Das Filmmuseum würdigt die Arbeit von Martin Scorseses Film Foundation mit einem ausführlichen Tribute.
Wer einmal eine alte Kopie des 1948 von Joseph Losey gedrehten Anti-Kriegsfilms The Boy With Green Hair gesehen hat, konnte sich das plötzlich grün gewordene Haar der Titelfigur Peter allenfalls vorstellen. Grün war es nämlich nicht, vielmehr von unbestimmter Farbe, die mal mit einem Schatten, mal mit einem dunklen Hintergrund verschmolz. Mitunter, bei Tageslichtszenen, konnte man ein paar graugrüne Strähnen erkennen, keinesfalls genug, um das Entsetzen zu rechtfertigen, das dem Früh-Punk von seinen Mitmenschen entgegengebracht wird. Im Film wird aber behauptet, das Haar sei nach einer Wäsche grasgrün geworden – nachdem Peter erfahren hat, dass seine Eltern im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind und er eine Kriegswaise ist, wie diejenigen, die traurig von den Plakaten für die Geldsammlung in der Schule herunterschauen. Im Unterschied zu jenen hat Peter jedoch seinen Großvater, der für ihn sorgt. Das grüne Haar soll alle Erwachsenen daran erinnern, wie schrecklich der Krieg ist – so jedenfalls wollen es die armen Waisenkinder, die ihm im Traum erscheinen. Peter behält seine grünen Haare und ist stolz darauf.
Nach der Restaurierung mit Hilfe der von Martin Scorsese initiierten, 1990 gegründeten Film Foundation sieht man, wie der Film gemeint war: Der dichte, gelockte Schopf des Jungen ist tatsächlich so saftig grün, dass er an einen frisch gemähten Rasen erinnert, außerdem sind wieder Konturen, Schatten und sogar die Szenen, die im Dunkeln spielen, erkennbar. Und auch wenn man in der Realität längst alle möglichen Haarfarben gewöhnt ist, wirkt dieses Grün so befremdlich, dass man die erschreckten, amüsierten oder mitleidigen Reaktionen von Peters Mitmenschen im Film begreift.
Vielleicht sind es tatsächlich die Farben im Film, die am ehesten die Notwendigkeit der Restauration vor Augen führen; und so finden sich Titel wie The Blue Bird (1918), The Red Shoes (1948) und The Red Pony (1949) oder Green Desire (1966) auf der sehr umfangreichen Liste der durch die Film Foundation bereits geretteten Filme. Retten klingt melodramatisch für ein Industrieprodukt, was der Film ja schließlich in den allermeisten Fällen war, und diese Tatsache erklärt wohl auch, dass man viele Jahre sehr schlampig mit ihm umgegangen ist. Film wurde als Ge- und Verbrauchsprodukt betrachtet, nutzlos nach der Kinoauswertung und ein Kostenfaktor, wenn er gelagert werden musste. Bei dem bis in die fünfziger Jahre hinein gebräuchlichen Zellulose-Nitrat-Filmmaterial, auch Nitrofilm genannt, war die Lagerung sogar gefährlich: Es entzündete sich bereits bei niedrigen Temperaturen selbst.
Auf diese Weise sind, wie Martin Scorsese schon 1980 in einem Brief an „Freunde, Kollegen und Filmliebhaber“ schrieb, die Hälfte der vor 1950 und 90 Prozent der vor 1929 entstandenen amerikanischen Filme verlorengegangen. „Everything we are doing right now means absolutely nothing. All of our agonizing labor and creative effort is for nothing because our films are vanishing“, begann Scorsese seinen Aufruf zur Bewahrung des Filmerbes. Damals galt es, erst einmal überhaupt ein öffentliches Bewusstsein für die Tatsache zu schaffen, dass Filme ebenso Kulturgüter sind wie Gemälde, Plastiken und Fotografien – und ebenso empfindlich. Aber während erstere unter streng kontrollierten Wärme-, Feuchtigkeits- und Lichtbedingungen in Archiven schlummern, rotteten Filmrollen in Kellern von Produktionsfirmen oder auf Dachböden von Filmvorführern vor sich hin. Dass ein schlechter Film ebenso wie ein guter, ein Sci-Fi- ebenso wie ein Historienfilm, ein Musical ebenso wie eine Märchenadaption, gar nicht anders kann als die Bedingungen zu dokumentieren, unter denen er entstanden ist, war nicht einmal unter den wenigen Filmarchivaren Konsens, die es damals gab. Aber wenn man an die Tischanspitzer für Drehbleistifte denkt, die in der Star-Trek-Serie (1966–69) als Raumschiff-Steuerelemente herhalten mussten, weiß man, was gemeint ist. (Falls noch jemand weiß, was ein Drehbleistift ist.)
Filme, auch wenn sie nicht ausdrücklich Dokumentationen sind, dokumentieren das 20. Jahrhundert, und zwar weltweit. Sie sind mehr als Popkultur, denn sie erzählen vom Lebensstil, Nöten und Sehnsüchten der Menschen in bestimmten Zeiten: Sie reagieren auf aktuelle Ereignisse: die Gangster-, Zeitungs- und Backstage-Filme der frühen Dreißiger auf die Große Depression, die Science-Fiction-Filme der Fünfziger auf den Kalten Krieg oder das New American Cinema auf die Jugendrevolte nach 1968. Filme machten Mode: Nachdem Clark Gable in It Happened One Night (1934) ohne Unterhemd erschienen war, geriet die Wäschebranche in die Krise. 20 Jahre später schuf Marlon Brando in The Wild One den ultimativen Halbstarkenlook. Und die in den Mafia-Filmen von Francis Ford Coppola und Martin Scorsese zur Schau gestellte Italianità gefiel den realen Vorbildern so gut, dass inzwischen das Leben in den Little Italys amerikanischer Großstädte wiederum wie nachgestellt wirkt.
Spielfilme dokumentieren Schauplätze und deren Veränderung über die Jahre – wie das New York vor und nach 9/11 oder die städtebaulichen Veränderungen der Berliner Mitte, aber auch deren Zerstörung in den direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gedrehten Trümmerfilmen; und in den amerikanischen Propagandafilmen aus den vierziger Jahren spielten deutsch-jüdische Emigranten Nazis. Politik, Ökonomie, Sozialgeschichte und Kultur sind im Film abgebildet und aufgezeichnet, aber eben lange Zeit nicht festgehalten. Es wurde also höchste Zeit, dass das jemand thematisierte. 1990 formierte sich die Stiftung, die einem Gremium von 16 Regisseuren untersteht. Drei von ihnen, Stanley Kubrick, Robert Altman und Sidney Pollack, sind inzwischen verstorben; Altmeister wie der 1930 geborene Clint Eastwood gehören ebenso dazu wie der 40 Jahre jüngere Paul Thomas Anderson; merkwürdigerweise handelt es sich um einen reinen Männerclub.
Inzwischen hat die Stiftung mehr als 600 Filme vor dem Verderben gerettet. Und die Formen des Verfalls sind vielfältig: Das Filmmaterial selbst löst sich bei zu warmer Lagerung von selbst auf. Die Farben verblassen – man erinnere sich an die rotstichigen Fotos und Filme aus der Kindheit, bei denen die Blau- und Gelbtöne innerhalb weniger Jahre verschwunden waren. Schwarzweißfilme wurden mitunter recycelt, um die darin enthaltenen Silberpartikel wieder zu verwerten. Schließlich kann sich das als Ersatz für den Nitrofilm erfundene Acetat-Material zwar nicht mehr entzünden, aber es kann einlaufen und brüchig werden.
Um dem Verfall entgegenzuwirken, wird in einem ersten Schritt das alte Material auf neues, haltbares umkopiert und dann möglichst dafür gesorgt, dass das Original unter optimalen Bedingungen gelagert wird. Neue Kopien und DVDs können dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden bzw. als Quellen für Filmhistoriker dienen. Eine solche Rettungsaktion für einen Spielfilm kostet um die 20.000 Dollar.
Martin Scorsese und seine Mitstreiter haben ein Umdenken auch in der Branche selbst bewirkt: Die großen Studios bzw. deren Nachfolgeinstitutionen investieren längst in den Erhalt der eigenen Produktionen – nicht ganz ohne Eigennutz: Mit dem Aufkommen von DVD und Streaming-Techniken sind neue, profitable Märkte entstanden. Die Film Foundation sorgt aber auch dafür, dass Stummfilme oder Dokumentarfilme, Wochenschauen, Kulturfilme und unabhängige Produktionen gerettet werden. Sie hat finanzkräftige Sponsoren im Rücken und muss inzwischen niemanden mehr überzeugen.
Martin Scorsese, der als Filmhistoriker mindestens ebenso verdienstvoll ist wie als Regisseur, wirbt unermüdlich weiter für sein Anliegen, so in einer Vorlesung im Jahr 2013 im National Endowment for the Humanities, einer hochrangigen geisteswissenschaftlichen Institution: „Just as we’ve learned to take pride in our poets and writers, in jazz and the blues, we need to take pride in our cinema, our great American art form. Granted, we weren’t the only ones who invented the movies. We certainly weren’t the only ones who made great films in the 20th century, but to a large extent the art of cinema and its development has been linked to us, to our country. That’s a big responsibility. And we need to say to ourselves that the moment has come when we have to treat every last moving image as reverently and respectfully as the oldest book in the Library of Congress.“