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Nina Hoss

Interview | Das Vorspiel

Suche nach den Widersprüchen

| Kirsten Liese |
Nina Hoss über ihre Rolle in Ina Weisses Film „Das Vorspiel“, ihre Berufsauffassung, die Arbeit mit Frauen und Männern und die Krise des Theaters.

Musikerinnen und Sängerinnen spielt Nina Hoss besonders gern. Insofern kommt ihr die Rolle in Ina Weisses Drama Das Vorspiel, das 2019  in Toronto seine Weltpremiere erlebte und das ihr auf dem Festival in San Sebastian eine geteilte Silberne Muschel als beste Hauptdarstellerin einbrachte, sehr entgegen. In dem Film brilliert die 44-jährige gebürtige Stuttgarterin mit nuanciert-minimalistischem Spiel als Anna, eine Geigenlehrerin mit höheren Ambitionen. Anfangs noch fürsorglich, nimmt Anna sich eines Jungen an, den ihre anderen Kollegen am Konservatorium für nicht begabt genug halten. Als sie aber bei einem Konzert mit einem Streichquartett an ihren eigenen Ansprüchen scheitert, wird Anna strenger mit dem Jungen, auf den sie ihre eigenen Versagensängste projiziert, bis sie ihn schließlich derart terrorisiert, dass er noch vor der entscheidenden Prüfung die Flucht ergreift. Unterdessen kommt es in Annas Familie zu Konflikten und Spannungen. Ihr Sohn, der ebenfalls Geige spielt und bei Annas Kollegin Unterricht nimmt, wird zunehmend eifersüchtig auf den neuen Schüler.

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Nina Hoss zählt seit Jahren zu den gefragtesten Schauspielerinnen ihrer Generation und stand für zahlreiche Regisseurinnen und Regisseure, darunter Doris Dörrie, Volker Schlöndorff, Nina Grosse oder Nicolette Krebitz vor der Kamera. Ihre größten Kinoerfolge bescherten ihr tolle Rollen in Filmen von Christian Petzold. In den vergangenen Jahren konzentrierte sie sich allerdings verstärkt auf das Theater.

Es ist eine Freude, Sie wieder in starken Produktionen auf der Leinwand zu sehen, wie in Katrin Gebbes „Pelikanblut“. Ihre Filme, die unter der Regie von Christian Petzold entstanden, liegen schon eine Weile zurück.
Nina Hoss:
Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich ein Jahr viel unterwegs war mit Thomas Ostermeier und dem Theaterstück „Retour nach Reims“. In Manchester habe ich geprobt und lange gespielt. Dann kam noch die Fernsehserie Homeland. Kurzum: Ich hatte immer das Gefühl, ich sei ständig am Arbeiten. Jetzt mache ich gerade eine Theaterpause, und im letzten Jahr haben sich dann gleich mehrere tolle Filmrollen für mich gefunden. Nach Das Vorspiel  kamen noch zwei Filme, Pelikanblut und Schwesterlein von Véronique Reymond und Stéphanie Chuat (lief bei der Berlinale 2020, Anm.). Es waren plötzlich mehrere Frauen, die großartige Frauenfiguren und gute Geschichten geschrieben haben. Manchmal ist das ja auch ganz gut, wenn sich eine kleine Pause ergibt, damit man durchatmet und die Zeit nicht mit Dingen füllt, die man nachher nicht gut findet.

Ihr jüngster gemeinsamer Film mit Petzold war „Phönix“, das war 2014. Können Sie sich vorstellen, irgendwann doch wieder zusammenzuarbeiten?
Nina Hoss: Das kann gut sein. Es ist ja nicht so, dass wir uns im Streit getrennt hätten. Aber wir haben so lange und intensiv zusammengearbeitet, dass wir mal voneinander eine kreative Pause brauchten, um uns nicht zu sehr zu wiederholen und im gleichen Fahrwasser zu bleiben.

Das Kino entdeckt offenbar gerade die klassische Musik. „Das Vorspiel“ ist einer unter mehreren Filmen, zu denen „Lara“, „Prélude“ und „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“ zählen, in denen sehr ehrgeizige Musikerinnen und strenge Klavierlehrerinnen auftreten. Ein Zufall?
Nina Hoss: Ich habe mir diese Frage nicht gestellt, da mir das gar nicht bewusst war. Ich könnte mir vorstellen, dass es denen genau so geht. Ich erlebe das aber auch am Theater, zum Beispiel als wir 2006 „Medea“ am Deutschen Theater gemacht haben. Vorher hat keine Bühne sie gebracht, und auf einmal gab es sie überall in Deutschland. Das war wohl einfach so ein Zeichen der Zeit. Und so ist es hier vielleicht auch.

Was, glauben Sie, ist so interessant an dem Frauentyp „strenge Musiklehrerin“?
Nina Hoss: Das Drehbuch beschreibt selbstbewusst den Moment im Leben einer Frau, die sich nimmt, was sie will. Sie hat eine Affäre mit einem Musiker, weil sie jemanden braucht, der sie unterstützt, sie ermutigt, zu überprüfen, ob sie nicht doch nochmal ihrem Traum nachgehen soll, selber zu spielen. Anna ist aus der Balance, weil sie in der Mitte ihres Lebens steht und sich fragt, ob es ausreicht, nur Lehrerin zu sein. Ist das nicht genug? Damit geht eine Frustration einher, weil sie selbst mehr von sich erwartet, als sie verwirklicht hat. Es fällt schwer, das zu akzeptieren, und damit klar zu kommen, dass man sich etwas anderes Großartiges erschaffen hat, zum Beispiel eine tolle Familie. Ihre Ehe funktioniert, der Mann versteht sie, trotzdem ist da eine Sprachlosigkeit.

Zunehmend wird Anna aber unleidlicher und garstiger, wenn sie ihrem Schüler z.B. gegen seinen Willen einen Sandsack mit einem Gürtel auf die Schulter schnürt.
Nina Hoss: Natürlich beschreibt der Film auch die Weitergabe der Gewalt. Druck ist eine Form von Gewalt. Annas Prägung durch die Kindheit schimmert durch ihr Verhalten durch. Sie verlangt von sich selbst das Beste, um auf keinen Fall zu versagen, und diese Haltung gibt sie an ihren Sohn und an ihre Schüler weiter. Das weiß sie aber und versucht sich dagegen zu stemmen, weil sie eine feinfühlige Person ist. Für mich war die Szene wichtig, in der Anna dem jungen Studenten bei sich zu Hause eine Platte mit Yehudi Menuhin vorspielt. Das ist der Moment, in dem man spürt, worum es geht. Das ist ihr Zentrum. Anna liebt Musik! Sie liebt es, Musik zu machen, und sie kann nicht verstehen, warum sie sich selbst so im Weg steht. Das ist also gar nicht so sehr eine Frau, die garstig oder gemein ist, sondern eine, die auf der Suche ist, die im Moment keine Balance hat und Dinge an sich entdeckt, die auch unangenehm sind. Das Buch ist also kompliziert, und das kommt mir entgegen. Ich finde es toll, dass Anna nicht aufgibt, und ich bewundere ihre Disziplin, die sie sich abverlangt.

Dennoch wandelt sich Anna im Lauf des Films. Bei der anfänglichen Aufnahmeprüfung erscheint sie neben lauter arroganten Kollegen als die einzige menschliche Lehrkraft, die sich für den Kandidaten ausspricht und ihm zugute hält, dass man ihm als Schüler keine Perfektion abverlangen könne. Aber dann wird eben auch sie sehr streng …
Nina Hoss: … weil sie selbst ihren Ansprüchen bei ihrem eigenen Konzert nicht gerecht werden kann. Als ihr plötzlich der Bogen wegfliegt, geht sie mit sich selbst gleich wieder härter ins Gericht und begibt sich damit auf ein Terrain, auf dem sie sich sicher fühlt. Das ist der Moment, in dem sie dem Schüler zuviel abverlangt, und eigentlich bekämpft sie in dieser Szene sich selbst und übersieht, was sie dem Kind antut. Sie hat überhaupt keine Grenzen mehr, weil sie mit sich grenzenlos ist. Ich glaube, viele Lehrer, die so streng sind, denken innerlich, es sei nur zum Besten der Schüler. Gegen Strenge habe ich auch nichts einzuwenden, man darf nur nicht übergriffig werden.

Sie selber hatten auch Klavier- und Gesangsunterricht. Gab es da ähnliche Erfahrungen?
Nina Hoss: Ich hatte eine phänomenale Klavierlehrerin, die mich, wenn ich nicht geübt hatte, auf andere Weise bestrafte, was ihr bestimmt nicht bewusst war. Sie saß neben mir und war einfach nur enttäuscht. Das ist fast noch schlimmer, als wenn mich jemand fertiggemacht hätte. Wenn man selber das Gefühl hat, dass man schlecht ist und sich von Note zu Note quält, ist alles ein Drama, und man muss da irgendwie durch. Das ist natürlich auch eine Form von Terror. Aber ich habe die Botschaft verstanden. Das hieß, dass ich in der nächsten Woche besser vorbereitet war. Also das konnte ich nachvollziehen, dieser Druck und dieser Terror im Unterricht kann so vielseitig sein.

Ihre Kolleginnen und Regisseure haben ganz unterschiedliche Auffassungen vom Beruf des Schauspielens: Isabelle Huppert zum Beispiel sagt, sie spiele keine Figuren, sondern sei diese. Regisseur Robert Wilson verwies darauf, dass das Schauspielen immer etwas Künstliches sei und inszenierte deshalb auch alles absichtlich künstlich. Dann gibt es noch das Method Acting: Der Schauspieler oder die Schauspielerin muss selbst etwas Vergleichbares erleben, bevor sie es spielen kann. Wo sehen Sie sich zwischen all diesen Ansichten oder haben Sie ein gänzlich anderes Selbstverständnis von Ihrem Beruf?
Nina Hoss: Auf mich trifft von allen drei genannten etwas zu. Natürlich stimmt es, was Wilson sagt: dass Schauspiel in jedem Fall etwas Künstliches ist, zumal wenn man sich in Situationen hineinbegibt, die man selbst oftmals gar nicht erlebt hat. Aber zugleich bin ich dann doch auch bei Isabelle Huppert, weil ich schon in meiner Figur ganz und gar glaubwürdig sein will und so mit ihr eins, dass man vergisst, dass ich nur so tue, als ob. Beim Method Acting verliert man sich ja ganz und gar in der Rolle. Das ist meines Erachtens nur bis zu einem gewissen Grad möglich, weil ich trotz alledem ja doch meine eigene Persönlichkeit behalte.

Zumal es ja Geschichten gibt, in denen man mit Traumata und negativen Energien konfrontiert ist, vor denen man sich wohl schützen muss. Sie haben in „Phönix“ schon einmal eine Frau gespielt, die in einem Konzentrationslager war. Folterszenen wurden da nicht gezeigt, aber solche Szenen machen doch etwas mit einem, nicht?
Nina Hoss: Schauspielen kostet einen etwas. Alles andere interessiert mich auch gar nicht. Das heißt natürlich, dass ich mich im Fall der Nelly von Phönix voll und ganz auf das einlasse, was diese Figur erlebt hat, und das belastet mich persönlich natürlich auch. Ich kann es aber am Ende der Dreharbeiten ganz gut ablegen. Ich versenke mich also, weil ich weiß, dass ich auch wieder raus kann. Ich suche nach den Widersprüchen. Dass ich beim Spielen viel empfinde, bedeutet nicht zwangsläufig, dass ich die selben Empfindungen beim Zuschauer auslöse. Im Fall der Nelly waren ihre Beschreibungen des Konzentrationslagers schon so grauenvoll, dass ich in ein Lachen geriet, weil es anders nicht auszuhalten war. Also schon über das Grauen hinaus. Über dieses Verhalten muss ich nachdenken beim Zuschauen, und ich denke, der Widerspruch löst mehr aus beim Betrachten als die pure Wiedergabe der entsetzlichen Erfahrung.

Solche Widersprüche haben Sie bestimmt auch in der Geigerin Anna entdeckt?
Nina Hoss: Genau. In einer Begegnung mit dem Vater, als er sadistisch ihren Sohn quält, indem er dessen Hand in einen Ameisenhaufen steckt, hat man das Gefühl, dass Anna begriffen hat, so mit Kindern nicht umgehen zu dürfen. Aber wenige Szenen später wird ihr eigener Umgang mit ihrem Sohn und ihrem Schüler auch rauer, ohne dass es ihr vielleicht bewusst wird. Aber das hat viel mit ihr zu tun. Ich finde es interessant und werte es als ein gutes Zeichen, dass jeder, mit dem ich über den Film spreche, einen anderen Film gesehen hat. Manche finden Anna ganz schrecklich und böse, andere können mit ihr mitfühlen oder haben sogar Mitleid mit ihr. Das hat bestimmt auch damit zu tun, dass hier unter jeder emotionalen Schicht noch eine andere liegt. Wenn es so viele Schichten gibt, habe ich Gelegenheit, ein ganz vielschichtiges Porträt draus zu machen.

Inwiefern gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Geigerin Anna und der Frau, die Sie in „Pelikanblut“ von Katrin Gebbe verkörpern?
Nina Hoss: Die beiden Frauen sind sich ähnlich in ihrer Passion, ihrer Leidenschaft, ihrer Bereitschaft zum Kämpfen. Aber in Pelikanblut bin ich eine Mutter, die sich – ganz im Gegensatz zu Anna – in ihrer Mission fast aufopfert, so weit, dass es erschreckend ist. Die sucht so sehr nach einer humanistischen Lösung und glaubt so sehr daran, dass man Menschen oder Lebewesen nicht aufgeben darf, dass sie nach anderen Wegen sucht, an traumatisierte Personen und Tiere heranzukommen.

Im Kino und im Theater wird deutschsprachigen Schauspielern zunehmend die englische Sprache abverlangt. Sie waren schon mehrfach im internationalen Kino unterwegs wie zum Beispiel in „The Most Wanted Man“ oder in der TV-Serie „Homeland“. Wie kommen Sie damit zurecht?
Nina Hoss: Da ich mit einem Briten, genauer gesagt: einem Waliser, verheiratet bin und ohnehin viel Englisch spreche, macht mir das nichts aus, zumindest nicht im Kino, da finde ich das bisweilen sogar befreiend. Ich muss ein Stück weit die Kontrolle über jede Betonung abgeben und vertrauen, dass es schon so rüberkommt, wie ich meine, wenn es nicht meine Muttersprache ist, und das gefällt mir. Ich spreche gern andere Sprachen, in Das Vorspiel rede ich zum Beispiel auch in einigen Szenen Französisch. Es kommt allerdings auch ein bisschen auf die Konstellation an: Wenn ich Teil eines rein deutschsprachigen Ensembles bin und wir reden dann alle untereinander Englisch, käme mir das vielleicht komisch vor. Wenn das Ensemble ein internationales ist, finde ich das ganz unproblematisch wie etwa in der Serie Shadowplay mit Taylor Kitsch, Michael C. Hall und Sebastian Koch, in der wir Englisch, Deutsch, Russisch gesprochen haben. Dass so viele Filme in Englisch gedreht werden, hat natürlich mit dem Weltmarkt zu tun. Die Produktionen lassen sich dann besser verkaufen.

Sie haben sowohl mit männlichen als auch weiblichen Regisseuren zusammengearbeitet. Gibt es da Unterschiede?
Nina Hoss: Bei den Frauen ist es wohl so, dass das Ego nicht so sehr im Vordergrund steht. Alle arbeiten dem Projekt zu. Es ist ein konstruktives, zügiges Arbeiten auf Augenhöhe.

Sie haben auch viel und immer wieder am Theater gearbeitet. Wenn man sich allerdings umschaut, wie heute im Schauspiel oft pathetisch gebrüllt und geschrien wird, Klassiker bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder trivialisiert heruntergeleiert werden, fragt man sich, was eine große deutsche Schauspielerin da noch für Aufgaben finden kann.
Nina Hoss: Derzeit spiele ich gerade nicht Theater. Ich stimme Ihnen in vielem zu, habe aber den Eindruck, dass das mit fehlenden starken, guten Gegenwartsautorinnen und -autoren zu tun hat, die unsere Gesellschaft und ihre eigenen Probleme prägnant und herausfordernd beschreiben. Dass heute Klassiker derart bis zur Unkenntlichkeit zerlegt werden oder man eine Roman-Dramatisierung nach der anderen macht, hat sicherlich auch damit zu tun, dass man nach neuen Ausdrucksformen sucht, die eben in der modernen Theaterliteratur momentan nicht geboten werden. Aber Entwicklungen und Tendenzen gehen in Wellen. Ich könnte mir vorstellen und bin eigentlich ganz sicher, dass das Schauspiel noch nicht ausgedient hat. Ich bin guter Dinge, auch am Theater wieder neue und spannende Aufgaben und Herausforderungen zu finden.