Martin Scorsese hat das US-amerikanische Kino in den vergangenen fünf Jahrzehnten ganz entscheidend geprägt. „ray“ würdigt ihn mit einem kleinen Schwerpunkt.
Es wäre natürlich eine unzulässige Simplifizierung New Hollywood auf einige wenige Namen zu reduzieren, waren doch dutzende Regisseure, Autoren, Kameraleute, Schauspieler und Cutter maßgeblich an jenem kreativen Schub ab Ende der sechziger Jahre beteiligt, der dem US-amerikanischen Kino zu einem sagenhaften Wiederaufschwung verhelfen sollte. Und doch sind es vier Regisseure, die aufgrund ihrer Arbeiten im kollektiven Gedächtnis mit dieser Bewegung so stark verknüpft werden, dass man ihnen eine herausragende Position konzedieren kann.
Steven Spielberg hat das Genrekino klassischen Zuschnitts revitalisiert und geprägt wie kein zweiter, George Lucas hat mit seiner „Star-Wars“-Saga ein eigenes popkulturelles Universum erschlossen, Frances Ford Coppola definierte mit drei Filmen (The Godfather, The Godfather: Part II und Apocalypse Now) episches Erzählen neu. Und Martin Scorsese, der in bester New-Hollywood-Manier bewährte Kinotraditionen mit neuen Einflüssen verknüpfte und dabei seine ganz persönliche Handschrift als dezidierter Auteur einzubringen wusste. Scorsese verstand es dabei, seinen Filmen Breitenwirksamkeit zu verschaffen, ohne dabei Abstriche bei seinen eigenen hohen Qualitätsansprüchen zu machen. Dass erscheint umso bemerkenswerter, als Martin Scorsese in seinen Filmen Geschichten erzählt, die oftmals die finstersten Seiten Amerikas betonen und in hohem Maß verstörend wirken. Exemplarisch steht dafür Taxi Driver (1976) mit der von Robert DeNiro gespielten Titelfigur Travis Bickle. Der Vietnamveteran vereinsamt im Großstadtdschungel von New York zusehends, bis sich seine Frustration in jenem Gewaltexzess entlädt, der mittlerweile fixer Bestandteil der Kinogeschichte geworden ist.
New York, die Stadt, in der Martin Scorsese am 17. November 1942 geboren wurde und aufgewachsen ist, hat ihn und seine Filme stark geprägt, insbesondere seine Erfahrungen aus Little Italy. Das organisierte Verbrechen und der Katholizimus – Scorsese absolvierte ein Jahr des Priestersemimars ehe er an die New York University wechselte – samt ihren speziellen Riten gelten als jene starken Einflüsse, die immer wieder Eingang in seine Filme findet. Doch angesichts von Scorseses vielschichtigem Œuvre – von New York New York, Raging Bull, After Hours bis hin zu The Age of Innocence – greift eine eindimensionale Vermengung von Leben und Werk natürlich zu kurz. Themen wie Schuld, Vergebung, Erlösung, Loyalität, Freundschaft und Gewalt haben eine festen Platz bei Scorsese, doch seine Filme mit ihren vielfältigen Sujets sind immer auch eine Reflexion und Erforschung des Kinos selbst (Hugo als Hommage ist das offenkundigste Beispiel dafür). Goodfellas (1990) und Casino (1995) etwa haben ihre Wurzeln im klassischen Gangsterfilm, doch Scorsese bricht mit gewohnten Erzählstrategien und entwickelt dabei das Genre auf formaler Ebene mittels extensiver voice-over-Kommentare, ikonischen Popsongs, die narrative Funktion übernehmen und Freeze Frames weiter. Shutter Island (2010) wiederum ist ein Paranoia-Thriller, der vordergründig nach klassischem Muster inszeniert ist, jedoch auf raffinierte Art und Weise eine Erzählinstanz etabliert, die gängige narrative Strategien komplett unterläuft. Dass Martin Scorsese filmischer Wagemut auch nach Jahrzehnten nicht nachgelassen hat, lässt sich anhand zweier seiner Arbeiten aus jüngerer Vergangenheit, die gegensätzlicher nicht sein könnten, demonstrieren. The Wolf of Wall Street (2013) zeigt als knapp dreistündiges, fulminantes Biopic den Irrsinn der Finanzwelt modernen Zuschnitts, Silence (2017), Scorseses bislang letzter Film, erweist sich als historisches Drama, das auf beinahe kontemplative Art fundamentale Glaubensfragen stellt. Martin Scorseses Gesamtwerk in all seinen Facetten gerecht zu werden würde wohl den Rahmen sprengen, „ray“ versucht mit zwei Texten, die ganz unterschiedliche Aspekte seines filmischen Schaffens abhandeln, eine Annäherung.