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Identities – Es gibt keine Siege für immer

| Michelle Koch |
Das identities Queer Film Festival legt seinen Fokus in diesem Jahr vor allem auf die Themen Feminismus und Zivilgesellschaft.

Von 8. bis 18. Juni findet in Wien das renommierte identities Queer Film Festival statt, das seit nunmehr fast 25 Jahren besteht, um mit facettenreichem internationalem Kino die Welt und deren historisch wie auch aktuell relevanten sozial-politischen Kontexte aus queeren Perspektiven in den Blick zu nehmen, Augen zu öffnen und das Bewusstsein zu schärfen für globale Verhältnisse und Missverhältnisse. In einem Jahr voller weltpolitisch und gesellschaftlich besorgniserregender Entwicklungen mit nationalistischen, rassistischen, homophoben und sexistischen Tendenzen, richtet identities 2017 den Fokus verstärkt auf Feminismus und Zivilgesellschaft: Fragen nach juristischer und real verwirklichter Gleichstellung, nach Akzeptanz gegenüber nicht hegemonialen Lebenskonzepten, nach Diskriminierung und Rassismus ziehen sich als roter Faden durch das rund 90 Filme umfassende Festivalprogramm und werden nicht nur als Verbindungslinien zwischen dokumentarischen und fiktionalen Arbeiten, sondern auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart sichtbar. Historische Beiträge widmen sich etwa der Geschichte des Civil Rights oder des Women’s Liberation Movement und dessen Aktivisten, allen voran aber den Aktivistinnen, die im Kampf um Humanismus und die Durchsetzung demokratischer Leitsätze eine Vorreiterstellung einnahmen oder gar zu Revolutions-Ikonen wurden.

45 Jahre nach dem Freispruch der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis (*1944), der wegen des Vorwurfs, sie unterstütze Terrorismus, die Todesstrafe drohte, zeigt identities den kurz vor ihrem Prozess veröffentlichten Dokumentarfilm Angela Davis – Portrait of a Revolutionary (1972). Filmemacherin Yolande Du Luart, damals Studentin an der UCLA, begleitete die intellektuelle Schriftstellerin und Revolutionärin, die bei Adorno studiert hatte, bei Marcuse promovierte, ehemaliges Mitglied der Black Panther war und als regierungskritische Kommunistin an der UCLA Philosophie lehrte, von 1969 bis 1970 – eine Zeitspanne, in der sich Davis’ Linksaktivistinnen-Karriere soweit zuspitzte, dass sie aus dem universitären Betrieb entlassen wurde und zunehmend ins Visier der Sicherheitsbehörden geriet. Du Luart zeigt die schöne, selbstbewusste und humorvolle junge Frau als freigeistige Dozentin beim Unterrichten wie auch als wortgewaltige Rednerin und kompromisslose Widerstandskämpferin auf Parteitreffen, Antikriegsdemonstrationen und Befreiungsprotesten. Angela Davis – Portrait of a Revolutionary ist nicht nur das filmische Porträt einer vielschichtigen Persönlichkeit, sondern auch das Dokument des sozial-politischen Zeitgeists im Los Angeles der ausgehenden sechziger Jahre, das die Reflexion aktueller Ungleichheits-Verhältnisse provoziert.

Eine explizite Verknüpfung zwischen Geschichte und Gegenwart von Rassismus und Bürgerrechtsbewegungen in den USA stellt Raoul Peck in seinem kontrovers diskutierten, Oscar-nominierten Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (2017) her. Basierend auf dem unvollendeten und unveröffentlichten autobiografischen Manuskript „Remember This House“, in dem der nach Europa emigrierte afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) seine Erfahrungen als Schwarzer in den USA und seine Erinnerungen an seine ermordeten Bürgerrechtler-Freunde Malcom X, Martin Luther King und Medgar Evers festhielt, unternimmt der Film mittels einer illustrierenden Collage aus Medienberichten, Interviews, Archivfotos und Hollywoodfilmen der letzten 70 Jahre eine essayistische Revision amerikanischer Demokratie-Geschichte: Rassismus, Chancenungleichheit, destruktive Ausschreitungen, niedergeschlagene Proteste und Polizeigewalt damals wie heute. Den persönlichen und politischen Kampf jener in den Blick nehmend, für die sich das Versprechen von Freiheit und Gleichheit noch immer nicht eingelöst hat, entlarvt I Am Not Your Negro das vermeintliche „Land of the Free“ als Herrschaftsraum des weißen Mannes.

Mary Dore gelingt mit She’s Beautiful When She’s Angry (2015) mehr als eine dokumentarische Rückbesinnung auf die Geburtsstunden des amerikanischen Women’s Liberation Movement in den schziger Jahren: In der Verwebung von historischem Material, das Dore in Archiven quer durch die USA recherchiert hat, und gegenwartsnah geführten Interviews mit den Schlüsselfiguren der Bewegung, zeichnet der Film nicht nur deren Anfänge nach, sondern legt zugleich die Diversität von (teilweise radikalen) Ansätzen und Zielen der feministischen Gruppierungen offen, die auch zu Konflikten innerhalb der Bewegung führten. In seiner kritischen Reflexion und Sichtbarmachung sowohl der positiven Entwicklungen und Errungenschaften als auch der Niederlagen, Rückschläge und noch nicht gewonnenen Gefechte gegen das Patriarchat, gegen Chauvinismus, Sexismus und für die Selbstbestimmtheit von Frauen erweist sich She’s Beautiful When She’s Angry als kraftvolles Plädoyer einer älteren Generation an die Nachkommen: „The bitter lesson is that no victories are permanent“ – women of the world unite!

Zusammenhalt unter Frauen und Emanzipation aus tradierten Geschlechterrollen gehen auch im diesjährigen Eröffnungsfilm Bar Bahar (In Between, 2016) Hand in Hand. In ihrem bei internationalen Festivals mehrfach ausgezeichneten Spielfilmdebüt erzählt die palästinensische Regisseurin Maysaloun Hamoud vom Lebensalltag junger israelischer Palästinenserinnen im pulsierenden Zentrum Tel Avivs und gewährt Einblicke in eine bisher verborgene Facette weiblicher Identitätsentwürfe in patriarchalisch-konservativen Gesellschaften, die den Zuschauer mit eigenen Vorurteilen konfrontieren. Layla (Mouna Hawa) und Salma (Sana Jammelieh) sind unabhängige Frauen, die sich autark durchs Leben schlagen, ihre Sexualität ausleben, trinken, rauchen und Drogen nehmen. Der Einzug in die unkonventionelle Wohngemeinschaft geht für die praktizierende Muslimin und IT-Studentin Nour (Shaden Kanboura) mit einer Horizonterweiterung, dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, erstarkendem Selbstbewusstsein und dem Ausbruch aus der Fremdbestimmtheit ihres Verlobten einher. Hinter der Oberfläche von weiblicher Coolness und rauschhafter Party-Atmosphäre fördert der Film vor allem die individuellen Schwierigkeiten und Kränkungen zutage, denen sich die Protagonistinnen stellen müssen: Nicht immer trifft der Wunsch nach Emanzipation auf Akzeptanz – im Transit zwischen Tradition und Moderne, Staatsbürgerschaft und Kultur ist der Preis der Freiheit bisweilen Einsamkeit.

Wie individuelles Glück und Liebe von gesellschaftlichen Konventionen und sozioökonomischer Chancenungleichheit erstickt werden können, verhandeln auch aktuelle Beiträge des US-amerikanischen Queer Cinema. Joey (Lola Kirke), die Protagonistin in Deb Shovals Spielfilmdebüt AWOL (2016), weiß nach der High School nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Da die Zukunftsperspektiven im Heimatkaff irgendwo in Pennsylvania dürftig sind, drängt die Mutter sie, sich bei der Army zu verpflichten. Als Joey sich in Rayna (Breeda Wool) verliebt – eine deutlich ältere Frau, die mit ihren Töchtern und ihrem Mann in einer Wohnwagensiedlung lebt – und voller Hoffnung eine gemeinsame Zukunft plant, droht die Romanze an der sozialen Realität zu zerbrechen. Ob die Fesseln und Sicherheiten des heteronormativen Lebens zugunsten aufrichtiger Gefühle tatsächlich aufgeben werden, bleibt auch in So Yong-Kims leisem Drama Lovesong (2016) fraglich.

Der Dokumentarfilm Southwest of Salem: The Story of the San Antonio Four (2016) schildert einen realen und folgenschweren Fall von Rassismus und Homophobie: 1994 wurden vier lateinamerikanische Lesben zu Unrecht beschuldigt, die beiden Nichten einer der Angeklagten in satanischen Gruppenorgien vergewaltigt zu haben. Trotz dürftiger Beweislage wurden sie zu über 30 Jahren Haft verurteilt. Mit Home Movies, die die Frauen in ihrem noch normalen Leben zeigen, Interviews mit den Inhaftierten und mit Hilfe von unvoreingenommenen Anwälten wird die Filmemacherin Deborah S. Esquenazi zur Ermittlerin, um den Justizskandal zu entschleiern und den Frauen, die bereits um 20 Jahren ihres Lebens beraubt wurden, wenigstens verspätete Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Um die Suche nach Wahrheit geht es auch in Memories of a Penitent Heart (2016), in dem sich die Filmemacherin Cecilia Aldarondo der Geschichte ihres in den achtziger Jahren angeblich an Krebs gestorbenen peruanischen Onkels Miguel widmet – auf ihrer filmischen Reise in die Vergangenheit kommt sie nicht nur dem Wesen ihres homosexuellen, Aids-kranken Onkels auf die Spur, sie deckt auch vergrabene Familiengeheimnisse auf, die die häuslich propagierte christliche Nächstenliebe schmerzlich vermissen lassen.

Die südkoreanische Produktion Dohee-Ya (A Girl at My Door, 2014) erzählt mit wenigen Dialogen und in eindringlicher Bildsprache von den aus Diskriminierung resultierenden sozialen Verletzungen und seelischen Narben, unter denen Young-nam (Bae Doona) leidet. Als im Fischerdorf bekannt wird, dass die neue Polizeichefin lesbisch ist, sieht sich die engagierte Frau, die ein misshandeltes Mädchen vor ihrem Vater zu schützen versucht, schnell mit Ablehnung, Degradierung und dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs konfrontiert.

In der 1977 für das österreichische TV-Format „Teleobjektiv“ produzierten Dokumentation Frauen im Journalismus wirft die Fernsehjournalistin Elizabeth T. Spira einen Blick auf die Situation von Frauen in der Arbeitswelt und porträtiert fünf engagierte Kolleginnen (darunter Edith Klinger, Helga Rabl-Stadler, Elfriede Hammerl) aus der männlich dominierten Medienbranche, die über Selbstverständnis und Berufsrealität sprechen, in der sie die nicht eingelöste Gleichstellung mit und die mangelnde Unterstützung von männlichen Fachgenossen beklagen – Missstände, die auch bis heute nicht von der feministischen Agenda verschwunden sind. Neben weiteren österreichischen Filmen wie Monja Arts Siebzehn (2017) und Clara Sterns Mathias (2017, heuer bei der Diagonale als bester Kurzfilm ausgezeichnet), zeigt identities auch Kultfilme (Harry Kümels Le Rouge aux lèvres, 1971; Sebastién Lifshitz’ Wild Side, 2004) und Klassiker wie Medhi Charefs Miss Mona (1987), der anlässlich seines 30-jährigen Leinwandjubiläums als 35mm-Kopie präsentiert wird.