema, in dieser Situation, und das ist das Abschiednehmen. Das heißt: Einerseits lässt man uns hier nicht ganz ankommen, andererseits hat man ein sehr schwieriges, oft schmerzhaftes Gefühl gegenüber denen, die man zurückgelassen hat, letztlich gegenüber der eigenen Vergangenheit, gegenüber dem eigenen sozialen Status. Das kriegt man natürlich hier in der öffentlichen Diskussion nicht mit, und die Leute in der Heimat … was passiert mit denen? Schlechtes Gewissen spielt auch eine Rolle: Ich habe es hier besser, oder ich habe es gar nicht besser, aber ich darf es nicht sagen … Da gibt es viel Unausgesprochenes, selbst bei mir noch, nach der ganzen langen Zeit. Das Thema stand also für mich an, auch wegen der Arbeit an Little Alien.

Wann haben Sie denn realisiert, dass es ein Film über das Abschiednehmen wird?
Nach dem Casting, da habe ich das Konzept geschrieben, und als ich wusste, wer was spielen wird. Am Set habe ich das gar nicht so kommuniziert, weil ich es nicht gut finde, unter einer Headline zu arbeiten, aber es hat mich durch den Schnitt begleitet. Wie verabschiedet man sich von den Liebsten? Tut man das überhaupt, und wenn ja, wie? Welche Ideen haben die dort von uns, die wir hier sind? Die Menschen, die hier ankommen, hier leben, die haben eine Vergangenheit. Das vergisst man oft, wenn man über das Thema Migration spricht. Wer fragt denn schon, was diese Leute verlieren, wenn sie ihre Heimat, ihre Familien verlassen? Diese Diskussion führen wir nicht.

War es vorgesehen, auch die Gesprächspartner zu filmen?
Ich hatte Lust, das zu machen, aber nicht das Budget. Dann hatte Michael Schindegger, der so ein hervorragender Kameramann und Erzähler in Bildern ist, die Idee, in der Kadrage einen leeren Raum für das nicht vorhandene Gegenüber zu suchen. Wir fanden das im Cinemascope-Format, in dem neben den Telefonierenden noch ein großer leerer Raum aufgeht. Für das erträumte Gegenüber. Die Telefonierenden in der Heimat, das könnte ein anderer Film werden.

Das Projekt hat sich lange gezogen, ich meine schon 2014 davon gelesen zu haben. Wie kam das?
Das hat mehrere Gründe. Wir haben lange und in Etappen gedreht, der Schnitt brauchte viel Zeit, und dann habe ich Babypause gemacht. Ich bin sozusagen erst wieder am Anlaufen. Dann habe ich ein Theaterstück inszeniert und auch viel unterrichtet, Filmschauspiel an Schauspielinstituten und auch zur Regiearbeit. Dieses Jahr arbeite ich an der Filmakademie an einem interdisziplinärem Projekt über das Zusammenspiel von Dokumentation und Fiktion.

Sie sind auch filmpolitisch sehr engagiert. Was sind denn Ihrer Meinung nach aktuelle, drängende Fragen?
Ich glaube, es braucht eine Vision von den Zuständigen, um da etwas voranzubringen. Es gibt ein Riesenpotenzial, und ich glaube nicht, dass das genug gefördert wird. Damit meine ich: Filme mit eigener Handschrift, mit eigener Haltung, vielfältige Formen, avantgardistische, experimentelle Projekte. Gerade solche Filme brauchen besondere Förderung und spezielle Produktionsverhältnisse. Ich finde, der Druck der Wirtschaft und ihrer Interessen ist viel zu stark für einen Bereich, in dem es eigentlich um Kunstförderung geht. Der Gedanke: Wie fördern wir Kunst, welche Bedeutung hat sie für unsere Gesellschaft?, der ist ein wenig abhanden gekommen. Genau dort liegt aber die Kraft des österreichischen Films, das ist ja auch nicht neu, das ist schon seit vielen Jahrzenten so. Ab und zu machen wir auch tolle Horrorfilme, sicher, aber die Kraft, die Kernkompetenz des österreichischen Kinos liegt im Eigenwilligen, und das Eigenwillige lebt am Rande und ist wirklich gefährdet. Da fehlt eine Vision, eine Richtung, auch in der Vermittlung dessen, was österreichischer Film ist: Wie leben wir, welche Sprachen gibt es, welche Schauspielerinnen und Schauspieler, die wir feiern können – nicht in einem nationalistischen Sinn, sondern in einem regionalen. Kino prägt eine Gesellschaft, und wenn wir unserem Kino keinen Raum geben, wird eine große Lücke enstehen, in der es nur Hollywood-Filme und halb ausgegorene Genrefilme gibt. Ich sage es noch einmal: Filmförderung ist Kunstförderung, und daran sollten wir appellieren!