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Glücklich wie Lazzaro / Lazzaro felice

Filmkritik

Glücklich wie Lazzaro / Lazzaro felice

| Andreas Ungerböck |
Ein Film voller Wunder, ein Filmwunder

Groß war die Begeisterung über Alice Rohrwachers Film beim Festival in Cannes, und die italienische Filmemacherin wurde dann auch für das Beste Drehbuch ausgezeichnet. Um Wunder in der einen oder anderen Form ging es schon in ihrem letzten Film, der hieß sogar The Wonders (Le meraviglie, 2014), und für ihren neuen Film – mit der nahezu identischen Frauen-Crew gedreht – gilt das erst recht.

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Zu Beginn allerdings wähnt man sich im Neorealismus, vielleicht in dessen späten Ausläufern, bei den Brüdern Taviani oder bei Ermanno Olmi. Eine Gruppe Landarbeiter samt Frauen und Kindern erntet – fernab jeder Zivilisation, so scheint es – Tabak für die Marchesa de Luna. Bezahlung gibt es keine, im Gegenteil, ein strenger Verwalter rechnet den armen Leuten ihre Schulden vor. Tancredi, der feinsinnige Sohn der Marchesa, der unter der Mutter und dem Ort, der auch noch Inviolata („unangetastet“) heißt, leidet, freundet sich mit Lazzaro an, einem immer freundlichen Bauernjungen, der tüchtig zupackt und alles macht, was man ihm sagt. Eines Tages bricht die Gegenwart in die seltsam feudalen Verhältnisse ein – die Polizei macht dem seltsamen Treiben ein Ende, bringt die Marchesa vor Gericht und die Dorfbewohner in die Stadt.

Nur Lazzaro bleibt zurück, und damit beginnt der wundersame, der allegorische Teil des Films. Er erwacht, von einem Wolf zärtlich angestupst, aus einem langen Schlaf (oder war er tot?), überrascht zwei Männer, die das verlassene Haus der Marchesa plündern – viele Jahre scheinen vergangen zu sein, obwohl Lazzaro noch immer genauso jung ist wie zu Beginn. Er folgt den Männern zu Fuß in die Stadt und trifft dort auf einige der Dorfbewohner, die deutlich älter geworden sind und sich mehr schlecht als recht über Wasser halten – und schließlich auch auf seinen Jugendfreund Tancredi.

Doch wer ist dieser Lazzaro? Ein reiner Tor, ein Engel, der wiedererweckte Lazarus gar? Ist er Romulus oder Remus? Was hat es mit dem Wolf auf sich? Es ist beeindruckend, wie viele Facetten Alice Rohrwacher in ihrem Film auffächert: Man kann ihn als Hommage an die italienische Arbeiterklasse lesen, mit deutlichen Bezügen zu Pier Paolo Pasolini, mit starken religiösen Anklängen, mit literarischen und politischen Anspielungen.

Der ganze grandiose Reichtum der leider nahezu untergegangenen italienischen Filmgeschichte scheint wiederaufzuerstehen, von Elio Petris Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies über Francesco Rosis Christus kam nur bis Eboli bis Federico Fellini, von Vittorio De Sica bis Nanni Moretti. Aber darüber hinaus ist Glücklich wie Lazzaro ein großer, eigenständiger Film, den anzuschauen viel Freude macht.