Politik, Protest und gegenseitige Impulse: der Mai 68 und das Kino
Nicht alle Filme jener Phase, die von Aufbruch und Ausbruch zeugen, sind gleich gut gealtert – in Bezug auf ihre filmische Form und ihre Nachhaltigkeit. Vereinzelt waren sie noch nicht einmal wirklich ‚neu‘, wenn man das Diktum von Luc Moullet in seiner kurzen 68er-Filmgeschichte „L’esprit de Mai“ (1998) bedenkt: „Es gibt keine neue Ideologie ohne neue Form, in der sie Gestalt annimmt. Das war die erste Lektion des Mai 68“. Doch in den Filmen, um die es hier geht, vermengen sich Pop und Politik, Hedonismus und Theorie, Ästhetik und Agitprop, Pflastersteine und Flowerpower, Sex und Reden, rote Fahnen und schöne Autos, Fabriken und Schultafeln.
„Wenn es eine Filmgeschichte des Jahres 1968 gäbe, dann müsste sie unübersichtlich, verfranst und chaotisch aussehen und vor allem die Ratlosigkeit und Widersprüche des Jahres wiedergeben. Es wäre eigentlich keine Filmgeschichte mehr, denn die Fäden, die sie zusammenfassen müsste, handeln von Zerfaserungen, Vervielfachungen, Spaltungen; oft auch von Leuten, die sich ganz oder vorübergehend vom Kino abwenden.“ (Volker Pantenburg, 2008)
Eine Generalprobe für die Strassenkämpfe
Wie sehr die Revolte von 1968 mit dem Kino und der Filmgeschichte verbunden war, verdeutlichen die Ereignisse um den Mai 68 in Frankreich, dem die „Affäre Langlois“ unmittelbar vorausging. Schon im Februar 1968 demonstrierten tausende Studenten und Kulturschaffende (darunter Godard, Truffaut, Daniel Cohn-Bendit) gegen die Abberufung des legendären Gründers (1935, zusammen mit Georges Franju und Jean Mitry) und Leiters der Cinémathèque Française, Henri Langlois, durch Kulturminister Malraux, gleichsam eine Generalprobe für die Straßenkämpfe des Mai 68; im April gab die Regierung dem Druck nach und setzte Langlois wieder ins Amt. Wenn man die Liste der Unterstützer durchblättert, die in der Ausgabe 199 der „Cahiers du cinéma“ abgedruckt ist, liest man neben Regisseuren die Namen Roland Barthes, Simone des Beauvoir, Samuel Beckett, Raymond Queneau, Claude Simon oder Jean-Paul Sartre. Aus Solidarität mit den streikenden Arbeitern und Studenten sorgten im Mai Truffaut, Godard und andere für den Abbruch des Filmfestivals in Cannes, und man rief, in Anlehnung an die Französische Revolution, die „Generalstände des Kinos“ aus. Im Zuge der politischen Mai-Ereignisse entstanden zahlreiche Filme, wobei die Impulse von der Politik zum Film wie auch umgekehrt verliefen. („La fantaisie au pouvoir / Die Phantasie an die Macht“). Das (Film)jahr 1968 war erfüllt von Umbruch und Protest in weit voneinander entfernten Regionen der Welt: Der Protest gegen den Vietnam-Krieg und die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die deutsche Studentenbewegung und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke, der „Prager Frühling“ im Ostblock sowie der Mai 68 in Frankreich. Im Kontext mit dem Streik der Arbeiter und der Studentenrevolte stellten Filme eine Gegenöffentlichkeit her, lieferten Gegeninformation und fungierten als agitatorisches Manifest, Filmemacher gingen in die Fabriken, Arbeiter nahmen die Kamera in die Hand, was nicht nur Folgen für den Inhalt der Filme, sondern auch für eine Autorschaft hatte, die nun auf einmal kollektiv angelegt war. Für Loin du Viêt-nam schlossen sich Chris Marker, Godard, Alain Resnais, William Klein, Claude Lelouch, Joris Ivens und Agnès Varda zu einem Autorenkollektiv zusammen, waren Teilnehmer der kollektiven Ciné-Tract-Projekte und anderer Wochenschau-ähnlicher Magazine (z.B. Filme des Arbeiter-Kollektivs Groupe Medvedkine aus Besançon und Sochaux, oder Chris Markers Kooperative Société pour le lancement des oeuvres nouvelles, SLON). Die Agitprop-Filme des kubanischen Filmemachers Santiago Alvarez stehen für militante filmische Manifeste, ebenfalls filmische Bild-Essays von den Barrikadenkämpfen des Pariser Mai: Le soulèvement de la jeunesse – mai 68 oder Pierre Clémentis La révolution n’est qu’un début. Continuons le combat, der die persönliche Geschichte ins historische Dokument der Situation einbettet.
„Was tun?“
Die „Groupe Dziga Vertov“ stand für ein Avantgardekollektiv, in dem Jean-Luc Godard (mit Jean-Pierre Gorin), um sich von „bourgeoisen“ Kulturkategorien wie „Autorschaft“ und „Werk“ zu verabschieden, seinen berühmten Namen verschwinden ließ. In der Folge der Ereignisse vom Mai 68 setzte er sich mit dem Maoismus auseinander und konzipierte inhaltlich wie formal experimentelle Filme, in denen das Verhältnis von Bildern, Wörtern und Schrift untersucht wurde und nicht einfach „linke Inhalte“ traditionell vermittelt, sondern mit neuen ästhetischen und Produktionsformen eine andere Praxis angegangen wurde. Film und Politik, Radikalität und 1968 lassen sich besonders gut an der Figur Godard erzählen, wohl dem einzigen etablierten Filmemacher der 1960er, der seine Praxis von den Ereignissen radikal in Frage gestellt sah. Auf seinen 1970 verkündeten Imperativ „Film politisch machen“ (s.u.) gründen sich alle zwölf „Dziga Vertov-Filme“, die zwischen Un film comme les autres (1968) und Ici et ailleurs (1974) entstanden, Filme, die in Kooperation mit nationalen TV-Sendern sowie alternativen Geldgebern wie der palästinensischen El Fatah produziert und nur in den seltensten Fällen ausgestrahlt wurden.
Internationale Filme vom Ende der 1960er Jahre geben ein Zeitbild wieder, vermitteln ein Lebensgefühl von Umbruch und Neubeginn, ohne sich unbedingt auf politische Ereignisse zu beziehen. Dazu gehört D.A. Pennebakers Monterey Pop über das legendäre Pop-Festival in Monterey/Kalifornien, die große Begegnung von Flower Power und Hippie-Kultur. Die politischen Unruhen während des Wahlkonvents der Demokratischen Partei in Chicago bilden den realen Hintergrund für Medium Cool von Haskell Wexler, der die Gewaltszenerien der Straße und gefährliche Drehbedingungen bei Polizeieinsätzen in seine Erzählung einfließen lässt, ein Dokument staatlicher Gewalt. Mr. Freedom des Fotografen William Klein indessen kommt daher wie eine poppige Comic-Satire, die über Monate nicht die Zensur passieren konnte, weil sie von Regierungsseite mit dem Mai 68 in Verbindung gesehen wurde. Die stilistische Nähe Godards lässt der Film Ich bin ein Elefant, Madame des Theaterregisseurs Peter Zadek erkennen, der sich um einen Schüleraufstand an einem Bremer Gymnasium dreht und in eine große Provokation mündet; der Protest wird zum Happening im Indianerkostüm, zur Musik von Velvet Underground. Eine militante Schülerrevolution in einem Internat zeigt Lindsay Andersons If…., und auch in Johannes Schaafs in West-Berlin gedrehter Tätowierung führt der Aufstand gegen eine Vätergeneration, deren Wohlwollen eine repressive Toleranz verbreitet, zur gewaltsamen Gegenwehr.
Das Echo des Pariser Mai in Gedächtnis und Erzählung reicht bis in die jüngste Gegenwart, rückblickend reflektiert und kommentiert. In Reprise (1996) macht sich Hervé Le Roux auf die Suche nach einer Arbeiterin, die gegen die Anweisung der Funktionäre nach einem Streik die Arbeit nicht wieder aufnehmen wollte. Eine pure Dokumentation drehte Louis Malle mit Humain, trop humain (1972/74) – indem er gänzlich unkommentiert die Arbeit am Fließband bei Citroën aufnimmt, gibt er auf sinnlich pure Weise, in Bild und Ton, die unmenschliche Seite der Fabrikarbeit wieder. Jean Eustaches „ménage à trois“ La maman et la putain (1972/73) dürfte als der große melancholische Abgesang auf 68 gelten, das Scheitern der Revolte und die Rückkehr in bürgerliche Privatheit.
Eins plus eins oder zwei
„Es gibt kaum eine bessere Dokumentation des politischen Moments – des Geisteszustands – der mit ‚1968‘ bezeichnet wird“ (Klaus Theweleit, 2008): Jean-Luc Godard, der 1968 mit One plus One seine Kunst, zwei oder drei Filme in einem zu machen, zum Höhepunkt entwickelt hatte, drehte hier neben einer Fiktion über die „Black Panthers“ und einen „politischen Wildwestroman“ eine Art filmisches Protokoll von der Einspielung des Stückes „Sympathy for the Devil“ im Tonstudio. Zu verfolgen ist die Gegenüberstellung eines musikalischen und eines politischen Diskurses, und was daraus entsteht. Man sieht Mick Jagger an der Gitarre, die er auf der Bühne niemals spielt, wie er Rhythmen vorgibt und Verbesserungsvorschläge macht und so das Stück nach und nach konzipiert. Was Godard in komplizierten Studiofahrten aufnahm, klingt anders als der Song und sein Sound auf der veröffentlichten LP. „Er hat eine Kamera langsam durch die Olympia Sound Studios, Barnes, fahren lassen, so wie Kubrick eine Kamera durch den Weltraum hat fahren lassen. Der Kopf von Brian Jones zieht in einer Ruhe durch das Bild, wie man sich nur einmal etwas gesehen zu haben erinnert: das Raumschiff in 2001, das an einem Bildrand auftaucht und in der Stille einer Galaxis über das ganze Gesichtsfeld wandert.“ (Wim Wenders, in Filmkritik Nr. 151, Juli 1969) Die Stones brechen ab, wenn ihnen etwas nicht gefällt, in müheloser Verständigung. Der Film gibt nur die Arbeitsfragmente wieder, er addiert die Elemente jenseits einer integralen Fassung und zeigt so die Band ebenso als Montagekünstler wie Godard selbst. „Wenn irgendwo der ersehnte Sozialismus ist in diesem Film, dann ist er bei der Entstehung von ‚Sympathy for the Devil‘, schrieb Klaus Theweleit 1995 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises an Godard. Was Theweleit hier andeutete, ist eine Produzenten-Utopie, bedeutender als alle politischen Emanzipationsreden und Verbalradikalismen zur Ankündigung revolutionärer Gewalt. Pop- bzw. Rock-Musik hatte Happening-Status, der in ihrem gemeinschaftlichen Gemachtsein die Utopie nichtentfremdeter Arbeit innewohnt. Bei einem Auftritt konnte alles geschehen, und es geschah immer etwas Unvorhersehbares. ‚Kommunikation‘ in der ‚Improvisation‘ waren die operativen Voraussetzungen, die sich im Spiel entfalten sollten. Was zählte, war die offene Gestaltung des Moments im Zusammenspiel, spontan und kollektiv, dieser Prozess war, ganz der Gegenwart anvertraut, das Produkt. Weitere Schauplätze neben dem Aufnahmestudio und dem Schrottplatz mit den Reden der Black Panthers sind ein Wald, in dem Reporter ein Ja-Ja-Nein-Nein-Interview mit „Eve Democracy“ (Anne Wiazemsky) führen und ein Porno-Shop, in dem ein Jung-Nazi im Jeansanzug aus Hitlers „Mein Kampf“ deklamiert und die Kunden zur Bezahlung zwei Hippies ohrfeigen müssen. Neben Texten aus dem Off liest man Graffitis wie: HI/FICTION, SO/VIETCONG, FREUDEMOCRACY und CINEMARXISM.
Ein antizipatorischer Film
La chinoise (1967/68) – Fünf junge Menschen, eine Philosophie-Studentin, ein Schauspieler, ein Maler, ein Naturwissenschaftsstudent und eine Gelegenheitsprostituierte schließen sich in einer großen bürgerlichen Wohnung zu einer Kommune zusammen, diskutieren über Marx, Mao, Vietnam und den richtigen revolutionären Weg. Mit dem Fehlschlag eines Attentats scheitert zuletzt auch die Gruppe. „Natürlich hatten ihre Bemühungen etwas Lächerliches, aber sie selbst waren nicht lächerlich. Lächerlich ist, dass alles so gekommen ist. Das ist die Realität dieses Films, diese Leute waren lächerlich, liebe Jungen und Mädchen, die Marxismus-Leninismus spielen, wie Kinder in den Ferien versuchen ein Indianerzelt zu bauen. Die da spielten Marxismus-Leninismus, spielten Chinesen. Daran war zugleich was Wahres und was Falsches. Der Film gibt, finde ich, den Ton ziemlich richtig wieder. Wie zufällig passierten die Ereignisse von Nanterre ein Jahr später. Also musste doch was Wahres dran gewesen sein. Aber ich habe es gefilmt, ehe es wirklich Form angenommen hatte.“ (Jean-Luc Godard, 1980)
À travers 68: Die Durchdringung von Politik und Kultur
„Die große Wandlung, die 1968 den Typus des Kinogehers ergriff, war: aufzuhören, ‚Filmkunst‘ zu identifizieren und mittels ihrer das Kino gegen den Vorwurf, es sei Schmutz und Schund, zu verteidigen.“ (Michael Rutschky, ´68 – die Kinogeher, Notizen aus dem Jahr ´68: Wie aus dem ‚schmutzigen Filmkonsum‘ eine legitime Kulturtechnik wurde. 2008)
Die Begeisterung für das Kino ist in der 68er-Veteranenliteratur nahezu durchgängig anzutreffen. Da finden sich ebenso die Attraktionen der Pop-Experimente Jean-Luc Godards wie die Liebe zu den trivialen Django-Filmen, das Faible für die harten Typen wie Eddie Constantine oder die stilisierten Gangsterfiguren aus dem Oeuvre Jean-Pierre Melvilles. Der Film Gegenschuss (2008) von Dominik Wessely und Laurens Straub zeigt, dass das Kinoprogramm in Rainer Werner Fassbinders „Action-Theater“ von Andreas Baader betreut wurde, zu dessen Favoriten The Wild One (1953) gehörte. Brandstifter (1969) von Klaus Lemke verströmt den Polit-Jargon der Zeit und zeigt die Nähe der Agitationsfilme zur Werbung. In seinem Essay „L’esprit de Mai“ spricht Luc Moullet von Filmen mit der „Gesinnung“ von „1968“, die es bereits Jahre zuvor gegeben habe – er nennt Pierrot le fou (1965) – und mindestens bis Mitte der 1970er Jahre geben sollte. In seiner Erzählung um den Narren und Träumer, den romantischen Abenteurer, hatte Godard die Struktur gelockert und den Film mit den Dingen der Außenwelt sinnlich angefüllt, eine Zeichenwelt, die der Film in der Bewegung streift: Autos und Werbeplakate, Bücher und Magazine, Agitationstheater und musikalische Performance, Tankstellen und Landschaften … Zu den „Gesinnungen“ von „1968“ zählt Moullet die Ablehnung der Ideen und Formen der Vergangenheit, die Präferenz für Tabula rasa: den Wunsch, die falschen Werte der Gesellschaft zu zerstören, die Absage an das Narrative, die Repräsentation sowie die Aufkündigung der Identifikation, schließlich die Reflexion auf geschlossene Milieus, die Tendenz zu militantem Dokumentarismus und einen selbstreflexiven Gestus der Filme.
Es war Godard, der die meisten dieser Ansätze erprobte. Fragen, wie man noch filmen könne und für wen, wozu es gut sei, und ob nicht jeder Film lächerlich sei im Vergleich zum echten Leben, scheinen zugespitzt auf jene Aussage, man sollte versuchen, nicht politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen („Que faire / Was tun?“ In: Afterimage 1970). In der Filmkritik führte dieser von ihm durchdeklinierte Klassenkampf zwischen zwei Linien zu einer Abrechnung mit jenem altmodischen Politikverständnis, das ein Film wie Costa-Gavras‘ Z (1968) beispielhaft vermittelte. Von nun an wird anders über Filme gesprochen, Psychoanalyse und Semiotik, Apparatus-Theorie und feministische Filmtheorie nehmen die Stelle der Ideologiekritik ein – Marx-Lacan-Freud: Le gai savoir – von Jean-Luc Godard: Émile Rousseau (Jean-Pierre Léaud) und Patricia Lumumba (Juliet Berto) treffen sich in einem Filmstudio und untersuchen Bild-Ton-Kombinationen, die sie voneinander isolieren und wieder zusammenfügen; in einem Dreijahresplan sollen Bilder und Töne gesammelt, auseinandergenommen und rekombiniert werden, und „erst fürs dritte Jahr sind ein paar Stücke ‚wiedergeborenen Films‘ in Aussicht gestellt. Das ist“, konstatierte Martin Schaub 1979, “in etwa das Programm Godards von 1968 bis 1971, wobei er sich nicht an die Stufenfolge halten wird.“
„Die Utopie wird immer besser …“
Es gibt die phantasievollen französischen Agitationsfilme der Ciné-Tracts (Flugblatt-Filme), auch Filme, die an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) entstanden sind und in denen sich Kampagnen der Bewegung antizipiert finden (Die Worte des Vorsitzenden und Nicht löschbares Feuer – von Harun Farocki, dessen „Traktat über Napalm-Produktion, Arbeitsteilung und fremdbestimmtes Bewusstsein von brechtscher Kargheit, lehrhaft im Stil, schneidend in der Diktion“ (Klaus Kreimeier, 1993) gut in das Kollektivunternehmen Loin du Viêt-nam gepasst hätte, oder Brecht die Macht der Manipulateure! und Eine Prämie von Irene – beide von Helke Sander, letzterer ein agitatorischer Kurzspielfilm über die doppelte Ausbeutung von Frauen an ihrem Fabrikarbeitsplatz und zu Hause. Die Idee, dass Filmemacher als Kollektiv auf politische Ereignisse reagieren und eine Gegen-Öffentlichkeit etablieren könnten – Deutschland im Herbst, Der Kandidat, Krieg und Frieden (BRD 1978/1980/1982) – hielt sich in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er, gerade Alexander Kluge war stets eine großer Verfechter solcher Projekte; sein Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1967/68) kann als veritabler 68er-Beitrag gelten, der die Situation des Künstlers und Intellektuellen in der Gesellschaft reflektiert: Leni Peickert, die Tochter eines verunglückten Trapezkünstlers, will die Ideen ihres Vaters fortentwickeln und einen „Reformzirkus“ gründen, sie muss einsehen, dass sie nicht Artistin bleiben kann, wenn sie freie Unternehmerin sein will. („Nur als Kapitalist ändert man das, was ist!“). Noch vor der Eröffnungsvorstellung liquidiert sie das Unternehmen, denn: „Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten.“ Mit ihren Mitarbeitern geht sie zum Fernsehen und schreibt nach Dienstschluss Romanserien. „Mit großen Schritten macht man sich nur lächerlich. Aber mit lauter kleinen Schritten könnte ich Staatssekretärin im Auswärtigen Amt werden.“
Pop als Gegenkultur indessen reicht von den Filmen Andy Warhols, Agnès Vardas und Godards bis zu den Münchner Sensibilisten wie Wim Wenders, Matthias Weiss und Gerhard Theuring. Mitte der siebziger Jahre folgt dem Aufbruch der Protestbewegung die Bilanz – auf der Suche danach, wo die Aufbruchsstimmung im Alltag geblieben ist, wo der 68er-Eigensinn steckt, die auch komödiantische Subversion der kapitalistischen Systembedingungen in der Folge – mit Jacques Doillons Les doigts dans la tête / Die Finger im Kopf (1975) und Alain Tanners Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird (1976), und 1981 erzählt Helke Sander in Der subjektive Faktor vom Entstehen der neuen Frauenbewegung. Mit dem Essayfilm Le fond de l’air est rouge (1977) formulierte Chris Marker seine Bilanz dessen, was von 1968 noch Bestand habe: historische Wahrheit ist fragwürdig, Geschichtsschreibung vergänglich und das Erinnerungsvermögen zuweilen trügerisch. Filme von „1968“ sind Zeitzeugen geworden, das Re-Enactment – das mit je veränderter Geschichtsauffassung einen Wandel durchmacht – fungiert im Rückblick als Kommentar von höchst unterschiedlicher Wertigkeit, wie eine Gegenüberstellung solcher Filme wie La maman et la putain (1973, Jean Eustache) oder Brandstifter (1969, Klaus Lemke) mit Les amants réguliers (Unruhestifter, 2004, Philippe Garrel) oder Dreamers (Die Träumer, 2003, Bernardo Bertolucci) zeigt.
Herbst der Gammler (1967, Peter Fleischmann) – ein Zeitbild der BRD der späten sechziger Jahre: Die Haltung gegenüber den „Gammlern“, dem damaligen Begriff für eine alternative Jugendkultur, ihrem Drang nach einem Ausbruch aus dem Konsumismus der Arbeitsgesellschaft, ist von solidem Hass geprägt, die Aggressivität, mit der Passanten hier prompt nicht allein von Hygiene und Männlichkeit, Sitte und Anstand, sondern gleich auch von Hitler, Arbeitslagern, Einsperren oder Ausweisen sprechen, zeugt von der enormen Provoziertheit des Kleinbürgers und der erschreckenden Geistesnähe des deutschen Faschismus. „Wenn deutsche Gammler arbeiteten, wären wir die Gastarbeiter los“. Ein anderer Konsumverweigerer des deutschen Films, der Protagonist von Zur Sache, Schätzchen (BRD 1967/68, May Spils), ebenfalls in München entstanden und erster Kassenerfolg des Neuen Deutschen Films, nimmt bereits etwas von der Studentenrevolte vorweg. Als er einen Polizisten provoziert, wird er von ihm angeschossen.
Extreme Gefühlszustände
Philippe Garrel, der bereits um den Mai 68 herum gefilmt hatte (Groupe Zanzibar), fasst in Les amants réguliers den Straßenkampf in sparsamen, schwarzweißen Tableaus, folgt einer Gruppe Jugendlicher während der Pariser Kämpfe, beim Opiumrauchen, bei der Kunst und der Liebe, bis sich die Gruppe wieder auflöst. Konserviert scheinen jene Ausnahmesituationen in individuellen Erfahrungen extremer Gefühlszustände. Bertoluccis The Dreamers nimmt sich dagegen wie ein nostalgischer Rückblick aus: ein Geschwisterpaar und ein junger Amerikaner, drei leidenschaftliche Cinéasten, begegnen einander, als die Cinémathèque nach der Entlassung von Henri Langlois schließt und es zu Demonstrationen kommt. Sie ziehen sich in die elterliche Wohnung zurück, wo sich aus Film-Ratespielen eine sexuelle ‚ménage à trois‘ entwickelt.