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Crossing Europe

Im Dazwischen das Eigentliche

| Alexandra Seitz |
Crossing Europe widmet den diesjährigen Tribute der englischen Drehbuchautorin und Filmemacherin Joanna Hogg.

Die Super-8-Kamera, mit der sie ihren ersten Kurzfilm drehte, wurde ihr von Derek Jarman geliehen. In Caprice, mit dem sie 1988 ihre Ausbildung an der National Film and Television School abschloss, gab in der Hauptrolle eine gewisse Tilda Swinton ihr Debüt und führte David Tattersall die Kamera. Vielversprechende Anfänge. Die kommenden Jahre aber vergingen mit Arbeiten fürs Fernsehen. Und dann war erstmal Pause.

Dabei offenbart schon die erste Auftragsarbeit der 1960 in London geborenen Drehbuchautorin und Filmemacherin Joanna Hogg, der das Crossing Europe Filmfestival in diesem Jahr seinen Tribute widmet, ein beeindruckendes Talent zur Zuspitzung. In den minutenkurzen Episoden der für das zwar kurzlebige, aber einflussreiche Jugendprogramm Network 7 (1987–1988 auf Channel 4) entstandenen Mikro-Soap Flesh & Blood verdichtet Hogg satirisch das ganze Universum formaler und inhaltlicher Klischees, die Serien wie Dallas oder Dynasty bestimmen, und treibt es zur Implosion. Respektlos verknappt, unverfroren auf den Punkt des rein Zeichenhaften gebracht und in einem Bruchteil der Zeit erzählt Flesh & Blood das, was andere Serien in jahraus, jahrein aufeinander folgende Staffeln auswalzen: familiäre Verwicklungen eines Firmen-Imperiums; hier: die Schwesternrivalität der beiden Erbinnen eines Kosmetikkonzerns. Reduziert aufs skeletthaft Funktionale wird einem die ganze formalistische Eintönigkeit und inhaltliche Blödsinnigkeit einer solchen ins Endlose gedehnten Saga peinlich bewusst.

Ironie des Schicksals, dass Hogg in der Folge gänzlich unironische Episoden für gänzlich unironische Fernsehserien inszenieren wird. Darunter freilich auch solche, die TV-Geschichte schrieben: Casualty, eine Serie, die es seit 1986 auf 28 Staffeln gebracht hat und als die am längsten laufende Krankenhaus-Serie der Welt gilt, und die Mutter aller Lindenstraßen, das BBC-Soap-Opera-Flaggschiff EastEnders (4.800 Folgen seit 1985). Für letztere dreht Hogg 2003 das 60-minütige, zweiteilige Special Dot’s Story, das mit seiner packenden Verschränkung von Gegenwarts- und Vergangenheitsebene, den forsch eingesetzten Rückblenden, die Zeit und Raum zum abstrakten Ort hochdramatischen Geschehens verdichten, die Grenzen konventionellen Fernsehens testet.

Und dann, wie gesagt, war erst einmal Pause. „2003 starb mein Vater. Ich unternahm den Versuch, eine Familie zu gründen. Ich begann damit, Unrelated zu schreiben – es war, als wäre das Drehbuch die Kanalisierung all meiner traurigen Gefühle. Und ich wollte einen Film drehen, in dem ich all das tat, was man in Arbeiten für das Fernsehen nicht tun soll oder darf.“ So Joanna Hogg in einem kurzen Porträt, das anlässlich ihres vielbeachteten Kinofilmdebüts 2007 in „The Independent“ erschien.

Uraufgeführt beim London Film Festival, wurde Unrelated dort mit dem Fipresci-Preis und im Weiteren mit dem „Most Promising Newcomer Award“ des „Evening Standard“ sowie dem „First Film Award“ des „Guardian“ ausgezeichnet. Die einheimische Filmkritik zeigte sich angetan, begrüßte in Joanna Hogg „one of the most compassionate portraitists of the British psyche“ und sah den Beginn eines neuen Sozialrealismus im britischen Kino heraufdämmern.

Unrelated erzählt die Geschichte der Mittvierzigerin Anna, die ihre Freundin Verena in einer Villa in der Toskana besucht, wo diese mit ihrer Familie – Mann, Kinder und Neffe – den Sommer verbringt und ein offenes Haus führt. Ihren Mann Alex hat Anna wider Erwarten zuhause gelassen. Die Ehe der beiden steckt, das zeigen Telefonate, die Anna hin und wieder mit dem Daheimgebliebenen führt, in einer Krise. Sie wolle Abstand gewinnen, sagt Anna zu Alex, sich über etwas klar werden. Und nein, ihn treffe keine Schuld, sie wisse selbst nicht, was mit ihr los sei. Nichts Neues also. Durchaus neu aber die Art und Weise, in der Hogg den seelischen Aufruhrzustand darstellt, in dem ihre Protagonistin sich befindet. Die Urlauber genießen den Pool, den Wein, das Nichtstun. Doch anstatt sich mit den Gleichaltrigen zusammenzutun, sucht Anna den Anschluss an die Jungen, flirtet gar mit dem Neffen (Tom Hiddleston in seinem Leinwanddebüt), der die Einsamkeit der älteren Frau spürt, ihre Aufmerksamkeit genießt und mit der typischen Grausamkeit der Jugend ermutigt. Mit zunehmendem Missfallen beobachtet dies Verena, enttäuscht, dass ihre Freundin sich ihr nicht anvertraut.

Ausgesprochen und an der Oberfläche zum Ausbruch gebracht wird in Unrelated nur wenig. Hogg setzt auf Beobachtung aus der Distanz, auf die Aufzeichnung des Beiläufigen – flüchtige, möglicherweise bloß zufällige Berührungen und scheinbar Nur-so-Dahingesagtes – in langen Einstellungen und mittels sparsamer Kamerabewegungen und erarbeitet daraus das Porträt einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich nichts anmerken lassen will. Ein aus der Ferne in einer Totalen gefilmter, dramatischer Eklat führt schließlich zu einer Eskalation der Ereignisse – die dann wiederum von den Verhaltenskodices der Middle Upper Class gedeckelt bleibt. Ebenso wie Annas Aus- und Aufbruch aus der Krise nicht mehr ist als eine kleine, verschiebende Bewegung innerhalb der Konventionen. Man kann sagen: immerhin.

Die Reise als eine Situation des Übergangs und der Transition, die die Möglichkeit zur Veränderung bietet; die Beziehungen zwischen Familienangehörigen und angegliederten Freunden und Bekannten – sie bleiben auch für Hoggs drei Jahre später entstehenden Archipelago bestimmende Motive. Wie die einzelnen Inseln eines Archipels, jeder für sich, erscheinen die Mitglieder der Familie, die auf einer der Scilly-Inseln einige gemeinsame Urlaubstage verbringt, bevor Sohn Christopher (Tom Hiddleston, kurz bevor er als Loki in Thor Blockbuster-Ruhm erlangte) nach Afrika geht, damit endlich etwas Sinnvolles in seinem Leben geschieht. Im Alltag am ungewohnten, wenngleich von früheren Aufenthalten her vertrauten Cottage treten über die Jahre entstandene Spannungen und Haarrisse rascher und deutlicher hervor, entwickeln sich zu Brüchen, die nicht mehr zu kitten sind. Nicht zuletzt, weil das unverbrüchlich virulente englische Klassensystem die Verhältnisse der Figuren zueinander aufwühlt. Ungeheuer genau ist Hogg hier in der seismografischen Aufzeichnung der familiären Verwerfungen, die Christopher mit seiner rebellisch gemeinten, doch anbiedernd übergriffig erscheinenden Annäherung an die von der Mutter für die Urlaubszeit eigens eingestellte Köchin hervorruft.

Im klassenbewussten England wird der klassenbewusste Ansatz Joanna Hoggs durchaus kontrovers rezipiert, wie sich den Online-Kommentaren zu Ryan Gilbeys „Guardian“-Rezension ihres aktuellen Films Exhibition entnehmen lässt. „Who the hell would give a shit about these pathetic, winging, middle-class wankers moaning about being wealthy?“, kann man da beispielsweise lesen. Und über Unrelated schreibt ein User: „A bunch of pathetic, whining, English middle-class tossers moaning about nothing in an idyllic Italian villa.“ Es fällt dabei auf, dass das, was kritisiert wird, nicht die filmische Form ist, sondern das Verhalten der Filmfiguren. Woraus wiederum folgt, dass Joanna Hoggs Schilderung der gesellschaftlichen Sphäre, in der sie ihre Geschichten ansiedelt, nicht nur ins Schwarze, sondern offensichtlich auch einen Nerv trifft.

So gesehen setzt ihr nächster Film, in dem nicht nur der Ort der Handlung als elitäres Distinktionsmerkmal wirkt, noch eins drauf: In der seltsam kriselnden Beziehung des Künstlerpaares D und H (dargestellt von der Ex-The Slits-Punkrockerin Viv Albertine und dem Installationskünstler Liam Gillick) wird ein Haus zum dritten Akteur. Exhibition spielt nahezu gänzlich in einem modernistischen Gebäude in West London; entworfen und ehemals bewohnt vom mittlerweile verstorbenen Architekten James Melvin (dem der Film auch gewidmet ist). D und H wollen es verkaufen – erneut also befinden sich die Figuren in der Transition – und ihre erhöhte, vom Gefühl des Abschieds geprägte Aufmerksamkeit richtet sich auf das Licht, das durch die wandhohen Fenster fällt, die Geräusche der Schiebetüren, das Ende der Wendeltreppe, die Gegensprechanlage, die ihre Arbeitszimmer verbindet, doch keinen Kontakt herstellt. Die allgemein herrschende Zurückhaltung, die Unterkühlung, die die Regie-Perspektive ebenso wie den Blick der Figuren aufeinander prägt, vor allem aber das elaborierte Sounddesign machen Exhibition zu einer Art Horrorfilm. Ein wohlgesetzter Tritt in die Hintern der gebildeten Stände. Ein Blick in den Zerrspiegel, der selbstzufriedene Bequemlichkeit endet.