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TV-Serien: Ein Schwerpunkt

Die wiedergefundene Zeit

| Roman Scheiber |
Stilisierte Crime-Serie, in der es weniger um den Fall als um die Ermittler geht: Matthew McConaughey und Woody Harrelson in „True Detective“.

Ein nackter Hintern hockt im Close-up auf plastik­stacheligen Pornoheels. Dem Rücken einer vorgebeugten nackten Frau ist die Totale eines leeren Kinderspielplatzes eingeschrieben. Der Kopf eines Kindes als Wählscheibentelefon. Erdölindustrielle und religiöse Symbole, zunächst durchwabert von gleißendem Licht, dann in Dunkelheit gehüllte gelbe und rote Flammen, alles eingelullt von einem melancholisch klagenden Titelsong, und in Slow Motion gleichsam als Schüsseln für die ingeniöse Bildsalatmischung: die Titelfiguren. Die ausdruckslosen Gesichter und Körperumrisse von Matthew McConaughey und Woody Harrelson wirken wie leere, mit verstörendem Inhalt zu füllende Gefäße, die vor all dem Grauen dessen, was da auf sie zukommen mag, überzugehen drohen.
Die düstere, mit winzigen Jump Cuts austarierte Titelsequenz von True Detective ist ein stilisierter Clip zwischen Pulp und Kunst. Sie zeigt die Hauptcharaktere emblematisch als verfallsbedrohte Produkte ihrer Umgebung und Geschichte, und sie verweist in eineinhalb selbstbewussten Minuten darauf, dass es hier weniger um die vordergründige Erzählung geht als um den tiefenscharfen Hintergrund. Weniger um äußere Handlungen als um innere Vorgänge. Oder, pointiert gesagt: weniger um das zu Ermittelnde als um die Ermittler selbst.
Sie heißen Marty Hart und Rust Cohle und kommen kaum besser miteinander aus als Hund und Katz. Wobei Hart, um bei dem Vergleich zu bleiben, eher der Hund wäre: ein brauchbarer Spürhund, wie es sein Beruf erfordert, und durchaus ein Familienwesen, das sich in festem Sozialgefüge wohlfühlt, allerdings gern von seinen animalischen Instinkten ablenken lässt. Cohle dagegen wirkt sensitiv, unergründlich, hat das Einzelgängertum und die Unberechenbarkeit einer vom Leben gezeichneten, streunenden Katze.
True Detective wechselt geschickt zwischen zwei Zeitebenen: In der Gegenwart des Jahres 2012 werden Hart und Cohle, getrennt voneinander, zu einer gemeinsamen früheren Ermittlung befragt. Ausgehend von einem rituellen Frauenmord im Jahr 1995 wird der Fall aufgerollt, und wo die Ex-Polizisten beim mündlichen Bericht über ihre Erlebnisse der folgenden sieben Jahre so manche Halbwahrheit zum Besten geben, sieht der Zuschauer in chronologisch verschachtelten Rückblenden, was „tatsächlich“ passiert ist. Das Einsatzgebiet des unfreiwilligen Duos ist ein Louisiana, das im Film selten trostloser war (und nebenbei für TV-Produktionen wie diese und die HBO-Schwestern Treme und True Blood kaum je steuergünstiger). Fast alles bis auf die Polizeistation und eine protzige Kirche sieht hier versumpft aus. Beispielhaft nach dem Gedanken Marcel Prousts, dass eine bestimmte Landschaft auch einen speziellen Menschentypus hervorbringe, agieren die meisten Nebenfiguren zwischen verschrobenem Pragmatismus, Okkultismus und Schicksalsergebenheit. Zu den topografischen Besonderheiten addieren sich in aller Ruhe bekannte Versatzstücke des Polizei- und des Detektivfilmgenres hinzu: Nachforschungen in schummrigen Nachtklubs oder bei einem Erlöserguru, ein paar Hardboiled-Elemente, interne Querelen mit den Vorgesetzten, Vertuschung und Verschwörung bis in hohe politische Kreise. Dabei schrammt die eine oder andere aufpoppende Figur am Klischee, doch im Zentrum bleiben stets – außer in der Schluss­episode, die eine leidlich fesselnde Auflösung parat hält – Marty oder Rust oder beide. Und die reiben sich in wiederkehrenden Schüben aneinander, dass es eine wahre Freude ist.

450 Minuten Kino

Noch vor fünfzehn Jahren wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass eine Serie, deren Helden in schleppendem Südstaaten-Slang nuscheln und deren Narration äußerst schwerfällig in Gang kommt, bei Publikum und Kritik in den USA überwältigenden Zuspruch findet. Heute verwundern eher die vereinzelten Gegenstimmen. Selbst wenn man in True Detective bloß eine machoide Männerphantasie erblickt: Unumstritten sind die kinematografischen Qualitäten der Serie. Gedreht auf 35mm-Film, atmosphärisch elaboriert und haptisch, lässt auch die Produktionsweise eher an Kino als an Fernsehen denken. Den für die meisten zeitgenössischen Serien typischen Showrunner oder einen Writer’s Room gab es hier nicht. Geschrieben hat alle Episoden ein einziger Autor, Nic Pizzolatto, inszeniert hat ausschließlich Cary Fukunaga (Sin Nombre, Jane Eyre). Der dramaturgische Aufbau der acht Episoden gleicht einem dreiaktigen Kinofilm, nur dass schon der erste Akt nicht 30, sondern annähernd 120 Skriptseiten aufweist. Und wenn die ästhetische Entscheidung für eine der raren Action-Szenen auf einen extrem aufwändigen, fast sechsminütigen „Single Take Tracking Shot“ ohne Schnitt fällt (Episode 4): kein Problem.
True Detective geht vom Genre aus, transzendiert es jedoch. Michael-Mann-Aficionados werden etliche Zitate finden, Man­hunter oder Heat sind an Stellen präsent; Pizzolattos Inspiration aus Comics, Cartoons, Groschenromanen und Detektivmagazinen wird evident, die übernatürliche Titelfigur der Kurzgeschichten-Anthologie „The King in Yellow“ (1895) von Robert W. Chambers spielt eine Rolle und ein „Spaghetti-Monster“ mit grünen Ohren. Doch nicht die verwirrenden Genre-Gimmicks machen den Reiz von True Detective aus. Anhand der Antihelden, die sich durch Gewohnheiten, Laster und die Zeit zwischen den Zeitebenen stark verändert haben, wird nicht weniger versucht als das rätselhafte Wesen der Erinnerung zu erfassen. Die Spannung entsteht durch die Überlagerung der Zeitebenen, wir sehen gewissermaßen eine Befragung der Vergangenheit durch die Zukunft. Noch einmal Marcel Proust: „Wir stellen uns die Zukunft wie einen in einen leeren Raum projizierten Reflex der Gegenwart vor, während sie oft das bereits ganz nahe Ergebnis von Ursachen ist, die uns zum größten Teil entgehen.“ Dieses Zitat aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hätte auf der Pinnwand unserer Ermittler nicht geschadet, so wenig wie jenes: „Es gibt vielleicht keinen Menschen, und wäre er noch so tugendhaft, den die Umstände nicht eines Tages dazu bringen können, in nächster Nachbarschaft des Lasters zu leben, das er mehr als alle verdammt.“
Einmal gibt Hart einer minderjährigen Prostituierten Geld mit den Worten: „Do something else.“ Ein paar Jahre später trifft er sie wieder – sie macht nun tatsächlich etwas anderes – und betrügt mit ihr sogleich seine Frau (Michelle Monaghan als einzig nennenswerte weibliche Figur). Woody Harrelson, zuletzt schauspielerisch wenig gefordert – abgesehen vielleicht von der Titelrolle des kaputten Cops in Rampart (2011) –, darf als scheinheiliger Südstaaten-Archetypus sein volles Potenzial ausschöpfen. Matthew McConaughey wiederum, der sein Image als Sonnyboy mit dem Oscar für Dallas Buyer’s Club sozusagen amtlich abgelegt hat, bestätigt den neuen Status als ernst zu nehmender Charakterdarsteller eindrucksvoll. Seinem somnambulen, häufig über die Sinnlosigkeit des Lebens philosophierenden, in der Gegenwartsebene zum obsessiven Noir-Detektiv degenerierten Rust Cohle verleiht er eine opake Gebrochenheit.
Gerade nach dem hübschen Epilog hätte man die beiden gern noch einmal als „brothers in on-off-romance“ gesehen. Die bereits beschlossene Fortsetzung von True Detective bricht jedoch mit einer weiteren Serienkonvention (ähnlich wie die von „ray“ noch zu behandelnde American Horror Story): Es wird ein neuer langer Film mit neuen Ermittlern an einem anderen Ort. Im Gespräch sind starke Frauen in Südkalifornien. Fix ist nur, dass es mehr um die Detektive gehen wird als um den Fall.