Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve über ihren Spielfilm „Le Père de mes enfants“ / „Der Vater meiner Kinder“.
Auch wenn das spezifische Fördersystem zuletzt etwas kriselte, bezieht die Kinonation Frankreich viel Renommee daraus, Regie-Nachwuchstalenten die Möglichkeit zu geben, persönliche Themen und Erzählstile zu entwickeln. Die bisherigen beiden Langspielfilme von Mia Hansen-Løve, gerade eben 30-jährig, sind dafür Vorzeige-Exemplare. Beide erzählen aus dem Blickwinkel von heranwachsenden jungen Mädchen vom Zurechtkommen mit einer verschwindenden Vaterfigur, beide streben einer lebensfroh optimistischen Auflösung entgegen. Der dabei gegensätzliche Aspekt: In Tout est pardonné (2007) war der Familienvater ein introvertiert apathischer, der hartnäckig in Drogen flüchtete.Nun, in Le Père de mes enfants, ist er ein liebevoll hyperaktiver, der bloß kaum jemals Zeit hat, weil er stets ans Telefon gefesselt ist, um eine ambitionierte Arthouse-Filmproduktionsfirma zwischen Verschuldung und künstlerischem Anspruch zu führen – bis ihm alles fatal über den Kopf wächst und seine Familie zurückgelassen gleichsam vor einem Scherbenhaufen steht. Qualitätsvolles Understatement kennzeichnet die Inszenierung: Viel Raum zur Entfaltung erhalten die jugendlichen Darstellerinnen, juvenil neugierig ist der Blick auf einen großstädtischen Alltag – hier auf ein zentrumsnahes Paris, wie man es so kaum je im Kino repräsentiert sieht. Für diejenigen, die sich für Strukturen des europäischen Filmgeschäfts sehr interessieren, ist Le Père de mes enfants eine große Hommage an den national wie international berühmt gewordenen Arthouse-Filmproduzenten Humbert Balsan (1954–2005); und er ist auch gespickt mit kinobezogenen Anspielungen. Allgemeiner gesehen, ist er eine – und dafür seit der erfolgreichen Premiere in Cannes 2009 auch international bereits viel gelobte – leichtfüßige Erforschung von kontinentaleuropäischen Familienverhältnissen, von kleinen Zwischentönen, von kulturellen Einbettungen.
Der Titel mag es nahe legen, aber es wäre wohl zu kurz gegriffen, Le Père de mes enfants rein als Familiendrama zu beschreiben?
Ich sehe die Mehrdeutigkeit in der Verwendung des Begriffs „Familie“ im übertragenen Sinn, anwendbar auf eine spirituelle Familie, auf eine Produktionsfirma, auf die kleine Welt der Kinobranche. Die zentrale Frage, die aufgeworfen wird: Wie wird die „Seele“ dieses Mannes, den ich porträtiert habe, überleben? Über seine Familie, über seine Arbeit? Die bekräftigende Antwort: Nicht nur in seinen Projekten liegt sein Erbe, sondern auch immateriell, in seiner Einstellung, seiner Haltung.
Le Père de mes enfants könnte ohne große Abänderungen auch von einem Architekten handeln, der sich mit Hausprojekten verspekuliert.
Darin sehe ich eine legitime zweite Lesart. Und es ist interessant, da in meinem nächsten Film – Un amour de jeunesse wird vom Umgang mit der ersten großen Liebe erzählen (und ist mittlerweile in der Postproduktion, Anm.) – Architektur eine tragende Rolle spielen wird. Als ich das Drehbuch für Le Père de mes enfants vorstellte, traf es mehrfach auf kritische Stimmen, die meinten, wen sollte eine Geschichte aus einer so kleinen, zentralisierten Welt wie der des französischen Kinos denn schon interessieren. Meine Gegenfrage: Warum sollte es nicht möglich sein, auch anhand dieses spezifischen Milieus etwas universell Gültiges zu vermitteln – warum nicht ebenso wie anhand anderer kleiner Berufsfelder?
Beide Ihrer Filme beinhalten ein zentrales Reisemotiv, und beide sind Koproduktionen – wohl kein Zufall?
Das hat vielleicht mit meiner Familie zu tun: Meine Mutter ist Französin, mein Vater halb dänisch, halb österreichisch; und ich war immer schon inspiriert von der Idee, dass eine Tradition sich nicht aus einer Kultur allein speist. Und vorerst kann ich mir auch nicht vorstellen, jemals einen Film zu machen, der pur französisch wäre – etwa was die Besetzung betrifft. Ich arbeite gern auch außerhalb des Landes, ich mag es, Sprachen zu mischen. Reisen heißt zum einen Schauplatzwechsel: Tout est pardonné begann in Wien und endete in Paris – analog zu meiner Jugend –; nun ging es weiter nach Italien. Aber ich habe diese Bewegung auch auf die Erzählung angewendet: Zu Beginn liegt der Fokus ganz auf dem Familienvater, dann bewegt er sich zu dessen italienischer Frau, gespielt von Chiara Caselli, schließlich zu ihren gemeinsamen Töchtern.
Wobei der geografische Kontrast der Reise bemerkenswert wirkt: von einem verwinkelten, geschäftigen Paris – wo eigentlich genau? – zur Basilika Sant’Apollinare in Classe in Ravenna mit ihren berühmten frühbyzantinischen Mosaiken.
Die Wahl des Pariser Bezirks war wichtig: eben kein „Quartier des grands boulevards“. Er liegt zwischen République und Opéra, ist alt und ziemlich beschädigt, ohne Touristen, sehr durchmischt mit Geschäften und Büros, mit viel Straßenleben, ein Alptraum zum Parkplatzsuchen, erst recht für Dreharbeiten. Das ruhige Ravenna als Kontrast nützt der Vater dafür, sein Interesse an Kunst- und Kulturgeschichte weiterzugeben: Ich habe die Kirche gewählt wegen der Schönheit der Fresken, ihrer Frische und Unschuld, der einzigartig intakten Farben. Für die Frage des Verhältnisses von Zivilisation und Natur dient ein anderes Ausflugsziel, eine mittelalterliche Kapellenruine, total vergessen mitten in Frankreich im Wald; ich kenne sie nur dank einer Bekannten, die dort wohnt. Ich baue gerne vergessene romantische Schauplätze ein: ein poetisches Element, das aber auch dazu dient, Erinnerungen zu schaffen, die bei einem neuerlichen Besuch abgerufen werden können.
Wenn dort der Vater aus der Geschichte der Tempelritter erzählt, hat man das Gefühl, dass er verdeckt über sich selbst redet – eine Gleichnis-Rhetorik, nicht unüblich in großbürgerlichen Kreisen?
Natürlich dachte ich beim Schreiben daran, in Bezug auf Humbert Balsan, der mir wie vielen anderen jungen Regisseuren zwischen Kurzfilm und erstem Langfilm als Produzent mit Empfehlungen sehr viel geholfen hat – und der in jungen Jahren in Robert Bressons Lancelot du lac selbst einen „Chevalier“, den Gawein, spielte. Film bedeutete für ihn wohl eine professionelle Flucht vor seiner Industriellenfamilie, ausgeprägt „chevalierhaft“ war sein Interesse an Koproduktionen mit fernen Ländern und Kulturen. Aber ich habe bei der an ihn angelegten Filmfigur einiges bewusst abgeändert oder erfunden – privat wie beruflich –, einfach weil ich nicht viele zuverlässige Informationen über ihn hatte. In seinem Charme und aristokratischen Auftreten war er jedenfalls Louis-Do de Lencquesaing, dem Hauptdarsteller, ähnlich, und auch hier gibt es das Motiv der Weitergabe: Alice, die die Älteste spielt, ist auch in Realität die Tochter von Louis-Do. Den Kindern viel Raum zu ihrer Entfaltung zu geben war mir generell sehr wichtig. Mit dem – noch sehr jungen – Kameramann Pascal Auffray bin ich übereingekommen, sehr viele Filmmeter zu investieren, damit die Kinder sich ihre Szenen anhand von Stichworten und wenigen Bewegungen durch Improvisation selbst erarbeiten. Ein Mehraufwand, der, finde ich, sich gelohnt hat: Einige der kleine Pointen gegen Filmende standen so nicht in meinem Drehbuch, entstanden ganz aus dem spielerischen Zugang der Kinder.
Wobei der Ansatz, konsequent das Alltägliche in der Dramatik des Filmbetriebs wie des familiären Verlusts zu schildern, von Beginn an vorgesehen war?
Ich wollte bewusst das Alltagsleben des Filmemachens abbilden, nicht dessen glamouröse Seiten, mit denen ich auch nicht so vertraut bin. Freiwillig weggelassen habe ich all die stereotypen Szenen aus Filmen über Filme: die Sets, die Scheinwerfer, den roten Teppich. Vielleicht wird das eine Stärke: Filmarbeit so zu zeigen, wie es noch nie passierte. Zur Geschäftsatmosphäre gehört die Enge im Büro mit dem Dauerlärm von der Straße, auch – das wurde mit dem Setdesigner extra ausgearbeitet – mit der geheimen Fluchttreppe vor Gläubigern und Bittstellern. Der Dreh selbst im letzten Geschoß eines leeren Altbaues – halb zerlegt, weil im Umbau – war abenteuerlich bis gefährlich: Stoff für einige Anekdoten.
A propos anekdotisch: Welcher Bezug besteht zu dem Film-im-Film-Ausschnitt? Und zu den auffälligen, künstlichen Filmplakaten in den Räumen des Produktionsbüros, darunter, für uns eine Überraschung, dem der Viennale-Retrospektive von 2007?
„Der Weg der Termiten“? Sicher ist es eine Botschaft, dass ich Farbers These über subversives Unterwandern der Industrie für die gezeigte Produzentenarbeit sehr passend halte. Vor allem aber wurde es gewählt, weil ich beim darauf abgebildeten Film, Gorins Poto and Cabengo, sehr schätze, wie er Kindheit in Szene setzt. Bei dem Ausschnitt aus Versailles – von Pierre Schöller, wie meiner von Les Films Pelléas produziert – gefiel mir, auf welch fragile Weise darin ein kleiner Junger begleitet wird, wie er seine Einsamkeit überwindet. Und ist Ihnen das „Tristan und Isolde“-Plakat aufgefallen? Zum einen ist es eine Hommage an Rohmers Les Amours d’Astrée et Céladon, zum anderen posiert darauf Constance Rousseau, die junge Hauptdarstellerin meines ersten Films. Das ist nichts Wichtiges – aber es hat Spaß gemacht, uns fiktive Filme und ihre Plakate auszudenken, und wir sehen das als kleines Extra-Geschenk für Teile des Publikums.