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Dossier Landschaft – Das Rauschen der Strömung – Natur im Film ist meist „nur“ Landschaft

Das rauschen der Strömung

| Fred Truniger |

Was Landschaft sein kann, ist mehr als eine Frage der Darstellung. Ob sie wie bei Terrence Malick der Versuch ist, unserer Vorstellung von Natur möglichst nahe zu kommen, ob mit ihr phantastische Welten kreiert werden wie bei den Utopisten Morus und Mercier, ob sie als Seelenlandschaft dient wie Alexander Sokurow, oder ob sich in ihr als barocker Gartenlandschaft das Böse verbirgt. Ein Dossier über Landschaften, die über die Leinwand hinaus reichen. Idee und Redaktion: Michael Pekler

Wie kann Natur im Film wahrgenommen werden, wenn sie immer nur als Landschaft dargestellt wird? Über die Möglichkeit eines Umwegs am Beispiel von Terrence Malicks The New World.

Seine Funktion als Stellvertreter des menschlichen Blicks hat den Film zu einem privilegierten Medium gemacht, in dem wir auch über unsere Umwelt kommunizieren. Richtet sich der Sucher der Kamera auf die so genannte freie Natur, entstehen ohne viel Zutun bewegte (lebende!) Landschaftsbilder. Sie scheinen uns bisweilen so real wie unser eigener Blick, und sie bringen uns Welten nahe, die wir, in der physischen Realität gefangen, wohl nie unmittelbar wahrnehmen werden. Mit seiner entfesselten Bilderflut hat der Film nicht nur unser Weltwissen explosionsartig vermehrt, sondern auch entscheidend dazu beigetragen, dass die Unterscheidung zwischen Natur und Landschaft stark verwischt wurde 1, sodass heute die wechselseitige Abgrenzung schwierig geworden ist.

Der Begriff der Landschaft wurde in seiner heutigen Bedeutung – eine durch den Blick gebildete „Sondereinheit“ aus der Natur, ein Bild also – erst möglich, als der Mensch im Laufe des 16. Jahrhunderts erstmals sein eigenes Natur-Sein in Frage stellte und sich selber innerhalb der Trennung von Natur und Kultur auf die Seite der Letzteren stellte. 2 Als landschaftlich werden gemeinhin Blicke bezeichnet, die natürliche Elemente zusammenfassen, ohne dass sich störende Artefakte ins Bild schieben. Wenn dieser Blick gegenüber einzelnen menschlichen Bauwerken auch durchaus tolerant ist (klassischerweise vor allem, wenn diese bereits in Ruinen liegen), so stört im alltäglichen Gebrauch des Begriffs nichts den Eindruck einer Landschaft nachhaltiger, als „Industrie, Technik und die (moderne Groß-)Stadt“, wie der Landschaftsgeograf Gerhard Hard zu Beginn der siebziger Jahre schrieb. 3 Auch im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft prägen durch die klassische Landschaftsmalerei gebildete, jahrhundertealte Sehmuster die Auffassung von Landschaft weiterhin entscheidend mit. Die enge Verknüpfung von Landschaft und Natur ist evident geblieben.

Unser Verhältnis zur Landschaft hat sich seit Hards Studie zwar stark verändert, und die Toleranz gegenüber Spuren menschlicher Bautätigkeit ist proportional zum Verschwinden der Natur aus unseren Erfahrungsräumen gestiegen. Vor allem die künstlerische Fotografie vermittelte entsprechende urbanisierte und industrialisierte Landschaftsbilder. 4 Doch nur zögerlich löst sich der Landschaftsbegriff von der hergebrachten Definition eines abgebildeten Naturraums (oder wenigstens Kulturlandschaftsraums), und nur allmählich wird die Bandbreite dessen größer, was wir als Landschaft bezeichnen. Nun zeichnet sich ab, dass nicht mehr die dargestellte Topografie, sondern die Größe des dargestellten Außenraums zum entscheidenden Faktor wird, ob eine Ansicht als Landschaft klassifiziert wird. Entsprechend sind Wortzusammensetzungen wie „Stadtlandschaft“, „urbane Landschaften“ oder gar „Industrielandschaften“ geläufiger geworden. Während sich der Landschaftsbegriff aber für gebaute Umgebungen öffnet, gilt demgegenüber noch immer: Wenn Naturraum visuell wiedergegeben wird, entsteht unausweichlich – ein Landschaftsbild.

Natur ist unsichtbar

Die Landschaft ist, wie bereits erwähnt, von ihrer Herkunft aus der Malerei her eine ästhetisch überformte, äußere Ansicht der Natur. „Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist“, schreibt beispielsweise Joachim Ritter. 5 Sie ist eine Art „Spur“ der Natur. Die Natur selber kann nicht ohne Weiteres optisch abgebildet, noch kann sie durch Töne und Geräusche unmittelbar hörbar gemacht werden, denn ihr Wesen und ihre durch unsere physische Teilhabe an ihr gegebene Wirkung auf uns können diese sinnlichen Repräsentationen nur unvollständig erfassen: jene dem Menschen übergeordnete Kraft, die für die Existenz von allem verantwortlich ist, aber auch stets zugrunde gehen lässt, was durch sie entstanden ist. Diese sich der Kontrolle und dem Verstand des Menschen aller Domestizierungsversuche zum Trotz immer wieder erfolgreich entziehende, alles übersteigende Macht können wir nur erahnen, erfahren, aber nicht unmittelbar sehen. – „Natur ist unsichtbar“, schrieb der Landschaftstheoretiker Lucius Burckhardt, „wir können sie nur darstellen“.6

Auch Georg Simmel war dieser Meinung. Er begründete sie allerdings nicht durch eine systemische Unsichtbarkeit des wesentlich Naturhaften, sondern durch ihre Unteilbarkeit: „Die Natur hat keine Stücke“, schreibt er, sie ist durch den rahmenden, Untereinheiten bildenden Blick einer Kamera (eines Gemäldes, selbst unseres Gesichtsfeldes) nicht zu erfassen, sondern nur als „Einheit eines Ganzen“ oder als „grenzstrichlose Einheit“ zu begreifen. „Bezeichnen wir ein Wirkliches als Natur, so meinen wir entweder eine innere Qualität, seinen Unterschied gegen Kunst und Künstliches, gegen Ideelles und Geschichtliches; oder dass es als Vertreter und Symbol jenes Gesamtseins gelten soll, dass wir dessen Strömung in ihm rauschen hören.“ 7 Wenn eine direkte Abbildung der Natur auch nicht möglich scheint, nach Burckhardt kann immerhin eine – bisweilen bildhafte – Darstellung der Natur durch Inszenierung erreicht werden. Solche Inszenierungen finden sich beispielsweise in der Blickführung klassischer Gärten. Was aber ist dann Naturdarstellung im Film, wenn die Natur unsichtbar ist? Kann der Film, trotz Dominanz der Abbildung – allenfalls unterstützt durch die auditive Ebene – nicht allein Gärten und Landschaften, sondern auch Natur darstellen und jene von Simmel beschworene innere Qualität bezeichnen oder symbolisch das Rauschen ihrer Strömung hörbar machen?

Vier Sekunden Natur

In Terrence Malicks Film The New World (2005) landet eine englische Expedition im Jahre 1607 an den Gestaden des James River im heutigen Virginia. Die Besatzung der drei Schiffe ist im Begriff, Jamestown zu gründen, die erste dauerhaft besiedelte englische Kolonie in den heutigen USA. The New World erzählt vordergründig die Geschichte der englischen Kolonialisten und jene der eingeborenen Häuptlingstochter Pocahontas, die für die Siedler zum ersten Kontakt in der Neuen Welt wird. Natur und Landschaft bestimmen die Atmosphäre des Films, und wie eigentlich alle Filme Malicks erzählt The New World in den Obertönen einzelner Einstellungen und Szenen die Geschichte der Unvereinbarkeit von Natur und Kultur und der utopischen Sehnsucht, beiden gleichzeitig anzugehören. Einige Bilder der Landschaft rücken dabei die Inszenierung der Natur in den Vordergrund. Das folgende Beispiel soll den Charakter dieser Naturdarstellungen verdeutlichen.

Die Landung am bewaldeten Flussufer am Beginn des Films erfolgt zur Musik von Wagners Vorspiel zu Das Rheingold. Vorsichtig betreten die zukünftigen Siedler das Land, die Waffen gezückt, den Blick für mögliche Gefahren geschärft. Sie streifen durch eine Wiese. Das Gras steht üppig grün, behindert die Sicht, und das leiser werdende musikalische Thema aus Rheingold wird allmählich von Vogelgezwitscher übertönt. Im Gesicht des Kapitäns zeichnet sich deutlich sein Abwägen ab, ob dieser Flecken Erde sich für die Errichtung der Kolonie eignet.

Dann folgt, begleitet durch aufkommende Geräusche des Windes und unterstrichen durch das endgültige Ausblenden der Wagner-Ouvertüre, eine knapp vier Sekunden dauernde Nahaufnahme, die im Erzählfluss des Films nur als kurzer Moment des Innehaltens vor einem Szenenwechsel wahrgenommen wird: Das eben noch stumme Gras wird nun vom Wind gezerrt und aufgewühlt. – Und unvermittelt haben wir das Gefühl, Natur zu sehen.

Doch Natur ist unsichtbar. Was wir sehen, sind zunächst einmal berückende Landschaftsbilder, Bilder von unberührten Flecken der Natur, in Grün, in Blau, im Braun des Waldes und immer wieder in Grün, den Horizont und den Himmel, der über alles gespannt ist. Malick komponiert seine Einstellungen meisterhaft zu spektakulären Blicken, zuletzt beispielsweise in überwältigenden Tableaus sprühender Gischt über einem Wasserfall und riesiger Bäume mit üppigem Blattwerk in The Tree of Life (2011). Solche Bilder verweisen auf Natur, als absichtsvolle Versuche einer Überwältigung aber sind sie in erster Linie Landschaftsbilder. Zwischen diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – phänomenalen Einstellungen finden sich aber einzelne Bilder, wie jene des wogenden Grases, die gleichzeitig Natürliches ästhetisch überformt zeigen, aber auch figurativ darzustellen vermögen, was Natur im Innersten ausmacht.

Auch die Nahaufnahme des sich unter dem Wind biegenden Grases ist ästhetisch. Sie ist indes zu nah, um die üblichen Ingredienzen eines Landschaftsbildes zu bedienen – den Horizont, voneinander unterscheidbare natürliche Elemente, arbeitende Menschen oder Zeichen des (natürlichen) Verfalls. Ihre Einstellungsdauer reicht nicht nur dazu aus, um mit dem Geräusch des Windes eine Tonbrücke zwischen der ersterbenden Wagner-Ouvertüre und dem Trommelwirbel der darauf folgenden Einstellung zu schaffen, sondern auch, um das Fehlen von Menschen zu bemerken. Doch vor allem hat sie für die Erzählung keine entscheidende Bedeutung, und diese narrative Unterdeterminiertheit befreit uns von der Aufgabe, die Einstellung als bedeutungsvolle Information innerhalb der Erzählung des Films zu verstehen.

Kino-Erfahrung

Bei einem Regisseur vom Schlage Terrence Malicks ist kein Schnitt absichtslos. So kann auch eine unscheinbare Einstellung wie jene des wogenden Grases als Teil des narrativen Systems gelesen werden. Ihre Bedeutung erschließt sich, wenn man sie innerhalb der Obertöne des Films liest, als Ausdruck der Erzählung von Natur und Kultur. In diesem System ist die sanfte Bewegung des biegsamen Grases, wie die analogen Einstellungen aus Malicks früherem Film The Thin Red Line (1998), eine Reminiszenz an die unerbittliche Kraft des Windes (und damit der Natur), der noch den mächtigsten Baum zu fällen vermag. Denn wir wissen aus Erfahrung, welche Kräfte der Wind zu entfalten im Stande ist, der hier unangekündigt wie eine Vorahnung kommender Unbill über dem Gras auffrischt. – Für den kurzen Moment dieser einen Einstellung, befreit vom Diktat des filmischen Plots, wird das Rauschen jener Strömung vernehmbar, das Georg Simmel als Platzhalter der Natur bezeichnet hat. Es ist eine Spur nur, im Bild angelegt, im Auge (und Gehirn) des Betrachters aber komplettiert zu einer kurzen kinematografischen Naturerfahrung.

Eine Kino-Erfahrung. Friedrich Kittler hat sie mit Verweis auf die Unmittelbarkeit von „Technik und Körper, Reiz und Reaktion“ im Kino mit dem medizinischen Begriff der Asymbolie beschrieben: als Unfähigkeit, optische Zeichen zu verstehen. 8 Ins Kino übersetzt meint Kittler, dass das Filmbild nicht als visuelles Zeichen wahrgenommen wird, sondern abstandslos als Präsenz dessen, was tatsächlich nur visuell und auditiv dargestellt ist: Wir sehen die vom Wind verursachte Bewegung des Grases, doch gleichzeitig ist durch die spezifisch filmische Form der Vergegenwärtigung die Naturkraft des Windes im Kinosaal anwesend. Terrence Malick wählt mit dieser und vielen anderen, meist kurzen, menschenleeren und oft sehr nahen Einstellungen den (Um-)Weg über eine visuelle Erzählung der Natur, denn er weiß, ihr Wesen bleibt letztlich unsichtbar.

Fred Truniger
arbeitet als Film- und Kulturwissenschaftler an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, wo er den Forschungsschwerpunkt Visual Narrative leitet. Davor war er Mitarbeiter der ETH Zürich im Fachbereich Landschaftsarchitektur, wo er auch seine Dissertation geschrieben hat.

1 Renate Fechner: Natur als Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft. In: Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII. Kunstgeschichte Bd. 64. Frankfurt/Main 1986, S. 2.

2 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Gert Gröning, Ulfert Herlyn: Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. Texte zur Konstitution und Rezeption von Natur als Landschaft. München 1990 [1963]. S. 23–41.

3 Gerhard Hard: Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen. Semantische und forschungslogische Studien. Bonn 1970, S. 71.

4 Neben vielen anderen haben vor allem die fotografischen Arbeiten Peter Fischli/David Weiss, Nicolas Faure, Margherita Spiluttini, Walter Niedermayr und Lois Hechenblaikner mit zur Veränderung des Landschaftsbildes und damit des Landschaftsverständnisses beigetragen.

5 Ritter, a.a.O., S. 31.

6 Lucius Burckhardt: Natur ist unsichtbar. In: Markus Ritter; Martin Schmitz (Hg.): Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Berlin 2006 [1989], S. 49.

7 Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. In: Gert Gröning, Ulfert Herlyn (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. München 1990 [1913]. S. 68.

8 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995, S. 308.