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Crooked House

Crooked House

Puzzlespiele mit Giftfingern

| Michael Pekler |
Warum Agatha-Christie-Romane nach wie vor verfilmt werden, ist leicht erklärt: nicht weil sie gute Literatur wären, sondern weil sie sich auch nach Jahrzehnten noch vorzüglich für die Leinwand eignen. So wie einer von Christies persönlichen Favoriten: „Crooked House“.

In der ersten Befragungsrunde gehe es gar nicht darum, Hinweise auf den Mörder zu sammeln. Man müsse vielmehr ein Gespür dafür bekommen, mit wem man es zu tun habe, so der Privatdetektiv zum Mädchen. Charles Hayward (Max Irons) mag für seinen ausgefallenen Beruf zwar manchem als zu jung scheinen, doch weiß er immer die richtigen Worte zu finden – sogar bei Kindern. Die zwölfjährige, aufgeweckte Josephine (Honor Kneafsey) nennt er spaßeshalber Holmes, während sie ihn mit Watson anspricht. Die beiden stehen vor einer kleinen Mauer in einem großen Garten vor einem riesigen Haus. Es ist, wie es sich für ein britisches Haus gehört, aus rötlichem Ziegelstein gebaut und protzt mit zahlreichen Giebeln und unzähligenTürmen. Man kennt es als Three Gables, und es beherbergt eine der vermögendsten Familien des Landes, deren Oberhaupt, Aristide Leonides, eben im Alter von 87 Jahren ermordet wurde.

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Dass Crooked House, von Agatha Christie 1949 veröffentlicht, bis dato noch nie verfilmt wurde, ist überraschend, zumal die Grande Dame des britischen Kriminalromans dieses Buch nicht nur als eines ihrer „ganz besonderen Favoriten“, sondern gar als „eines meiner besten“ bezeichnete. Vielleicht ist aber auch genau das der Grund, weshalb es so lange gedauert hat mit einer Adaption. Bis heute ist Crooked House jedenfalls einer der weniger bekannten Romane Christies geblieben, ohne die besserwisserische Miss Marple und den überheblichen Hercule Poirot, sondern mit einem jungen Detektiv, der aus dem diplomatischen Dienst nach England zurückkehrt und nur dank Protektion seinen ersten Fall übernehmen darf. Und aufgrund seines amourösen Verhältnisses zur Enkelin des Ermordeten, Sophia (Stefanie Martini), die er in Ägypten kennenlernte und die ihn nun mit der Spurensuche beauftragt. „Did you screw my sister in Cairo?“, fragt ihn also unverschämt ihr jüngerer Bruder vor versammelter Tischgesellschaft. Vielleicht will die Lieblingsenkelin mithilfe des Liebhabers nur vom eigenen Verbrechen ablenken? Das wäre nicht nur besonders clever, sondern perfide. Das Gift dem Insulin beimengen, das Aristide Leonides jeden Abend gespritzt bekam, hätte schließlich jeder zustandegebracht. Und ein Motiv, wie sich rasch herausstellt, haben ohnehin alle Anwesenden. Doch damit nicht genug, denn wie weiß der kleine Holmes? „There’s always a second murder.“

Dass mit Murder on the Orient Express erst vergangenes Jahr eine Agatha-Christie-Verfilmung in den Kinos landete, in der Kenneth Branagh als Regisseur und Poirot einen All-Star-Cast um sich versammelte, wird sich für Crooked House hoffentlich nicht als Nachteil erweisen. Denn wogegen Branaghs Inszenierung anzutreten hatte, war weniger ihre Vorlage, als deren Ruhm: Bei einem der bekanntesten Whodunit der Literaturgeschichte musste man sich wohl oder übel auf ein Starensemble – mit Johnny Depp als Leiche – und Schauwerte konzentrieren. Im Gegensatz zu den Klassikern Christies kann Crooked House von seinem geringeren Bekanntheitsgrad profitieren: Wer hier seine Giftfinger im Spiel hatte, bleibt für die meisten tatsächlich bis zum Schluss spannend.

Gemeinsam mit Ko-Autor Julian Fellowes (Gosford ParkDownton Abbey) hat Regisseur Gilles Paquet-Brenner die verästelte Erzählung Christies merklich gestrafft, und diverse Nebenfiguren wegzulassen erweist sich unbedingt als Vorteil. Dass man etwa Charles’ Vater, der im Roman bei Scotland Yard mitmischt, im Film nicht zu Gesicht bekommt, stört auch deshalb nicht, weil jenes von Terence Stamp als mürrischer Chief Inspector vollkommen genügt. Auch dass die Adaption die Erzählung um ein gutes Jahrzehnt in die fünfziger Jahre verlegt, erweist sich als zweckdienlich: Während sich die Familie Leonides in ihrem Haus verbarrikadiert, brechen wenige Kinometer entfernt in London bereits merklich die neuen Zeiten an. In Christies Vorlage verzweigt sich die Lebensgeschichte des „Griechen aus Smyrna“ wie ein Baumstamm in die verschiedenen Familienäste. Auf der Leinwand bekommt man dieses Leben kurzerhand auf der Leinwand vorgeführt, wenn sich Detektiv Hayward, nach England zurückgekehrt, ins Kino setzt, wo die Wochenschau vom Tod des bekannten Patriarchen berichtet. Das funktioniert so einfach wie effizient.

Luxuriöse Präsentation
Agatha Christies Romane funktionieren wie eine gut geölte Apparatur, bei der die einzelnen Räder und noch kleinere Rädchen ineinandergreifen und einander gegenseitig in Bewegung setzen. Oder wie ein Puzzle, das man von den Rändern aus zu legen beginnt und den Rahmen Stück für Stück befüllt. In Crooked House ist dieser Rahmen ein Haus, von dem man zwar weiß, dass es viele verschiedene Zimmer besitzt, aber bis zum Schluss nicht weiß, wie diese zusammengehören. Das wiederum eignet sich bestens für eine luxuriöse Präsentation ihrer jeweiligen Bewohner – und dient dem Film somit formidabel für die Vorstellung seines Ensembles. Jeder hat hier seinen Platz und sein Zimmer auch deshalb, um den anderen nicht zu begegnen, denn dass die einzelnen Familienmitglieder einander hassen, versteht sich von selbst.

Und so beginnt man in Crooked House mit dem Auge des Detektivs seinen Rundgang bei Lady Edith (Glenn Close), der Schwester von Leonides’ verstorbener erster Frau, die im Garten mit der Schrotflinte auf lästige Maulwürfe schießt und auch sonst, wie sich zeigen wird, zu Entschlossenheit neigt. Die Witwe des Ermordeten, Brenda (Christina Hendricks), ist eine ehemalige Tänzerin, um einige Jahrzehnte jünger als ihr nunmehr toter Mann und sehr wahrscheinlich demnächst schwer reich. Über eine Affäre Brendas mit dem Hauslehrer Brown (John Haffernan), der zugleich Leonides’ Biograf war (verdächtig!), wird gemunkelt. Leonides’ Sohn Roger (Christian McKay) ist ein unfähiger Unternehmer, der dennoch die wichtigste Firma des Imperiums leitet und seinen Vater mehr geliebt hat als seine Frau Clemency (Amanda Abbington), eine verhärmte Wissenschaftlerin. Der zweite Sohn Philip (Julian Sands) ist ein Spieler und erfolgloser Autor, seine Frau Magda (Gillian Anderson) wiederum eine schlechte Schauspielerin mit Cleopatra-Perücke auf der Chaiselongue. Von ihren drei Kindern konnte einzig Sophia den Großvater leiden, derweil sich der pubertierende Bruder Eustace (Preston Nyman) in seinem Rock ‘n’ Roll-Jugendzimmer verbarrikadiert und Josephine ihr Baumhaus zum kindgerechten Detektivbüro mit Krimiliteratur und Fernrohr gemacht hat. So weit, so viele Verdächtige und typisch Christie.

Crooked House verwandelt diese Räume jeweils in eigene Reiche, in denen schwere Tische, rosa Tapeten oder Jugendmöbel dominieren, und die als Fluchtort für ihre Bewohner zugleich zu deren Gefängnissen geworden sind. Der abgeschlossene Tatort, den die Verdächtigen wie so oft bei Christie im Laufe der Ermittlungen nicht mehr verlassen dürfen, gewinnt in Crooked House dadurch definitiv an Mehrwert: So wie die Charaktere miteinander in Konkurrenz stehen, so konkurrieren auch die Räume um die Aufmerksamkeit des unwillkommenen Gastes.

Erstaunlich an Vorlage und Verfilmung ist, dass die Hilflosigkeit von Scotland Yard keineswegs durch die Cleverness des
Detektivs wettgemacht wird. Wo ansonsten Poirot als Meister des Kombinierens entsprechend Rückschlüsse zieht, fehlt Hayward mitunter der nötige Weitblick. „Die Wahrheit hatte sich praktisch von Anfang an aufgedrängt“, heißt es zwar bei Christie, doch der Zufall greift Hayward bei der Lösung des Falls gehörig unter die Arme – die übliche Aufklärungsrunde vor versammelter Täterschaft am Ende fällt somit aus.

Doch das passt gut zu diesem Ermittler, der vom US-Kino und den Hardboiled Detectives ebenso beeinflusst ist wie von den Vorschriften für den britischen Gentleman. Natürlich bleiben Hayward und alle anderen Figuren in diesem Film Typen, ist jeder zuvorderst auf seine Funktionalität beschränkt. Allerdings macht genau das den Reiz dieser Verfilmung aus: Wie verschiebbare Schachfiguren manöviert die Erzählung Ermittler und Verdächtige über die Schauplätze, lässt – wie in den gelungenen Christie-Adaptionen der Vergangenheit – die Wortgefechte zu Duellen werden und bewahrt sich dabei denoch den ironischen Unterton der Vorlage. Denn eines ist klar: So schlimm kann das Verbrechen gar nicht (gewesen) sein, dass man es in den Büchern Christies wie auf der Leinwand ernst nehmen kann. Es ist alles nur ein Spiel, wenngleich für die eine oder andere Figur ein tödliches.