Filmkritik

Nanouk

| Alexandra Seitz |
Abgesang auf eine Lebensweise, dessen dokumentarischer Gestus metaphorisch zu lesen ist

Nanouk und Sedna sind Angehörige der Ewenken, einer in den sibirischen Eiswüsten Jakutiens (d.i. die im Nordosten der Russischen Föderation gelegene Republik Sacha) ansässigen kleinen indigenen Minderheit, von denen wiederum einige wenige noch als (Hirten-)Nomaden von der Jagd leben. Während die jüngeren Leute bereits in die Städte gezogen sind – darunter auch Tochter Ága –, halten Nanouk und Sedna an den alten Traditionen fest; doch eine Herde haben auch sie schon länger nicht mehr, und überhaupt lassen sich die Rentiere in ihrer Gegend immer seltener blicken.

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Es ist ganz und gar kein Märchen aus der guten alten Zeit, das der 1967 in Bulgarien geborene Milko Lazarov in Ága erzählt, es ist die im klimakatastrophischen Hier und Jetzt, nur eben sehr weit weg, angesiedelte Geschichte einer fundamentalen zivilisatorischen Umwälzung. Denn das alte Paar, das wie die ersten Menschen lebt, vertritt zugleich die letzten einer Art, und eine ganze Welt wird unweigerlich mit ihnen sterben.

Seiner melancholischen Grundstimmung zum Trotz jedoch ist Ága ein intellektuell äußerst anregender Film und ein Meisterstück der ökonomisch-effektvollen Inszenierung sowie der metaphorischen Bildgestaltung. Es beeindruckt, mit welcher Sorgsamkeit Lazarov seinen Stoff behandelt, mit welcher Souveränität er Leerstellen lässt und Ellipsen setzt, mit welch sicherem Gespür er auswählt, was er zeigt, und das Gezeigte sodann mit Bedeutung auflädt.

Der deutsche Verleihtitel des Films, Nanouk, verschiebt allerdings den Schwerpunkt: Weg von der – den Originaltitel stiftenden – Tochter Ága, die im Leben der Eltern eine Lücke, nein, eine schmerzende Wunde hinterlassen hat, und deren Abwesenheit auch repräsentativ ist für alles, was aus der Ferne den Lebensraum von Nanouk und Sedna bedroht. Und hin zu einer Assoziation mit Robert J. Flahertys filmhistorisch bedeutendem Dokumentarhybrid Nanook of the North aus dem Jahr 1922. Diese Verschiebung ist kein lässlicher Eingriff, geht mit ihr doch zugleich eine Verlagerung der Rezeptionserwartung einher; die Assoziation mit
Flahertys Nanook erinnert zugleich an genau jene Art von ethnografischem Außenseiterblick auf exotische Welten, den Ága, der überwältigenden Schönheit seiner Bilder zum Trotz, eben genau nicht liefert.

Vielmehr erzählt Lazarov in Ága von einem Verlust und von einem Untergang, der nicht nur ein paar Ewenken in ihrer abgeschiedenen Weltregion hinter den sieben Bergen betrifft. Er erzählt von der Humanität und vom Zusammenhalt der Lebewesen, die überall in Gefahr sind.