Gravierende Kunstfehler, Erhellende (wissenschafts-)historische Hintergründe zum „Fall“ Sabina Spielrein
Der ganze Komplex der Behandlung der Hysteriepatientin Sabina Spielrein durch C.G. Jung, die sich daraus ergebende Affäre und die Hinzuziehung von Sigmund Freud ist in die Wissenschaftsgeschichte als „Spielrein-Fall“ eingegangen. Es handelt sich um eine Art Schulbeispiel für Themen wie „Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie“, „Verführungstheorie“ und ihre „Grenzüberschreitungen“, und im Gegenzug die therapeutische Rolle einer „übertragenen“ bzw. „keuschen“ Verführung im Psychoanalytischen Prozess.
„A Most Dangerous Method“ nach der gleichnamigen Monografie von John Kerr (1994) handelt von einer tragischen Übertragungsliebe zwischen einer Patientin und ihrem Analytiker. Es ist eine exemplarische Tragödie, weil sie zeigt, wie der Analytiker, der die Liebesenergien seiner Patientin provozieren und deuten soll, doch keineswegs beantworten darf, gewissermaßen eine Gratwanderung vollbringt auf dem „Königsweg zum Unbewussten“, auf einmal aktiv wird und der Patientin seine Liebe gesteht. Gefährlich wurde die „Methode“ für beide Beteiligten. Sigmund Freud komplettiert die Trinität als beider Beichtvater-Instanz, als Tröster und Helfer, der aber durchaus eigene Leidenschaften verfolgte. Die Geschichte erzählt auch von der Komplizenschaft zweier Männer im Interesse der doppelmoralischen Aufrechterhaltung von Karriere und Ehe, vor allem gibt sie eine Vorstellung von einem gravierenden Kunstfehler C.G. Jungs, dem Freud-Schüler, der von seinem Lehrer, um öffentlichen Skandal zu vermeiden, gegen die Geschädigte gedeckt wird. Einmal mehr bezahlte eine Patientin der ersten Stunde das Lehrgeld der Psychoanalyse. Weiters handelt „A Most Dangerous Method“ entlang des Spielrein-Falles auch vom Aufstieg und Fall der Freud-Jung-Beziehung. Erste Quelle neben den Spielrein-Tagebüchern ist jener Briefwechsel, der szenisch-dialogisch transformiert wurde.
Bis 1980 war Sabina Spielrein in der psychoanalytischen Literatur lediglich durch vier Fußnoten im Werk von Sigmund Freud vertreten sowie mehrfach im Briefwechsel zwischen Freud und Jung (1974). Das änderte sich, als man Ende der 1970er Jahre Spielreins Korrespondenzen mit Freud und Jung sowie ihre Tagebücher von 1909 bis 1912 in Genf entdeckte. Damals verursachte die Entdeckung einer Liebesbeziehung zwischen Jung und einer Patientin Aufsehen, zumal Jungs Briefe zunächst nicht publiziert werden durften. Das verdeckte anfangs den Blick auf die Frau, die von einer Patientin zur Ärztin und Pionierin der Psychoanalyse avancierte und als allererste Frau, mit Fürsprache Freuds, in den „Jahrbüchern“ publizierte. Nach der ersten psychoanalytischen Dissertation einer Frau entwickelt sie eine Theorie, wonach der Sexualtrieb aus zwei antagonistischen Komponenten bestehe, also ebenso ein Werde- wie ein Destruktionstrieb sei – „Die Destruktion als Ursache des Werdens“. Diese wurde von Freud zunächst infrage gestellt, Jahre später jedoch sollte er in „Jenseits des Lustprinzips“ den Begriff des Todestriebes von Spielrein aufgreifen und ihr in einer Anmerkung ein Miniaturdenkmal setzte.
Supervision aus der Ferne
Die kaum neunzehnjährige Sabina Spielrein, Tochter aus vermögender jüdisch-russischer Kaufmannsfamilie aus Rostow, wurde am 17. August 1904 in völlig aufgelöstem Zustand, von Zuckungen und hysterischen Schüben geschüttelt, in die legendäre Burghölzli-Klinik bei Zürich eingeliefert, ihr stationärer Aufenthalt dort endete am 1. Juni 1905. Der zuständige Arzt, C.G. Jung, der mit Spielrein erstmals das Analyseverfahren, die Freud’sche Redekur, praktizierte, setzte die Behandlung privat fort, während sie ihr Medizinstudium in Zürich absolvierte. Jung hatte ihr die Diagnose einer „psychotischen Hysterie“ gestellt, trug ihren Fall als „Material“ auf dem 1. Internationalen Kongress für Psychiatrie und Neurologie in Amsterdam 1907 vor – der erste Auftritt eines Analytikers vor versammelten Psychiatern, die Jung mit aggressiver Abwehr begegneten – und veröffentlichte ihn unter dem Titel „Über die Freudsche Hysterietheorie“. Von Freud selbst erbat er eine Beurteilung, quasi eine Supervision aus der Ferne. Für Jung, der nie selbst eine Analyse absolviert hatte, ersetzte die Korrespondenz mit dem Lehrmeister Freud, der Vaterfigur, nur unzureichend die Lehranalyse und zog doch all deren bekannte Probleme nach sich: Widerstand und Übertragung. Der lange Briefwechsel geriet zunächst immer freundschaftlicher, besonders nach der ersten Begegnung in Wien, bei der sie dreizehn Stunden lang miteinander sprachen. Freud schien sofort für Jung „entflammt“ und bestimmte ihn zum Sohn und Kronprinzen, aber theoretische wie persönliche Gründe liefen nach Jahren auf die Trennung hinaus. „Jetzt stand es mir klar vor Augen. Er (d.i. Freud; Anm.) hatte selber eine Neurose und zwar eine wohl diagnostizierbare mit sehr peinlichen Symptomen, wie ich auf unserer Amerikareise entdeckte.“ (Jung) „Vaterkomplex“ ist das Stichwort, einst von Freud an Jung als psychischen Widerstand festgestellt, dann Jung gegenüber als Schwäche des symbolischen Vaters, also als eigenen Mangel empfunden. Freud sollte seine eigene Vaterfantasie in Totem und Tabu zum Ausdruck bringen. Selbst die Figur des Vaters der Sohnes-Anhänger-Horde, beschreibt Freud, was er von Jung fürchtete: verdrängt und getötet zu werden. Zwei Momente, die in den Erinnerungen von Jung berichtet werden, zeugen davon: Als Freud und Jung 1909 auf dem Schiff nach Amerika reisten, erzählte Jung von mumifizierten Moorleichen, die bei Bremen gefunden worden waren, worauf Freud ohnmächtig zu Boden fiel. Hinterher erklärte er, diese Rede von Leichen habe für ihn die Bedeutung gehabt, dass Jung ihm den Tod wünsche. 1912 auf einer Versammlung in München – ihre Beziehung war bereits gespannt – kollabierte Freud erneut, als jemand über Amenophis IV sprach, der den Namen seines Vaters auf den Stelen habe tilgen lassen. Dieselbe Vatermord-Fantasie.
„Da Sabina während ihrer Kindheit sehr krank gewesen war – mit Zwangsvorstellungen bezüglich der Defäkation, einer Tendenz zu nervösen Lachanfällen und mit sexueller Erregung beim Anblick der Hände (der rechten Hand, der Züchtigungshand) ihres Vaters – hätte man erwarten können, dass Jung bei ihr eine Episode echter Schizophrenie diagnostizieren würde. Mit dieser Anamnese hätte er größte Vorsicht walten lassen müssen“ (Christa von Petersdorff). Als Jung aus moralischen Skrupeln und Angst um einen Skandal seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Spielrein im Februar 1909 ein Ende setzen wollte, wobei er sie beschuldigte, sie habe ihn zu dieser Liaison gezwungen, suchte sie ihn mit einem Messer bewaffnet auf, oder ohrfeigte ihn, sie wisse es nicht mehr genau – schreibt sie in ihr Tagebuch.
Heilung durch Liebe
„Ihnen wird es nicht entgangen sein, dass unsere Heilungen durch die Fixierung einer im Unbewussten regierenden Libido zustande kommen (Übertragung), die einem nun bei der Hysterie am sichersten entgegenkommt“, schrieb Freud Ende 1906 an Jung, während dieser mitten in der Therapie seines ersten Analysefalls steckte. „Diese gibt die Triebkraft zur Auffassung und Übersetzung des Unbewussten her; wo diese sich weigert, nimmt sich der Patient nicht die Mühe oder hört nicht zu, wenn wir ihm die von uns gefundene Übersetzung vorlegen. Es ist eigentlich eine Heilung durch Liebe.“ Mit diesen heute offensichtlichen Zusammenhängen beschrieb Freud erstmalig das Wesen der Übertragung. In der Zuneigung des Patienten zu seinem Arzt können jene Gefühle wieder wach und von neuem durchlebt werden, die früher im Unbewussten verblieben und krankheitsauslösend waren. Die Liebe eines erwachsenen Menschen, in die hinein die vergessenen, immer noch verheerend wirkenden Leidenschaften und Ängste des Kindes übertragen werden und damit ins Bewusstsein treten, kann der Weg der Heilung sein. Befriedigung finden kann diese Liebe nicht, ihre Energien gehören dem Analysanden, und es ist ein fataler Behandlungsfehler, wenn der Analytiker, seines eigenen Narzissmus nicht bewusst, deren Verführungsmacht auf seine Person bezieht, geschweige denn ihr erliegt. Die Leidenschaften des Patienten sind etwas, womit der Analytiker zu arbeiten hat; sexuelle Beziehungen mit jenem einzugehen, ist in der psychoanalytischen Methode mit institutionellem Tabu belegt. Die von Freud formulierte Forderung ging als „Abstinenzregel“ in die analytische Methodik ein.
„Zu guter Letzt oder vielmehr zu schlimmer Letzt nimmt mich gegenwärtig ein Komplex furchtbar bei den Ohren“, klagt Jung seinem Lehrmeister am 7.März 1909, „nämlich eine Patientin, die ich vor Jahren aus schwerster Neurose herausgerissen habe, hat mein Vertrauen und meine Freundschaft in denkbarst verletzender Weise enttäuscht. Sie machte mir einen wüsten Skandal ausschließlich deshalb, weil ich auf das Vergnügen verzichtete, ihr ein Kind zu zeugen. (…) Sie wissen es ja, dass der Teufel auch das Beste zur Schmutzfabrikation verwenden kann. Ich habe dabei unsäglich viel gelernt in der Weise der Eheführung, denn bislang hatte ich von meinen polygamen Komponenten trotz aller Selbstanalyse eine ganz unzulängliche Vorstellung. Jetzt weiß ich, wo und wie der Teufel zu fassen ist.“ Aus der Wiener Berggasse 19 antwortet Freud postwendend: „Von jener Patientin, die Sie die neurotische Dankbarkeit der Verschmähten kennengelehrt hat, ist eine Kunde auch zu mir gedrungen. (…) Verleumdet und von der Liebe, mit der wir operieren, versengt zu werden, das sind unsere Berufsgefahren, derentwegen wir den Beruf wirklich nicht aufgeben werden. Navigare necesse est, vivere non necesse. Übrigens: ‚Bist mit dem Teufel du und du / und willst dich vor der Flamme scheuen?‘ So ähnlich sprach doch der Herr Großvater. Ich komme auf dieses Zitat (d.i. Goethes Faust I, 2585-86; J.B.), weil sie in der Darstellung dieses Erlebnisses entschieden in den theologischen Stil verfallen.“
Fundamentalgeständnis
Sabina Spielrein suchte weiterhin den Kontakt zu Freud, zu dem sie, wie zu Jung, gute Beziehungen pflegte. Die Korrespondenz zwischen dem Patriarchen der Lehre und seinem anfänglichen Meisterschüler, der in den Augen des Vaters zum Abtrünnigen wurde, also als Partner verworfen und zum Patienten degradiert, währte neun Jahre und zeugte 359 Briefe. („Das dramatischste Dokument, das die Geschichte der Analyse zu bieten hat“ – so Alexander Etkind.) „Mein persönliches Verhältnis zu Ihrem germanischen Heros ist definitiv in die Brüche gegangen.“ So Freud, ironisch distinguiert wie stets, zu Spielrein, die, auch als die intime Beziehung zu Jung beendet war und nur mehr fachlicher Kontakt bestand, weiter davon geträumt haben soll, ein von Jung gezeugtes Kind zu haben, das den Namen „Siegfried“ tragen und die Vorzüge von Ariern und Semiten zugleich in sich vereinen sollte. Sie hat es Freud anvertraut. 1911 fing Jung ein neues Verhältnis mit einer Patientin an; Sabina Spielrein schuf indes quasi ihr „Sublimat“, jene Studie, die erörtert, wieso der Sexualtrieb nicht rein Lust, sondern auch negative Gefühle hervorruft, und präsentierte es Jung: „Empfangen Sie nun das Produkt unserer Liebe, die Arbeit, Ihr Söhnchen, Siegfried. Das hat eine Riesenmühe gegeben, aber für Siegfried ist mir nichts zu schwer …“ – Christopher Hampton lässt auch im Skript zu A Dangerous Method (das auf seinem 2003 entstandenen Theaterstück „The Talking Cure“, dt. „Die Methode“, basiert) die Geschichte zwischen Jung und Spielrein – an einem Sommertag am Zürich See im Jahr 1913 – mit einem Fundamentalgeständnis enden:
Jung: „My love for you was the most important thing in my life. It made me understand who I am, for better or worse.“ Sabina’s expression, formerly skeptical, has softened; and her eyes fill with tears. Jung reaches out and rests a hand on her stomach for a second (Spielrein hat inzwischen geheiratet und ist schwanger.) „This should be mine.“ / Sabina: „Yes“ / Jung: „But sometimes you have to do something unforgivable, just to be able to go on living.“