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Kinder unter Deck

Filmkritik

Kinder unter Deck

| Roman Scheiber |
Eine traumatische deutschbaltische Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts – eindrucksvoll aufgearbeitet

Und wieder so ein für die Produktionsfirma Freibeuter typischer Dokumentarfilm. Typisch im ausschließlich positiven Sinn: mutig, persönlich, politisch, berührend, Verdrängtes ans Licht, Traumata aus Tabuzonen herausholend, geschichts- und gesellschaftsbewusst. Regisseurin Bettina Henkel war als Produzentin schon an etlichen Filmen der Freibeuter um Oliver Neumann beteiligt, an jenen der Firmen-Mitgründer Sudabeh Mortezai und Sebastian Meise zum Beispiel, und auch an der tief bewegenden Aufarbeitung einer Kindheit in der Mühl-Kommune (Paul-Julien Roberts Meine keine Familie, siehe „ray“ 04/13). Dabei stand Henkel weit weniger Archivmaterial als Robert zur Verfügung, aber das an die Wurzeln reichende Ergebnis ist ähnlich beeindruckend.

In Kinder unter Deck (die Bedeutung des Titels erschließt sich an passender Stelle im Film) geht es im Kern um „vererbte Gefühle“, ein schon von Sigmund Freud geprägter Begriff. In jüngerer Zeit hat die Psychologie vermehrt zur unbewussten Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen geforscht, in diesem Film findet sie nun gewissermaßen ein praktisches Lehrbeispiel. Bettina Henkel nämlich, die aus einer deutschbaltischen Familie stammt, hat eine sogenannte transgenerationale Übertragung selbst erlebt: „Als Kind hatte ich Angst vor der Wut meines Vaters, vor allem aber vor seinen Stimmungsschwankungen, dem Verstummen, der Wortlosigkeit und der Versteinerung.“ Helge Henkel, dessen sympathische Ausstrahlung und bereitwillige Kooperation entscheidend zum Gelingen beiträgt, ist die Hauptfigur des Films. Es ist eine Forschungsreise zu den Schauplätzen (Lettland, Polen, Wien) und Umbrüchen (politische Umwälzung, Flucht, Krieg) einer komplexen Familienbiografie. Das extrem Spannende daran ist, dass sich mit Helge Henkels Mutter, der Großmutter der Filmemacherin, sehr bald das eigentliche Zentralgestirn herausschält: spärlich im Bild, häufig im Gespräch, in ihrer schweigenden Wirkmacht auf diese Familie jedoch unheimlich präsent. Und anders als Helge sich einst seiner Mutter emotional „unterordnen“ musste, ordnet Bettina sich für ihren Film weitgehend dem Vater unter – was zu einigen ergreifenden Momenten führt.

Es ist hier kein Platz, um sich über die hochinteressante Biografie der Henkels zu verbreitern. Ein bestimmter Aspekt daran könnte anderen deutschsprachigen Familien freilich zum Anlass dienen, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen, sofern sie das nicht bereits getan haben. Denn auch wenn es nun 75 Jahre her ist: Hunderttausende von uns sind „Gefühlserben“ oder zumindest Nachfahren der Mitläufer und Profiteure einer verbrecherischen Generation.