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Laura Mulvey

Laura Mulvey

Feminist Idol

| Barbara Pichler |
Die bedeutende britische Filmtheoretikerin Laura Mulvey war in Wien zu Gast – Anlass zu einem ausführlichen Gespräch über Film, Feminismus, Quoten und die Veränderung der filmischen Wahrnehmung.

Ein Idol ist Laura Mulvey ohne Frage. 1975 erschien ihr ungemein einflussreicher Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ („Visuelle Lust und narratives Kino“). Mit der These, dass unsere Lust am Schauen ebenso wie unsere Gesellschaft von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, und mit der Verbindung feministischer und psychoanalytischer Ansätze leitete sie eine Wende in der feministischen Auseinandersetzung mit Film ein. Der Essay ist bis heute eines der meistzitierten Werke der Filmtheorie. Doch so groß die Zustimmung war, so heftig fiel auch die Kritik aus. Mulvey reagierte darauf und entwickelte ihre Überlegungen zur Filmrezeption und zum Kino in zahllosen weiteren Essays und Texten weiter. Ihrem Interesse für den technologischen Wandel und die damit verbundenen Änderungen unseres Sehverhaltens und Filmkonsums geht sie besonders in ihrem letzten Buch „Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image“ (2006) nach.

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Gleichzeitig machte Mulvey selbst einige Filme, darunter britische Avantgardeklassiker in Zusammenarbeit mit Peter Wollen, wie The Riddles of the Sphinx (1977) oder Amy! (1980). Als Lehrende prägte sie an Universitäten in den USA und Großbritannien über Jahrzehnte den Bereich der Film- und Medienwissenschaft.

Das Gespräch mit Laura Mulvey fand anlässlich der neuen Vortragsreihe „Feminist Idols“ der Akademie der Bildenden Künste und einer Filmschau statt, die in Kooperation mit dem mumok präsentierte wurde.

Laura Mulvey: Reden wir einmal über etwas anderes als „Visual Pleasure and Narrative Cinema“. Es ist schön, dass der Essay noch immer interessiert, aber ich habe in den letzten Tagen so viel darüber gesprochen, dass ich einen Themenwechsel brauche.

Barbara Pichler: Welche anderen Fragen beschäftigen Sie denn?

Momentan ist eine der der großen Fragen das Dilemma der Vorführung. Mittlerweile steht uns online oder auf DVD so vieles zur Verfügung, dass die Filmkultur regelrecht explodiert, wir haben einen sagenhaften Zugriff auf die Filmgeschichte. Allerdings sehen wir diese Filme unter sehr seltsamen Bedingungen und das bedingt ein neues Problem: Was heißt es, einen Film zu sehen? Das ist aktuell die entscheidende Frage für Filminteressierte. Das, nennen wir es, „pure Filmerlebnis“ ist fast nur mehr an spezialisierten Orten zu haben. Man könnte sogar sagen, selbst wenn wir ältere Filme auf ganz orthodoxe Weise zu sehen versuchten, – in einem Kinosaal mit 35mm Projektion – sehen wir heute einen Film nicht mehr so, wie er gesehen werden sollte. Wir sind von neuen Seherlebnissen beeinflusst, die Erfahrung totaler Konzentration gibt es praktisch nicht mehr. Wenn wir heute Filme schauen, spielen moderne Medien und Plattformen mit hinein, und Filme werden für gewöhnlich parallel zu anderen Dingen konsumiert. Damit wäre ich wieder bei meinem springenden Punkt, dass digitales Sehen die Gesamterfahrung Kino einerseits ankratzt und andererseits dem Kino neue und andere Wege eröffnet.

Würden Sie wirklich so weit gehen zu behaupten, die „alte“ Art des Zuschauens sei verloren?

Zuschauerschaft wird vielleicht nie wieder so schön sein wie im alten Kino, doch dafür erforscht und entwickelt sie ständig Neues. Derzeit lassen sich noch keine fixen Aussagen treffen, wir befinden uns sozusagen in einer Übergangsphase, einem Grenzbereich, wo Dinge noch nebeneinander bestehen können. Doch die Zukunft nimmt langsam Gestalt an und es wird immer härter für den Zelluloidfilm außerhalb geschützter Räume zu überleben, wo er als wertvolles Objekt praktisch unter Museumsbedingungen gezeigt wird. Für mich ist natürlich interessant, dass man durch neue Technologien jetzt selbst mit dem Filmfluss spielen kann, dass man Fragmente entnehmen, neu montieren und kompilieren kann. Ich nenne das „thinking with film“, bezugnehmend auf die alte französische Theorie der „caméra stylo“ – allerdings ist der Stift jetzt digital.

Sind demnach alle früheren Theorien von Zuschauerschaft, nicht nur Ihre eigene, mittlerweile Geschichte?

Ja. Formulieren wir es so: Vor rund 20 Jahren, um 1995 und den 100. Geburtstag des Kinos, erkannte ich, dass die DVD das elektronische Sehen nachhaltig verändert hatte und das Potenzial für andere Arten der Zuschauerschaft gewaltig war. Da wurde mir klar, dass ich „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ überdenken musste, ich musste meine Theorien von Zuschauerschaft in einen ganz anderen Kontext stellen. Daraus entstand dann das Buch „Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image“.

Wie lassen sich diese Theorien – insbesondere Ihre eigene – heute noch sinnvoll anwenden?

Ich brauchte eine neue Theorie, um meine alten Theorien zu retten, aber Obsoletes kann neu bewertet wiederkehren. Es ist heute so wichtig wie eh und je, über die Vergangenheit und das Kino, wie es einmal war, nachzudenken. Denken Sie nur an den Projektor: Wieso ist die Faszination für dieses altmodische Filmobjekt ungebrochen? Damit und mit den Ideen rund um Projektor, Projektion, Lichtstrahl usw. muss man sich auseinandersetzen, will man Fragen über die unterschiedlichen Arten von Projektion und Zuschauerschaft anstellen.

Ein großer Teil Ihrer frühen Arbeiten basierte auf der Annahme eines „gendered spectator“. Was wird im neuen digitalen Universum aus dieser Idee?

Ich glaube nicht, dass der „gendered spectator“ in dieser Form wirklich noch existiert. Die Sprache des Hollywoodkinos hatte den Zuschauenden die Geschlechterdifferenz aufgedrängt. Zu tun hatte das eigentlich mit den Stars und dem Starsystem und es brachte neue Formen der Zuschauerschaft. Eines meiner Hauptargumente in Bezug auf Hollywood war, dass eine homophobe Gesellschaft davor zurückscheut, männliche Schönheit dem voyeuristischen Blick auszuliefern. Bei aller Attraktivität von Gary Cooper, James Mason oder Robert Mitchum war das Kino eher abgeneigt, sie als Schauobjekte darzubieten. Ihre Schönheit wurde ständig in die Action und Entwicklung des Plots verlagert. War der männliche Charakter in einer Situation dem Voyeurismus den Zuschauenden ausgeliefert, empfand man das – nicht immer, aber generell – als seine Feminisierung. Denken Sie nur an die Verwirrung, die Rudolph Valentino dadurch angerichtet hatte, dass er weibliche Anbetung und Voyeurismus auf sich zog. Indes, diese Stars waren natürlich Schönheitsobjekte, und ich fand eins heraus: Wenn man den Film einfach anhalten und den männlichen Protagonisten zum Objekt des Blicks machen kann, dann kann man durch diese Interaktivität die Narration in gewisser Weise in Eigenregie übernehmen und die Machtverhältnisse zwischen Protagonistin bzw. Protagonist und Zuschauerin bzw. Zuschauer ändern. Das war interessant und unterhaltsam zugleich, obwohl ich nicht sicher bin, ob sehr viele Menschen  Filme tatsächlich so schauen: anhalten, verlangsamen, zerlegen. Das, worüber ich hier rede, worüber ich ein ganzes Buch geschrieben habe, ist eigentlich ein recht spezieller Zugang zu Filmen.

Aber ist es nicht auch ein großer Aspekt der Fankultur?

Ja, das stimmt. Ich liebe es, spezielle Szenen und Momente aufzuspüren, in denen etwas Erstaunliches passiert, ähnlich wie Roland Barthes das „punctum“ in einer Fotografie entdeckt. Ich fand es auch interessant, wie die Betrachtung des fragmentierten und angehaltenen Kinos, das eigentlich ein temporales System ist, einige Fragen der Ästhetik der Fotografie hereinholt.

Der klassischen Kinoerfahrung sagt man gerne nach, sie produziere ein „passives” Publikum. Die neuen Zuschauerinnen und Zuschauer, von denen Sie sprechen, sind neugierig und aktiv, ja sogar interaktiv. Bedingt diese neue Möglichkeit, Filme zu sehen, auch eine andere Verantwortung des Publikums gegenüber dem Medium Film?

Da bin ich mir nicht sicher, und es ist eine komplizierte Frage, denn wie wir vorhin sagten, beeinflussen die modernen Medien unsere Sehgewohnheiten sehr stark. Ich glaube zum Beispiel, dass ein gegenwärtiges Publikum empfänglicher für Langsamkeit ist. Nehmen wir etwa das iranische Kino und das neue asiatische Kino, dort entstehen wirklich wunderbare Filme mit einem ganz anderen Rhythmus. In gewisser Weise könnte man das als Reaktion auf die Beschleunigung des Alltags und die Flut der Bilder auf Smartphones und iPads etc. verstehen. Andererseits jedoch haben junge Menschen ein ganz anderes Verhältnis zu den Medien als je zuvor in der Geschichte. Die Beziehung zwischen Kindern und ihren Handys ist etwas, das Menschen meiner Generation nicht nachvollziehen können. Für mich ist es ein extrem kompliziertes Phänomen und eine gewaltige Trivialisierung der Existenz, ein Eingriff in den normalen Fluss des täglichen Lebens. Wollte man melodramatisch sein, könnte man einen Vergleich mit der Tempoverschiebung anstellen, die im 19. Jahrhundert Eisenbahn, Telegramm und Fernschreiber mit sich brachten. Damals erlebten die Menschen diese neue Beziehung von Raum und Zeit, die quasi zusammenfielen, als absolut revolutionär. Diese heutige Revolution ist ähnlich – oder vielleicht sogar noch radikaler.

Der „gendered spectator“ mag, zumindest bis zu einem gewissen Grad, verschwunden sein, gleichzeitig bleibt die Frage des Körpers – des weiblichen wie des männlichen – ein großes Thema.

Natürlich, das Problem des Körpers besteht nach wie vor. Als Hollywood seine Filmkonventionen aufstellte, drehte sich seine Sprache in hohem Ausmaß um den Körper und um den Austausch von Blicken. Die Beziehung zwischen Körpern, diese anthropomorphe Obsession, dominierte stets das Bild. Was passiert, wenn man das in Frage stellt? Peter Wollens und meine Filme, beispielsweise, und viele weitere Experimentalfilme verweigern sich den Konventionen der Montage. Oder nehmen Sie ein ganz anderes Beispiel wie das iranische Kino, wo nach der Revolution die vorangegangene Hollywood-Invasion, aber auch populäre Kitschfilme in Farsi total abgelehnt wurden. Der weibliche Körper unterlag Konventionen, die denen Hollywoods entgegengesetzt waren – anstatt dem Blick dargeboten und kommerzialisiert zu werden, wurde er tabuisiert, die Geschlechterbeziehungen wurden streng reglementiert, es war für einige Zeit unmöglich, Nahaufnahmen von Frauen zu machen oder sie überhaupt zu zeigen. Unter solchen Bedingungen musste sich das Kino neu erfinden und nach und nach entstand ein  interessantes Filmschaffen,  in dem Frauen allmählich wieder auf der Leinwand auftauchten, allerdings hatte sich der Blick auf sie verändert. Und es traten überraschend viele Filmemacherinnen in Erscheinung. Wir haben hier also eine sehr eigentümliche Umkehr von Hollywood, die vom Staat eingesetzt und von reaktionärer Ideologie und Religion angetrieben wurde. Dieses Paradoxon könnten wir den seltsamen Fall des iranischen Kinos nennen, und es brachte erstaunliche Arbeiten hervor, denken Sie nur an Künstler wie Kiarostami. Oder die wundervollen Filme von Rakhshan Bani-Etemad, die ich für eine der großen Filmemacherinnen unserer Tage halte, Under the Skin of the City zählt zu meinen Lieblingsfilmen.

Sie haben oft gesagt, Sie dachten in den siebziger und achtziger Jahren alle, dass Frauen heute längst fünfzig Prozent der Filme machen würden, und es sei extrem enttäuschend, dass dem nicht so ist. Wie könnten wir das ändern?

Die Quote wäre eine Möglichkeit, vor allem in Ländern wie Großbritannien, wo der Genderunterschied zum Himmel schreit. Es gibt zahlreiche Studien zum Thema, speziell über Frauen und Film, und ich meine, die Ergebnisse zeigen deutlich auf, wie wichtig eine Quote und eine Unterstützung seitens des Staates wären, denn von sich aus wird sich die Industrie nicht ändern. So viele Männer machen Filme, die eigentlich schlecht sind, aber Männern werden Fehler zugestanden, Frauen noch immer nicht. An dieser Sichtweise muss sich etwas ändern, wir müssen faire Verhältnisse schaffen. Nichtsdestotrotz schaffen immer wieder Frauen den Durchbruch, im Moment haben wir im UK höchst interessante Filmemacherinnen. Lynne Ramsay oder Andrea Arnold, Clio Barnard mit ihrem hervorragenden The Arbor oder Joanna Hogg, deren Arbeit ich sehr bewundere. Alle diese Filme sind auch deshalb so spannend, weil sie die Klassenfrage ansprechen, die das britische Kino bis auf einige Ausnahmen bisher nur in Komödien abgehandelt hat. Joanna Hogg stilisiert die Zugehörigkeit zur Mittelschicht regelrecht zum Objekt, und sie macht das brillant. Sie hat ein sehr feines Ohr für den Tonfall der middle class – und das sage ich als eine, die selbst so spricht.

Wie stehen Sie heute zum Feminismus? Einerseits ist es anscheinend in, sich als Feministin zu bezeichnen, andererseits erleben wir gerade einen gewaltigen Backlash.

Zur Verteidigung der jüngeren Generation möchte ich sagen, dass meine jungen weiblichen Verwandten, so sehr sie auch an ihren iPhones kleben, den Feminismus sehr ernst nehmen. Das ist ein positives Phänomen, zumindest in Großbritannien – für sie ist der Feminismus etwas Selbstverständliches, so wie für mich in ihrem Alter der Sozialismus etwas Selbstverständliches war. Das kommt möglicherweise vom spürbaren Backlash und der gefährlichen Frauenfeindlichkeit, die in der Welt herrscht. Die Social Media und Co haben sicherlich neue Spielarten der Viktimisierung von Frauen eröffnet. Aber vielleicht wird auch die potenzielle Viktimisierung von Frauen bewusster wahrgenommen als ihre potenzielle Selbstermächtigung.

Lange nachdem Sie „Visual Pleasure“ geschrieben hatten, sagten Sie wiederholt, Sie hätten rückblickend das Gefühl, der Essay habe mehr mit Politik als mit Film zu tun. Die Idee der Theorie als politischer Waffe – gilt sie heute noch?

LM: Ich glaube, die Politik braucht die Theorie, und sogar die psychoanalytische Theorie, heute dringender denn je. Als ich damals in den siebziger Jahren meine ersten Filme machte und zu schreiben begann, wollte man mit Theorie und Feminismus tatsächlich etwas an den Lebens- und Arbeitsbedingungen ändern, es waren sehr utopische Ideen, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte. Diese utopische Idee hat die politischen Umbrüche der Achtziger und Margaret Thatchers Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht überlebt. Man konnte nicht länger daran denken, über das Kino die Welt zu verändern. 1989 schrieb ich in der Einleitung zu meiner ersten Essay-Sammlung „Visual and other Pleasures“, dass wir uns vielleicht zu sehr mit dem Bild beschäftigt und dabei die realen und politischen Umstände vor unseren Augen übersehen hätten. Ich bin nach wie vor Ansicht, dass es ein elitäres Privileg ist, sich auf die Frage des Bildes zu konzentrieren, während die Welt in eine Abwärtsspirale gerät. Andererseits erkennt man nun, da die Dinge sich zuspitzen und die Sparpolitik Künste, Kultur und Geisteswissenschaften beschneidet, wie wichtig es ist, eine Kultur der Kritik am Leben zu halten – und ebenso eine Kritik der Kultur. Am und mit dem Bild zu arbeiten, war immer politisch und wird es immer sein, und das darf man nicht aufgeben.