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Filmfestival Jihlava Kralove_Sumava

Filmfestival | Jihlava

Von Helden, Hühnern und mafiöser Politik

| Gunnar Landsgesell |
Im tschechischen Jihlava fand von 24. bis 29. Oktober zum 23. Mal das bedeutendste Dokumentarfilmfest Mittel- und Osteuropas statt. Ein Festival, das wie kein anderes Einblicke in unsere Nachbarländer erlaubt.

In einem Land, das vor 30 Jahren die “Wende” mitgemacht hat, gibt es viele Geschichten zu erzählen. Wobei „Geschichten“ etwas flach klingt, wenn man einen Film wie Kings of Šumava (Kralove Šumavy) sieht. Die aufwändig produzierte Kino-Doku, die auch mit Animationselementen arbeitet, spürt einem Mann nach, der während des kommunistischen Regimes Grenzpolizist im heutigen Nationalpark Šumava war, einer dicht bewachsenen Wald- und Moorlandschaft an der Grenze zu Deutschland. Über diese grüne Grenze schleuste Josef Hasil, der „König von Šumava“, wie er für diesen Film genannt wird, Dutzende Leute. Damals galt er als Verräter, es gelang ihm schließlich, selbst aus der Tschechoslowakei zu flüchten, während man 80 seiner Familienangehörigen zu insgesamt 180 Jahren Gefängnis verurteilte. Heute lebt Hasil in Chicago in einem bescheidenen Häuschen, vor einigen Jahren zeichnete ihn Präsident Vaclav Havel mit einer Medaille aus. Seinen Sohn, der bei einem Treffen ehemaliger Grenzsoldaten mehr über seinen Vater erfahren will, drängt man im Film hingegen aus dem Versammlungsraum. Ein dreckiger Schurke sei Hasil gewesen, ruft einer der Veteranen dem Sohn noch nach. Der meint nur lakonisch, nun habe er doch etwas über seinen Vater erfahren. Nach dem Film gibt es einen langen Applaus, man spürt die Spannung in der Luft.

Filme wie Kings of Šumava machen, gerade für Besucher aus dem Westen Europas, deutlich, dass Geschichtsschreibung und -aufarbeitung im Osten Europas viel aktueller ist, viel stärker in der Gegenwart verwoben ist und Schichten über Schichten hat, über die wir kaum wissen. Vielleicht hat man es in Tschechien wie auch im Film mit einer kleinen unbeirrbaren Gruppe wie den Veteranen vom Borderland Club zu tun, die sich mental einbunkern und die überkommene Diktatur schönreden. Vielleicht gehen die Bruchlinien aber noch stärker durch die Gesellschaft, als man glauben würde. Solche Gedanken kommen einem beim Besuch des Dokumentarfilmfestivals in Jihlava öfter. Und sie sind äußerst anregend, weil sie eine unmittelbare Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglichen. Jihlava ist das bedeutendste Dokumentarfilmfest des mittel- und osteuropäischen Raumes.

Knapp 300 Kurz- und Langfilme wurden heuer gezeigt, die Organisatoren zählten über 40.000 Besucherinnen und Besucher. Die Stadt selbst erzählt von Spannungen und Brüchen. Großteils noch von einer Stadtmauer umgeben, verblüfft die 50.000-Einwohner-Stadt mit einer gar nicht kleinen, von der Bausubstanz her gut erhaltenen Altstadt. Hier lebte Gustav Mahler und hier verbrannte sich auf dem großdimensionierten Stadtplatz, wie er in Wien nicht zu finden ist, der Arbeiter und Kommunist Evžen Plocek im April 1969 aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjets und die Niederschlagung des Prager Frühlings. Zuvor hatte Plocek noch Flugblätter verteilt: „Die Wahrheit ist revolutionär“ – Antonio Gramsci. Am Masaryk-Platz erinnert ein Gedenkstein an ihn. Vielleicht war Jihlava also ein idealer Ort, um eine Veranstaltung wie das Filmfest und den ebenso bedeutenden East Silver Market for Central and East European Films zu etablieren.

Festivalleiter Marek Hovorka gründete als 17-jähriger Gymnasiast das Filmfest, das nächstes Jahr die 24. Auflage erlebt. Als Hovorka damals einer Regisseurin erklärte, er wolle mit Freunden ein Filmfestival gründen, meinte sie, er sei verrückt, weil das viel Arbeit sei, und außerdem gäbe es das schon, und kaum jemand gehe hin. Heute schwirren in Jihlava eifrig die Festivalgäste durch die Straßen. Bemerkenswert ist, wie umtriebig das Festival sich zeigt. Eine Vielzahl an Diskussionen warten auf Gäste und Branche, es gibt das Industry Program und seit einigen Jahren eine Reihe, die „Emerging Producers“ vorstellt; und es finden Brunches statt, bei denen etwa Aktivistinnen und Aktivisten über Klimaerwärmung sprechen wie z.B. Isabella Salton von der brasilianischen NGO Instituto Terra, die sich für die Wiederaufforstung des Regenwaldes engagiert; oder die bulgarische Autorin Kapka Kassabova, deren jüngstes Buch „Die letzte Grenze: Am Rand Europas, in der Mitte der Welt“ von einem wenig bekannten Landstrich, Thrakien, erzählt, wo sie auf Schmuggler, Bauern und Wilderer trifft. Für Marek Hovorka ist es auch 2019 erklärter Auftrag, einen Dialog zwischen Ost- und Westeuropa zu suchen, bzw. durch deren Kinematografien.

Mit Cristi Puiu konnte Jihlava einen der Pioniere des rumänischen Kinos der Echtzeit als Juror gewinnen. Als traditionell einziger Juror der Reihe „Opus Bonum“ für internationale Dokumentarfilme entschied Puiu sich für die Gefängnis-Doku Fonja. Darin nehmen mehrere Insassen der größten Jugendhaftanstalt Madagaskars die Kamera selbst in die Hand und filmen ihren Alltag. In der Reihe „Between the Seas“ wurde der rumänische Film Profu (Teach) ausgezeichnet. Er folgt einem eigenwilligen Mathematiklehrer in Transsylvanien, der den offiziellen Schulbetrieb verweigert und seine Schüler zuhause unterrichtet. Den „Contribution to World Cinema-Award“ (alle Preise wurden heuer vom chinesischen Künstler Ai Weiwei kreiert) erhielt der 1962 in Kasachstan geborene Regisseur Sergey Dvortsevoy, dessen Film Ayka die Grenze von der dokumentarischen zur fiktionalen Form ganz selbstverständlich überschreitet. Sowohl Dvortsevoy wie auch Cristi Puiu hielten eine Masterclass, Puiu diskutierte die Frage: „Authentizität im Spielfilm – Kann Fiktion glaubwürdiger sein als Dokumentarfilm?“ Im Fall von Dvortsevoy’s Ayka würden wohl viele Kinobesucher diese Frage mit „ja“ beantworten. In einer dystopischen Odyssee kämpft sich darin eine Frau aus Kirgistan durch ein schneeverwehtes Moskau. Geschwächt durch eine Geburt und Nachblutungen, quält sie sich von einem Job zur Suche nach dem nächsten. Wie hier in einem schmutzigen Keller tote Hühner im Akkord gerupft werden, hat man im fiktionalen Kinobetrieb eher noch nicht gesehen. Im atemlosen Stil der Dardenne-Brüder folgt die Kamera der einzigen Schauspielerin des Films, Samal Yeslyamova, die in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Dvortsevoy greift ein Problem aus der russischen Wirklichkeit auf: Er habe erfahren, erzählt er, dass rund 250 kirgisische Frauen pro Jahr in Moskau ihre Babys nach der Geburt im Spital lassen. Auf Basis mehrerer Biografien hat Dvortsevoy eine an wenigen Tagen verdichtete Lebensgeschichte entworfen, deren Drehbuch vollkommen durch den Status der Illegalität bestimmt ist. Beim Gespräch erklärt der Regisseur, dass er lieber mit Laien arbeitet. Würden Schauspieler durch hohen Schnee gehen, sähe man sofort, wie sie das mit ihrem Gang vorgeben, während normale Menschen sich eher selbstverständlich durch den Schnee arbeiten. Um seine einzige Profi-Darstellerin Yeslyamova vor der Kamera zu bremsen, klebte man ihr Gipsstücke an die Beine und versuchte durch ähnliche Mittel, das Bild einer Frau am Ende ihrer Kräfte zu beschwören. Das Interesse am Verhältnis staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Reaktionen von Ayka deckt sich mit dem vieler anderer Filme in Jihlava. In diesem Fall geht es dem Regisseur die Problematik von einer Million Menschen, die ohne gültige Aufenthaltspapiere in Moskau leben, aufzuzeigen. „Sie reinigen die Stadt, versehen Dienste, aber die Leute nehmen sie gar nicht wahr, haben keine Ahnung, wie sie leben. Viele haben Papiere, aber fast alle sind gefälscht.“, so Dvortsevoy.

In einer ganzen Reihe anderer Filme werden die politischen Institutionen und Repräsentanten selbst thematisiert. Wer erinnert sich noch an Vladimir Meciar, slowakischer Premier, Nationalist und Ex-Boxer in einer Person? In Never Happened (Skutok sa stal) macht ihn die Regisseurin Barbora Bereznakova noch einmal zum Protagonisten von Ereignissen, die das Land erschütterten. Der Film fühlt der Ermordung von Robert Remias nach, der in seinem Auto 1996 mitten in Bratislava in die Luft gesprengt wurde. Auch wenn die wie ein Krimi inszenierte Erzählung letztlich ungelöst bleibt, umkreist der Film den Ex-Premier und den Geschäftsmann Marian Kocner als zwei potenzielle Drahtzieher dieses Attentats. Bereznakova beschwört in geisterhaften Bildern den Zustand eines Landes, der fast nahtlos zu jüngsten Ereignissen in der Slowakei überleitet. Als würde man eine Fortsetzung sehen, begegnet einem in The State Capture (Ukradeny stat) noch einmal das politische Establishment der Slowakei als moralischer Sumpf. Thema ist diesmal die Ermordung des slowakischen Wirtschaftsjournalisten Jan Kuciak, die zu den größten Protesten in der Slowakei und dem Rücktritt von Premier Fico und einiger Minister geführt haben. Und wieder taucht hier der Geschäftsmann und Multimillionär Marian Kocner auf, der mittlerweile zu einem Sinnbild für die enge Verflechtung staatlicher Akteure und der organisierten Kriminalität geworden ist. In einem geradezu surrealen Reigen an Interviews mit einem Dutzend ehemaliger Geheimdienstler wandelt Regisseurin Zuzana Piussi auf plausiblen und wohl auch falsch gelegten Spuren, die diese für ihr Publikum legen. The State Capture erscheint geradezu zentral, um die kriminellen Klüngel aus der alten Nomenklatura und den Geschäftsleuten, die in engen Allianzen groß geworden sind, zu begreifen. Der slowakische Geheimdienst SIS spielt dabei eine zentrale Rolle. Er vermittelt Geschäfte, verkauft Informationen, setzt Politiker unter Druck oder erpresst sie. Es wird von geheimen Sexvideos erzählt, die von Politikern zwecks Erpressung aufgenommen wurden, und wie zum Beweis werden der Regisseurin solche auch zur Sichtung angeboten. Ob es sie wirklich gibt oder auch diese Behauptungen nur Scheinmanöver sind, kann Piussi nicht klären. Und auch Medien geraten offenbar leicht in diesen Sumpf. Ein Kollege Kuciaks spricht darüber, dass angebotene Informationen von Redaktionen gekauft werden, um sie entweder der Öffentlichkeit zu präsentieren oder aber, um sie im Giftschrank verschwinden zu lassen. Dass man dabei der Spielball des Geheimdienstes ist, scheint fast unumgänglich. Es ist ein Spiel, sagt einer der ehemaligen SIS-Leute einmal. Ein Film, der einem trotz Desinformationen und irrer Verflechtungen das Gefühl gibt, mehr von den Ränkespielen der ehemaligen Teilrepublik Tschechiens zu verstehen.

Auch wenn das Filmfest Jihlava sich nahezu allen filmischen Formen widmet, ermöglicht es viele solcher Momente, in denen das Kino ein Licht auf politische Institutionen und die Zeitgeschichte wirft, die im Westen eindeutig unterbelichtet sind.

www.ji-hlava.com