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Werner Herzog – Ekstatische Wahrheit. Ein Dossier

Eine andere Wahrheit

| Andreas Ungerböck :: Jörg Schiffauer |
Werner Herzog im Gespräch über gefährliche Situationen, über Todeskandidaten und darüber, warum alle Schauspielerinnen und Schauspieler so gerne bei ihm auftreten.

Wie sehr haben Sie sich denn seinerzeit als Teil des Neuen Deutschen Films gesehen? War das etwas, womit Sie etwas anfangen konnten?

Ich empfand diese Kategorisierung „Das ist der Neue Deutsche Film“ als nicht ganz richtig, weil die Regisseure so unterschiedlich waren. Wir hatten ganz unterschiedliche Seh- und Arbeitsweisen und wollten unterschiedliche Geschichten erzählen. Das hat ja zum Beispiel beim italienischen Neorealismus anders ausgesehen, wo im Wesentlichen ein gleicher Stil da war und ähnliche soziale Anliegen aufgearbeitet wurden. Das hat es ja in Deutschland so nie gegeben. Ich habe mir bald gedacht: „Da sind so viele mittelmäßige Leute dabei, mit denen ich da zusammenarbeite“. Es gab ja 30, 40 Regisseure … kein Hahn kräht heute mehr nach denen. Ich hatte mich da immer unwohl gefühlt, aber für die Vorbereitung von Aguirre, der Zorn Gottes in Peru, da sagte ich mir: „Ich komme nicht mit leeren Händen“ und brachte acht Filme mit. Einige von mir, aber auch zwei 35mm-Filme, das waren so große 25 Kilogramm schwere Trümmer, von Fassbinder. Ich sagte, dass da nicht nur ich bin, der etwas machen möchte, sondern noch einige andere, die etwas in den Knochen haben.

Also Fassbinder offenbar.

Der gehörte zu den wenigen. Fassbinder, Schroeter …Werner Schroeter war einer der wenigen, bei denen ich sagte: „Mein Gott, der kann was“.

Wir haben uns zuletzt beim Filmfestival in Kerala getroffen, bei dieser unglaublichen Eröffnung. Da gab es Standing Ovations für Sie von rund dreitausend Leuten. Sie genießen hohes Ansehen überall auf der Welt. Woher, glauben Sie, kommt Ihre große Popularität?

Ich glaube, das hat sich jetzt auch intensiviert, da viele meiner Filme jetzt über das Internet erreichbar sind. Heute sind es 15-Jährige, die mir aus Indien schreiben oder aus den USA, Brasilien oder Russland. Das ist ganz erstaunlich. Kerala ist sechs, sieben Jahre her, damals war das Publikum noch nicht so jung. Vielleicht kommt es daher, dass in den Filmen eine authentischere Stimme wahrnehmbar ist. Ich höre oft einfach: „Ihre Filme sind besser als die anderen.“ So einfach klingt das dann. Das Internet kann das rasant verbreiten: „Hier ist etwas Besonderes“, das geht oft innerhalb von Tagen. Da sind auf einmal drei Millionen Abrufe deines Films da. Dadurch hat sich auch die Altersstufe der Leute verschoben , die an diesem Kino interessiert sind.

Dass da kein Geld fließt, stört Sie nicht?

Zum Teil fließt Geld, aber wir dürfen nicht vergessen, dass das erfolgreichste Vertriebssystem der Welt immer noch die Piraterie ist. Da fließt Geld, aber nicht für mich. Natürlich gibt es Formen, wo Filme auch sekundär im Internet verfügbar sind, und über bestimmte Plattformen kann ich natürlich auch Geld verdienen. Das ist alles momentan am Einpegeln. Mein letzter Film In den Tiefen des Infernos wurde von Netflix produziert. Der Nachteil an der Sache ist: Sobald der Film ins Internet gestellt wird, in 170 Ländern, mit 17 Sprachversionen und 25 weiteren Sprachen in Untertiteln, ist er quasi weltweit zu sehen, ich habe aber keine Rückmeldung. Netflix behält die Zahlen der Abrufe für sich. Man könnte daraus ja mathematische Formeln berechnen, und die Konkurrenz könnte ähnliche Filme dann viel gezielter bewerben. Für mich ist es aber wichtig, zu wissen, ob bei der Stelle, von der ich finde, dass sie lustig ist jemand gelacht hat, obwohl der Humor sehr schwarz ist. Deswegen war es gut, dass der Film zunächst auch im Kino lief. Ohne Kinostart würde ich auch mit Netflix, Amazon oder sonst jemandem nicht arbeiten wollen. Die Rezeption der Leute, seien es junge Menschen in Brasilien oder Frauen in Indien, ist jetzt hinter einem Vorhang für mich.

Sie haben sich kürzlich in Lo and Behold, Reveries of the Connected World mit dem Internet beschäftigt. Sind Sie dem Internet gegenüber eher negativ oder positiv gestimmt?

Die Frage können Sie mir so nicht stellen. Sie können ja auch nicht fragen, ob ich der Elektrizität positiv oder skeptisch gegenüber stehe. Das ist eine Kategorie, die, glaube ich, nicht anwendbar ist. Natürlich zeigt der Film auch Risiken, die im Internet da sind, er zeigt aber auch gloriose Errungenschaften wie die Entzifferung von Faltungen des Enzyms, was ganz wichtig war für die Krebsforschung. Das haben die größten Super-Computer der Welt nicht schaffen können. Aber über eine Million Videogamers, die sich untereinander vernetzt haben, haben das Problem gelöst. Das hätte man vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten. Ich selbst benutze ja kein Handy, ich brauche es nicht und ich will es auch nicht. Ich will nicht ständig verfügbar sein. Alle meine Freunde jammern immer, dass sie von ihren Mobiltelefonen abhängig sind. An Social Media bin ich nicht beteiligt. Es gibt mich natürlich auf Facebook und Twitter, das sind aber alles Fälschungen. Es gibt mindestens 30 Doppelgänger von mir. Sie können sogar Lebensratschläge von mir bekommen, mit meiner Stimme auf Englisch. Das sind aber meistens ziemlich schwach begabte Imitatoren.

Die neue digitale Technik ist ein Gegensatz zur physischen Präsenz, die Ihre Filme auszeichnet. Ist das nur eine neue Technik, die neue Möglichkeiten bringt,  oder ist das eine grundlegende Verschiebung in der filmischen Arbeit?

Ich glaube, die Technik selbst spielt dabei keine so große Rolle. Ob Sie mit einer digitalen Kamera aufnehmen oder auf Zelluloid, spielt eigentlich nicht so eine große Rolle. Die Vetriebsformen, die jetzt im Internet möglich sind, sind eher interessant. Filmsprache selbst hat sich für mich jedoch nicht verändert, vielleicht mit kleinen Ausnahmen. Der erfolgreichste Film, den ich gemacht habe, war ein Film für YouTube über SMS-Schreiben und Autofahren gleichzeitig. Als Betrunkener sehen Sie ja noch auf die Straße, aber wenn Sie SMS schreiben, schauen Sie auf das Display und haben, weil Sie sich mit 70 Metern pro Sekunde fortbewegen drei Leute tot gefahren. Die Unfallstatistiken sind durch die Decke gegangen, und da wurde ich von Telefon-Providern gebeten, einen Film für YouTube zu machen. Der Film hatte eine unerhörte Resonanz  im Internet. Und die Resonanz ging noch weiter: In 40.000 Highschools ist es für die Schüler, die dort ihren Führerschein machen, Pflicht, sich diesen Film anzusehen. Der Film ist so ergreifend, dass keiner, der ihn gesehen hat, danach noch Texte schreibt, während er Auto fährt. Es gab in einigen Bundesstaaten keine Gesetzgebung zu diesem Thema. Innerhalb von Wochen hat der Staat Vermont in seiner Legislative ein Gesetz erlassen. Ein junger Mann, der drei Menschen tot gefahren hatte, hat ein Strafmandat vom Streifenpolizisten über 60 Dollar bekommen, weil es kein Gesetz dazu gab. Das muss man sich mal vorstellen. Rein juristisch natürlich richtig, wo es kein Gesetz gibt, gibt es auch keine Strafe. Das Gesetz wurde aber jetzt erlassen.

Beim Stichwort Gesetz und USA würden wir gerne auf zwei andere Projekte von Ihnen zu sprechen kommen, die wir sehr beeindruckend fanden: Into the Abyss und On Death Row. Können Sie erzählen wie es dazu kam und wie es war, dort zu filmen?

In den USA gibt es ein stärkeres Gefühl für Zugänglichkeit von Dingen, die mit der Öffentlichkeit zu tun haben. Der Freedom of Information-Act…Sie können auch in klassifizierte Dossiers Einblick nehmen. Sie können sich Gerichtsakten vollständig zur Verfügung stellen lassen. Oder wunderschön: das Hubble-Teleskop, mit dem unglaubliche Bilder vom Weltall gemacht werden. Sie als Österreicher können sich das hochauflösend herunterladen, und Sie als Österreicher können aus diesen Bildern zB einen Kalender machen und diesen kommerziell vertreiben. Sie müssen keine Gebühr an die NASA oder den amerikanischen Staat zahlen. Das ist etwas, was von einer staatlichen Organisation hergestellt wurde und demnach frei verfügbar für alle. Bei einem anderen Film von mir, The Wild Blue Yonder, einem Science Fiction-Film, brauchte ich Aufnahmen von Astronauten in einem Space Shuttle. Ich habe gefragt, ob ich das Material erwerben kann, und was ich dafür tun muss. Da sah mich der Archivar ganz seltsam an und sagte: „Das gehört Ihnen.“ Dann meinte ich: „Ich bin aber Deutscher, gehört das auch mir?“ „Ja, es gehört allen Menschen auf dieser Welt“, und ich konnte das Material kostenlos verwenden. Entschuldigung, dass ich jetzt so ausufernd war. Der Freedom of Information-Act erlaubt es uns auch, mit zum Tode verurteilten Straftätern in Kontakt zu treten. Obendrein sind die Staaten Texas und Florida, die ganz vorne weg sind, was Hinrichtungen angeht, stolz darauf. Die wollen auch, dass das die Allgemeinheit weiß: Wir gehen ganz korrekt nach Protokoll vor, töten die mit irgendwelchen Cocktails von Giften und sind stolz darauf, das der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Daher war es nicht sehr schwer, eine Drehgenehmigung zu bekommen. Die Drehgenehmigung ist aber auch von der Gefängnisleitung einzuholen, und die sagt manchmal nein und muss dafür auch keine Gründe angeben – wenn z.B. einer der Insassen aufsässig war und sich entgegen der Regeln verhalten hat. In einem Fall war ich gerade vor der Abreise zu einem Fall, und da schickte mir Stunden vor der Abreise ein Anwalt eine Mail und sagte: „Um Gottes Willen, tun Sie das nicht. Ich kann meinen Mandanten da nicht beeinflussen, aber er hat die Tendenz, vor Kameras Dummheiten zu sagen, wir haben aber noch ein Gnadengesuch laufen, und das könnte seine Chancen möglicherweise mindern.“ Ich bin dann nicht zum Dreh geflogen. Da war für mich völlig klar, dass ich diesen Fall nicht drehe. Da gibt es dann auch eine Selbstzensur von mir, aber ich habe insgesamt acht Filme gemacht und einen neunten langen Film, Into the Abyss. Gegen Ende gab es einen Fall, bei dem ein eineinhalbjähriges Mädchen bei einem fehlgelaufenen Exorzismus unter furchtbarsten Bedingungen zu Tode gebracht wurde. Das geht einem dann natürlich auch an die Nieren. Ich hätte dann eigentlich noch vier Filme machen sollen, habe das aber dann schlagartig abgesagt, weil ich eines Nachts aufgewacht bin, weil ich jemanden schreien gehört habe. Meine Frau sagte mir ganz entsetzt: „Du hast geschrien“. Ich bin aufgewacht von meinem eigenen Schrei, und irgendwie hatte das mit diesem einen furchtbaren Fall zu tun. Ich machte das Licht an und sagte: „Ende des Drehs. Kein Film mehr über Death-Row-Kandidaten.“  Das ist einfach eine Frage der Ökonomie, wie man mit seinem eigenen Haushalt an Emotionen umgeht.

Sie sind ja dafür bekannt, dass Ihnen schon alles Mögliche widerfahren ist. Was würden Sie denn sagen, war die heikelste oder gefährlichste Situation in der Sie jemals waren? Ich glaube, es gab einmal einen Vulkanausbruch, bei dem Sie ganz nahe dran waren.

Ja auch jetzt erst vor kurzem bei meinem Film Into the Inferno (In den Tiefen des Infernos), da haben wir einen Vulkan, der explodiert ist, gefilmt, aber er hat keinen Schaden angerichtet. Wir sind 60 Sekunden später natürlich geflohen, aber ein paar Tage später sind genau dort, wo unsere Kamera stand, sieben Bauern ums Leben gekommen. Davon gibt es ganz verwackelte, mit dem Handy gefilmte Aufnahmen. Von Bergen von Leichen, von Chaos und Aufregung, die sind auch ein Teil des Films. Sicher war hier ein gewisses Risiko da, aber wir waren vorsichtig, hatten unser Auto auch schon in die Fluchtrichtung umgedreht. Da musste man immer kilometerweit auf einem engen Feldweg fahren, bis man das Auto wenden konnte. Wir hatten also schon die richtigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wäre die Explosion, die ich gefilmt habe, heftiger gewesen, hätten wir immer noch gute Chancen gehabt, mit dem Auto zu entkommen. Es gab natürlich einige Momente, die gefährlich waren. Im Übrigen bei Into the Abyss, dieser eine Junge, der zum Tode verurteilt war, Michael Perry, der sieht ja aus wie ein enger Freund von James Dean, ein oberflächlich wahnsinnig nett wirkender Junge. Als der mir zum ersten Mal gegenübertrat, da dachte ich: „Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so gefährlich ist wie der.“ Das durchfuhr mich mit einer völlig klaren Erkenntnis, und dabei sieht der Junge total nett, freundlich und normal aus. Aber die Morde, die er begangen hat, waren unfassbar nihilistisch, und von dem ging eine Gefährlichkeit aus, die eigentlich gar nicht beschreibbar ist.

Das merkt man auch im letzten Interview, das ja wenige Tage vor seiner Hinrichtung stattfand. Er wirkt darin völlig unbeschwert.

Ja, sein Vater starb auch ein paar Tage vorher. Er hat immer noch gehofft, dass sein letztes Gnadengesuch noch angehört wird und er Aufschub bekommt oder die Strafe in lebenslänglich umgewandelt wird. Aber die Anzeichen waren klar: Er wird hingerichtet werden. Ich kann das durch die Art und Weise, wie ich mit Menschen in Kontakt trete, wie ich in sie hineinschaue, erreichen, dass Perry für eine Stunde nicht mehr wahrgenommen hat, dass er in der Todeszelle sitzt. Es war, als hätte er auf einmal einen Moment voller Möglichkeiten und Freiheit, was er jahrelang so nicht mehr erlebt hat. Der hat auf einmal nicht mehr wahrgenommen, dass er in acht Tagen tot sein wird, und gleichzeitig ist es ja nicht so, dass ich ihm eine schöne Stunde bereiten will. Ich habe ihm gleich zu Beginn gesagt, dass ich weiß, dass seine Kindheit nicht leicht war und dass es in seinem Gnadengesuch Argumente gibt, für die ich Sympathie habe, weil ich kein Verfechter der Todesstrafe bin. Das heißt aber nicht automatisch, dass ich ihn gern haben muss. Und man sieht, dass er einen Moment lang die Luft anhält, weil so überhaupt noch niemand mit ihm geredet hat und sagt: „Okay.“ Dann war auf einmal eine Öffnung da, durch die anders geredet werden konnte als mit sonst jemandem.

Weil wir gerade beim Dokumentarfilm sind: Wie sehen Sie die Debatte, die so alt ist wie der Dokumentarfilm selbst: Was darf man? Darf man Szenen nachstellen, ist ein Dokumentarfilm wirklich authentisch? Welche Haltung haben Sie?

Die Haltung zu Fakten und Wahrheit und solchen Dingen habe ich ausführlich in der Öffentlichkeit dargelegt. Es ist ja im Moment ein Begriff am Zirkulieren, der von mir stammt: die „ekstatische Wahrheit“. Eine tiefere Schicht, die auch jenseits von Faktischem sein kann und die im Film möglich ist, aber auch nur durch Stilisierungen oder durch Mittel, wie sie im Spielfilm angewendet werden. Sicherlich war das auch kontrovers. Heute sind jedoch viele neue Filmemacher da, die mir hier folgen, die stilistisch nicht genauso arbeiten wie ich, aber die andere Wege suchen – weg vom rein faktisch gebundenen Kino. Das sogenannte Cinema Verité zum Beispiel. Eine Fehlentwicklung im Kino oder sagen wir: Das war die Antwort der sechziger Jahre im Dokumentarfilm. Heute haben wir uns ganz woandershin entwickelt, und ich möchte ja da draußen auch keine Kopien von mir erschaffen. Ich sage immer: „Findet euren eigenen Weg, aber versucht wegzugehen von dem rein Faktgebundenen. Versucht auch, Tieferes und Hypnotischeres finden zu können, was im Kino ja möglich ist. Da gibt es viele neue gute Leute. Wir sollten zudem auch versuchen, den Dokumentarfilm vom Journalismus zu trennen, diese Scheidung muss eingereicht werden. Es gibt natürlich auch investigativen Journalismus im Dokumentarfilm, gut, lassen wir das in Frieden. Die sollen das machen, ich mache aber eigentlich andere Dinge. Mich interessieren Dinge, die weit jenseits des Journalismus sind und als Beleg für bestimmte Freiheiten, die ich mir nehme, ist da z.B. Shakespeare, der sagt: „The most truthful poetry ist the most feigning.“ – „Die wahrhaftigste Poesie ist jene die am meisten vortäuscht.“ Ein anderes Beispiel ist für mich die Pietà von Michelangelo. Er betrügt ja nicht die Menschen, die sich die Pietà ansehen, aber der Schmerzensmann, der vom Kreuz abgenommen wurde, ist 33 Jahre alt, seine Mutter jedoch ist 17. Er macht es nicht, um uns zu betrügen, sondern um eine tiefe Wahrheit des Schmerzensmannes als auch der Jungfrau zu zeigen. Keiner hätte gesagt, Michelangelo sei ein Betrüger. In ähnlich primitiver Weise gibt es auch Argumentationen von den politisch Korrekten. Das ist aber ein schafsdummes Argument, denn es gibt kein objektives Kino. Das einzig Objektive ist vielleicht die Überwachungskamera in der Bank. Aber da warten Sie dann 15 Jahre, und es ist immer noch kein Bankräuber da.

Sogar der Dokumentarfilm-Pionier Robert Flaherty hat ja bereits ein wenig geschummelt bei seinen Filmen.

Das ist kein Schummeln, sondern Kondensierung von Wahrheit. Alle haben es gemacht, auch die Lumière-Brüder. Das machen auch die, die groß die Wahrheit auf ihre Schilder geschrieben haben. „National Geographic“ z.B. sagt: „Wir zeigen euch wilde Natur im Serengeti-Nationalpark.“ Sie zeigen einen Leoparden auf einem dicken Baumast, der eine getötete Gazelle dort oben bei sich hat. Das zeigt „National Geographic“, ich habe aber eine Aufnahme gesehen von einem Teammitglied, der dann weiterschwenkt, und unter dem Baum steht ein offenes Fahrzeug mit Touristen, die Fotos von dem Leoparden  machen. Und der Schwenk geht weiter, und da stehen Dutzende Touristen, insgesamt rund 600. 600 Personen filmen  diesen Leoparden. Diesen Schwenk zeigt „National Geographic“ aber nicht. Rein faktisch erzählt uns „National Geographic“ keine Lüge, aber es gibt eine andere Wahrheit jenseits davon und die interessiert mich.

Zu dieser Wahrheit, die darunter liegt: Geht das öfter über sehr extreme Charaktere, die im Mittelpunkt Ihrer Filme stehen? Ich denke da nur an Timothy Treadwell (Grizzly Man).

Gut, bei Timothy Treadwell … Das ist eine Geschichte, über die bin ich gestolpert, oder man könnte sagen, die Geschichte ist in mich hineingestolpert. Da war mir gleich klar, das ist etwas ganz Besonderes. Das haben die, die das ursprünglich machen wollten, gar nicht erkannt. Ich habe mich da auf unfeine Art, muss man sagen, hineingedrängt und das Projekt an mich gerissen, weil ich wusste, dass ich derjenige bin, der das besser machen wird als die anderen. Natürlich ist er ein ungewöhnlicher und extremer Charakter, aber ich glaube, das Kino lebt auch von solchen Charakteren, weil wir tiefere Einblicke in unsere Menschennatur gewinnen. Dadurch, dass eine Person sich selbst unter extremen Bedingungen filmt. So wie Wissenschaftler eine Materie erforschen wollen und dabei ein Glas extremer Bestrahlung, Hitze oder Druck aussetzen. Dadurch erfahren sie mehr über die Natur des Glases. So ist das auch bei menschlichen Charakteren. Ich sage bei Grizzly Man auch im Kommentar: „Das ist kein Film über die wilde Natur, es ist ein Film über die menschliche Natur.“ Treadwell erlaubt tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Natur. Das ist einzigartig, und er hat Aufnahmen gemacht, die haben wir nie zuvor und danach nie wieder gesehen. Das macht den Film ja auch so stark.

Kommen wir noch einmal zu Ihrem Status: Es heißt ja, dass jeder Schauspieler und jede Schauspielerin sofort mit Ihnen arbeiten will. Stimmt das?

Ja, weil sie immer alle gut sind bei mir. Das wissen die, das hat sich auch schnell herumgesprochen. Es ist ja auch Tatsache, dass Nicolas Cage vor kurzem gesagt hat, dass die beste Rolle seines Lebens jene in Bad Lieutenant war. Dann kommt lange nichts, und dann kommt der Film, für den er den Oscar gewonnen hat, Leaving Las Vegas. Er möchte auch unbedingt mit mir wieder etwas Neues machen. Ich habe nur leider im Moment kein Projekt. Das war auch bei Kinski so, dass er gewusst hat, hier ist er besser als bei allen anderen. Oder Veronica Ferres bei Salt and Fire.

Das ist ja auch eine interessante Geschichte. Niemand hätte wohl je vermutet, dass Sie einmal mit Veronica Ferres arbeiten würden.

Richtig, aber ich hatte den Eindruck, die hat viel mehr in den Knochen. Wir haben nicht richtig erkannt, was in ihr stecken kann. Und obwohl ich nur einen geringen Teil ihrer Filme gesehen habe, ohne den Rest zu kennen, weiß ich, dass sie in meinem Film besser, interessanter und tiefer ist als in allen anderen Filmen davor – und vermutlich auch danach.