ray Filmmagazin » Filmmuseum » Seid umarmt, ihr Birken!

Wiener Festwochen – Seid umarmt, ihr Birken!

Seid umarmt, ihr Birken!

| Gunnar Landsgesell |

Wassili Schukschin, russischer Film-Volksheld und Autor, versuchte in den Sechziger und Siebziger Jahren, die bäuerliche Welt in fünf abendfüllenden Filmen zu retten und war sich der Vergeblichkeit seines Unterfangens durchaus bewusst. Das Filmmuseum zeigt im Mai in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen Schukschins im Westen bis heute praktisch unbekanntes Werk.

Die ersten Manuskripte von Kurzgeschichten retourniert eine Moskauer Zeitschrift irrtümlich an Wassili Schukschins Onkel, der sich nur durch den Mittelnamen unterscheidet. Maksimowitsch ist Analphabet und dennoch dankbar für die Papiere. Er rollt sich Zigaretten daraus und vernichtet so die ersten literarischen Schriften des später in der Sowjetunion höchst populären Autors, Regisseurs und Schauspielers. Ob geschickte Mythospflege oder die reine Wahrheit – Episoden wie diese, von Schukschin selbst verbreitet, zeugen von einem seltsamen Missverhältnis von Stadt und Land. Das Kommunikationsdefizit outet die leichtfertige Arroganz des Großstädters auf der einen, und den Bildungs-, ergo Modernisierungsverlierer auf der anderen Seite. Betrachtet man Schukschins schmales Werk als Regisseur von fünf Lang- und zwei Kurzfilmen, so findet sich damit bereits sein zentraler Handlungsrahmen.

Wie kaum ein westlicher Filmemacher der Sechziger Jahre entwirft Wassili Schukschin eine soziale Kartografie des ländlichen Raumes. Ohne die sakrale Überhöhung Pasolinis oder die Beschwörung des Archaischen unterwirft er seine durchwegs geradlinigen Protagonisten einer Gleichzeitigkeit von Alt und Neu und macht so gesellschaftliche Problemzonen deutlich. Petschki-lavotschki / Reisebekanntschaften / Happy Go Lucky (1972/73), Schukschins vorletzter Film, besteht vor allem aus einer langen, begegnungsreichen Reise. Die Zugfahrt eines bäuerlichen Ehepaares aus der südsibirischen Region Altai, aus der auch Schukschin stammt, in den Südwesten Russlands zur Kur, formt der Autor zur Lektion über die moderne, urbane Welt. Beschleunigt durch die Fahrtbewegung (Landschaft zieht vorbei, wird bezugslos überwunden), zugespitzt durch die Enge des Raumes (ein verkehrsreiches Zugabteil) setzt Schukschin den von ihm dargestellten Bauern Iwan verschiedenen Wahrnehmungs- und Reaktionsproben aus. Fern verlässlich gefügter Ordnungen dörflicher Gemeinschaften und ihrer – zuvor ausführlich gezeigten – Festriten kann es schon vorkommen, dass Iwan einen Mitreisenden, der zuerst das „klemmende“ Schloss eines Koffers aufbricht und daraus freimütig Geschenke verteilt, nicht als Dieb erkennt; und den danach ins Abteil eintretenden Professor – nunmehr misstrauisch über dessen Rede – wiederum für einen Dieb hält. Schukschin grenzt – fast eine Methode – den dummen vom einfachen Menschen ab, konterkariert seine derbe Art konsequent durch ein auffälliges Maß an Sensibilität und rehabilitiert ihn durch die ihm eigenen sozialen Techniken. Als der Professor, der sibirische Dialekte erforscht, den Bauern auf Zwischenstation in seiner Großstadtwohnung auffordert, in einer kleinen privaten Runde über das Landleben zu erzählen, spürt der Mann die Dünkel gesellschaftlicher Unterschiede. Er pariert die Aufforderung mit einer unernsten Episode. Der Professor zollt ihm Respekt: Humor habe eine lange Tradition in Russland.

So ernsthaft und beharrlich Schukschin seine Arbeiten mit Aufnahmen von Feldern, Flüssen, bedeutsamen Markierungen besiedelter Natur eröffnet, so bedingungslos hält er an einer zuweilen forschen Gewitztheit als Leitton seiner Erzählungen fest. Das Amüsement, das seine Figuren beständig aufbringen, lässt oft erst spät erahnen, welch tiefe Besorgnis ihnen unterliegt; welches Ausmaß der Anteilnahme sie am Ende beim Publikum erwirtschaftet haben. In Schukschins letztem Film Kalina krasnaja / Roter Holunder (1974) reist ein Dieb (erneut von ihm selbst dargestellt) nach seiner Haftentlassung zur Familie einer Frau, die mit ihm einen regsamen Briefverkehr unterhalten hat, in den Altai. Die verschiedenen Begegnungen des Mannes mit den Eltern oder dem Bruder der Frau erwecken den Eindruck eines recht derb ausgetragenen Kräftemessens, immer steht dabei aber die Option schalkhafter Verstrickungen im Raum. Die Moral der schon gebückten Eltern steht da schnell genauso zur Disposition wie die unbekannte Schuld des Mannes selbst. Die schließlich von allen Seiten herzhaft vorangetriebene Resozialisierung des Burschen wird am Ende von der alten Gangsterbande hintertrieben, die plötzlich wieder auftaucht. Wie ein Schlund öffnet sich in einer letzten narrativen Wendung das Geschehen, verschluckt seinen liebsten Akteur und gibt dem Publikum etwas frei, das den Reiz des Volkshelden Schukschin wesentlich ausgemacht haben dürfte: die freistellende Anarchie der Humoreske, als erzählerische Strategie gepaart mit dem Grundton der Elegie. Wo ein aus dem russischen übersetzter Katalogtext der Berlinale 1975 von „beseelten, poetischen Birken“ berichtet, die der Dieb Jegor nach seiner Enthaftung symbolhaft (als nationales Zeichen für Russland ebenso wie für Frauen) als erste Geste der Freiheit umarmt, ist das lyrisch gehaltene Totenlied, eine Ahnung über das Absterben bäuerlicher Kultur, nicht weit. Dazu tragen Sinnbilder wie eine mysteriöse „Weiße Frau“ in der Erzählung einer alten Bäuerin, die vom Ausbruch und Massensterben des Ersten Weltkrieges kündet, ebenso bei wie die andernorts illustrierte Unbeholfenheit zweier mittelalter Menschen, die der junge, gewandte LKW-Fahrer (erneut Schukschin) in Schiwjot takoj paren / Es lebt so ein Bursche (1964) zusammenführen und verkuppeln will. Es fällt den ungelenken Leuten nicht leicht, sich in einer rotierenden Welt zurechtzufinden.

Systemkritik wird Schukschin in der spärlich verfügbaren, westlichen Literatur immer wieder hoffnungsfroh zugeschrieben, nimmt sich aber nicht als fundamentales Element in seinem Schaffen aus. In Wasch syn i brat / Euer Sohn und Bruder (1966) lebt ein sibirischer Bauer mit seiner Frau und zwei Söhnen auf einem Hof. Der dritte Sohn sitzt im Gefängnis und entflieht – durchaus ehrbar dargestellt – für einen Ausflug aus Wehmut zu seiner Familie und in „sein“ Land. Der vierte Sohn ist Artist eines großen Zirkus in der Stadt. So gesehen kein Nobody, kann er durch einen Anruf der rheumageplagten Mutter das Schlangengift besorgen, für das der andere Sohn erfolglos von Apotheke zu Apotheke gewandert ist. Ein kurzes Moment von Privilegien und Bonzentum liegt in der Luft, Schukschins Interesse an der menschlichen Verfasstheit und dem gesellschaftlichen Wandel würde so eine Reduktion der Perspektive aber nicht gerecht. Die Frage, wie sich die Bevölkerung aus der Peripherie in der Selbstorganisation der Stadt zurechtfindet, ist ebenso bedeutsam wie – der Vater spricht es aus – die grundsätzliche Haltung, für ein angenehmeres Leben eben eine solche aufzugeben. Schukschin fordert mit einer Vielzahl solcher episodisch bis miniatürlich eingebauten Denkangeboten das Publikum heraus. Schon als gewitzter LKW-Fahrer, der auch den Arbeiterheldentod bei Gefahr nicht scheut, reagiert Schukschin in Schiwjot takoj paren sensibel, wenn die gesellschaftliche (benachteiligte) Position zu Respektlosigkeit einlädt. Aufgrund einer unpassenden Bemerkung verlangt er vom Ehemann einer Frau, die er ein Stück des Weges mit  dem Lastwagen mitgenommen hat, plötzlich Geld für seine „Taxifahrt“. Diese Achtsamkeit gegenüber dem Publikum zeichnet auch Schukschins Filme (und wahrscheinlich Bücher, die er zumeist chronologisch verfilmt hat) auf ganz besondere Weise aus. Im Jahr 1974, kurz nach der Fertigstellung seines ungestümen, die Natur umarmenden Meisterwerks Roter Holunder ist Schukschin gestorben.

 

Dank an Victoria Froltsova für die Übersetzung der Filme und die interessanten Gespräche.