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Es geht darum, den Menschen im Menschen zu wecken

| Ruslana Berndl |

Alexander Sokurow im Gespräch über seinen Film Francofonia, das schwierige Arbeiten im Louvre, den Mut zweier Männer und das Wesen der Revolution.

Alexander Sokurows Werk ist durchzogen von einem tiefen Misstrauen gegen das, was man die Moderne nennt. Das mag problematisch, konservativ, ja reaktionär sein, ist aber zugleich der Quell für sein modernes Kino. Diesen Widerspruch zeigt auch Francofonia. Essayhaft durchdringen und widersprechen sich darin verschiedenste Ideen und Argumente über die Bedeutung von Kunst, im Besonderen von Museen. Aus der Geschichte des Louvre während der NS-Besatzung von Paris ersteht ein wildes, intellektuelles Spektakel, ein Abgesang auf die Fiktion einer „europäischen Kultur“.

„Mir scheint, der Film ist nicht gelungen“ heißt es gleich in der ersten Szene  von „Francofonia“. Das klingt ein bisschen nach Selbstzerfleischung …
Ich empfinde es so. Ich wollte einen etwas anderen Film machen. Es ist nur ein Film, und es gelingt nicht immer. Es gab nicht die entsprechenden Bedingungen, die notwendige Zeit. Vieles fehlte, um einen Film zu machen, mit dem man völlig zufrieden sein kann.

Was fehlte genau?
Die Mittel und die Zeit, die Möglichkeiten und die Fachleute, vieles hat mir gefehlt. Ich bin trotzdem verantwortlich dafür, was entstanden ist.

Gibt es überhaupt ideale Filme?
Ich glaube nicht an ideale Filme, auch nicht an ideale Regisseure. Ich glaube deshalb nicht daran, weil dieses Handwerk ein ganzes System von Unmöglichkeiten in Bezug auf die Realisierung in sich birgt. Nachher heißt es dann: „Nein, das geht nicht, das ist unmöglich.“ Und niemand sagt einem bei der Arbeit: „Machen Sie und so weiter.“ Leider ist es so, und jeder Regisseur ist damit konfrontiert. Jeder Regisseur, der wirklich diesen Beruf ausübt, kennt dieses Problem.

Ich würde schon behaupten, dass Ihr Film „The Lonely Voice of Man“ (1987) genial ist…
Ich weiß nicht. Ich sehe das anders. Ich liebe den Film, aber ich finde ihn nicht genial. Es gibt auch dort sehr viele Mängel, und ich sehe sie, weil ich weiß, was ich machen wollte und sehe, was entstanden ist. Sie können einen beliebigen Regisseur fragen, und wenn er kein Verrückter ist, sondern ein normaler, realistischer, seriöser Mensch, wird Ihnen keiner sagen, dass sein Werk genial ist, oder dass sein Werk endgültig ist. Nur Tarkowskij konnte sich vielleicht erlauben, so etwas zu sagen. Ich kenne keinen anderen Regisseur, der das über sich sagen könnte.

Am Anfang des Films versuchen Sie, Tolstoi und Tschechow wachzurufen. Warum sind für Sie diese „nicht lebendigen“ Gesprächspartner so wichtig?
Das sind Menschen, die für die Gestaltung des 20. Jahrhunderts viel geleistet haben, die in sich ein großes Volumen der europäischen Kunst aufgenommen haben und die selber einen großen Einfluss auf die europäische Kunst und auf das europäische Leben ausübten. Sie haben in Vielem die moralischen Kategorien ihrer Zeit bestimmt. Es wäre gut, unsere Taten nach solchen Menschen zu messen. Es wäre gut, wenn es sie jetzt gäbe. In unserer Zeit gibt es sie nicht mehr.

Warum ziehen Sie eine Parallele zwischen dem okkupierten Paris und der Blockade von Leningrad?
Das ist nicht meine Parallele, das war die historische Situation. Ich habe die Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse nicht erfunden. Zum einen gab es ein gutes, zufriedenes, sattes Leben in einem Teil der Erde und eine absolut elendige, schreckliche Situation in einem anderen Teil der Erde. Und die gleichen Protagonisten: die deutsche Armee und das jeweilige Volk.

Es scheint auch Parallelen zu dem zu geben, was jetzt in der Welt geschieht – einerseits die Verzweiflung der Menschen, andererseits diese mörderische Wut  …
Wenn mein Film solche Gedanken anstößt, dann hat er seine Rolle erfüllt. Für den Film ist ja nicht so wichtig, was der Autor sagen wollte, als vielmehr, welche Reflexionen bei den Zuschauern ausgelöst werden.

Das heißt, es geht mehr darum, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben.
Es ist wichtig, ob es dem Film gelingt, den „Menschen im Menschen“ zu wecken. Wenn ja, dann ist es gut. Es können unterschiedliche Meinungen sein, wir können niemals vorher sagen, welchen Nachhall etwas in der Seele eines Menschen findet. Vielleicht erweisen sich Dinge, die mir wunderbar und edel vorkommen, im Bewusstsein eines anderen Menschen als etwas Schreckliches. So ist die menschliche Natur. So schwierig ist der Prozess der Wahrnehmung.

Wann hatten Sie die ersten Erfahrungen mit dem Besuch von Museen?
Das war in Gorki, wohin ich kam, um an der Uni zu studieren. Damals hieß es Gorki, jetzt heißt es Nischni Nowgorod. Das ist eine Stadt an der Wolga. Meine Mutter stammt von dort, und ich studierte an der Fakultät für Geschichte. Meine ersten Museumseindrücke sind mit den dortigen Gemäldegalerien verbunden. Die russischen Kaufleute haben diese Galerien in ihren Villen an der Wolga eröffnet, indem sie in ganz Europa für teures Geld Bilder kauften, die Impressionisten und italienische Renaissance. Sie waren reich, sie gaben viel Geld für die Gemälde aus. Sie kauften Häuser und eröffneten dort Galerien. Als ich später in Moskau studierte, besuchte ich die Tretjakow-Galerie, und natürlich war ich verzaubert. Aber der Höhepunkt war sicherlich die Eremitage, als ich nach Sankt Petersburg kam, mit 26 oder 27 Jahren.

Wie war es, als Sie das erste Mal in den Louvre kamen?
Auf mich machte der Louvre als Gebäude keinen Eindruck. Es war sehr gewöhnlich für mich, sehr überlegt und nüchtern. Ich verspürte drinnen keine Emotionen, im Unterschied zur Eremitage oder zu den Gemäldegalerien an der Wolga in den alten Villen. Im Louvre hatte ich einen offiziellen Eindruck, keinen emotionalen. Ein Museum eben. In der Eremitage riecht es nach dem Haus, es gibt sogar den Geruch des Rotholzes. Als ob du zu Hause wärst. Im Louvre gibt es diese Atmosphäre nicht. Trotz der alten Säle wirkt das Ganze eher modernistisch. Das ist aber auch sehr subjektiv. Natürlich bemühst du dich zuerst, diese Atmosphäre der Architektur wahrzunehmen und zu verstehen. Und am Ende kommt es darauf an, was du an den Wänden hängen siehst. Der Louvre macht einen starken Eindruck in Bezug auf seine Sammlung, aber die Eremitage ist herzlicher.

Sie haben im Louvre auch sehr viel Zeit während der Nacht verbracht. Ist das nicht wieder ein ganz anderer Eindruck?
Ich war auch sehr viel nachts in der Eremitage, während der weißen Nächte. Das ist eine bezaubernde Erfahrung. Im Louvre war es sehr schwierig zu arbeiten. Im administrativen Sinne. Man hat uns nicht nur nicht geholfen, sondern man hat uns entgegengearbeitet.

Warum?
Vieles in Francofonia ist nicht gelungen, weil wir keine Dreherlaubnis im Louvre hatten. Es herrschten äußerst unangenehme und untaugliche administrative Verhältnisse. Das ist so eine Phase. Ein Direktor hat den anderen ersetzt. Es gibt eine neue Administration, vielleicht hatten sie schlechte Laune. Die Mitarbeiter die uns begleiteten, versuchten immer zu zeigen, dass sie die wichtigsten sind. Für uns wurden die Türen eher geschlossen als geöffnet. Vieles ist deshalb nicht gelungen, weil es keine gute Atmosphäre gab.

Wie lange haben die Dreharbeiten im Louvre gedauert?
Zirka drei Wochen. Für Aufnahmen im Museum ist das viel. Gerechtigkeitshalber muss man aber auch sagen: In keinem Museum ist es einfach zu arbeiten. Das Museum ist kein „Drehort“. Und die Beschränkungen, die dem Drehteam aufgelegt werden, sind berechtigt. Man muss vorsichtig und feinfühlend sein und so weiter. Ich bin damit einverstanden, ich habe in vielen Museen gearbeitet und begegne ihnen mit Liebe und Respekt. Aber wenn man mir direkt entgegenarbeitet, dann ist es sehr schwierig.

Würden Sie gerne den Zyklus der Filme über Museen fortsetzen? Zum Beispiel im Prado oder im Kunsthistorischen Museum in Wien?
Niemand hat es mir angeboten. Ich habe daran nicht gedacht, das ist eine sehr teure Prozedur, die eine sehr gute Ausstattung erfordert. Unsere Produzenten haben für Francofonia ja eine wunderbare Ausstattung gefunden, und wir hatten einen wunderbaren Kameramann, Bruno Delbonnel. Das ist ein großer Mensch, ganz großartig und überragend in der Kamerakunst. Er ist gebildet. Ein Mensch, vor dem ich mich verbeuge und den ich sehr liebe.

Ist es schwierig, mit ihm zu arbeiten?
Fragen Sie lieber, ob es einfach ist, mit mir zu arbeiten … Das ist die Frage an ihn und nicht an mich. Er hat eine sehr gute Einstellung. Er fühlt sich verpflichtet, maximal korrekt die Wünsche des Regisseurs zu erfüllen. Ich habe mehr als einmal beobachtet, dass Kameraleute nur für ihren Selbstzweck arbeiten. Als ob es den Regisseur nicht gäbe. Sie filmen ihre eigene Filme. Mir ist so etwas nicht passiert, aber bei anderen Regisseuren habe ich es gesehen. Bruno versucht immer, der Regiekonzeption auf den Grund zu gehen. Und wenn etwas nicht gelingt, dann ist es nicht, weil er es nicht konnte, sondern weil ich es nicht geschafft habe, es ihm zu erklären, weil mir vielleicht die Phantasie fehlte oder die Worte oder die genaue Formulierung.

Das heißt, Sie geben dem Kameramann keine Freiheit. Wie Sie selber einmal sagten: Die Regie ist eine totalitäre Kunst.
Freiheit schon, aber ich unterliege als Regisseur der Aufgabe, den Film zu schaffen. Alle meine Assistenten, das ganze Drehteam. Jemand muss doch sagen, wohin die Reise geht. Wenn es keinen Kapitän gibt, wozu braucht man dann ein Schiff? Das Schiff ist auf die Steuerung angewiesen. So ist es auch beim Film.

In „Francofonia“ arbeiten der Direktor des Louvre, Jacques Jaujard, und der Nazi-Beamte Franz Wolff-Metternich heimlich zusammen, um die Kunstschätze zu retten. Sind die beiden für Sie so etwas wie Priester, die Kinder retten? Sind sie Propheten oder Träumer?
Weder noch. Aber sie sind natürlich besondere Menschen. Und was sehr wichtig ist: Sie sind Menschen, die sich in einer Grenzzone befinden. Sowohl Metternich als auch Jaujard würden sich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich verhalten. Wenn die französische Regierung auf Jaujard Druck ausüben und ihn zwingen würde, aktiv mit den Deutschen zu kollaborieren, ich glaube, er würde das tun. Wenn die deutsche Regierung sich in diese Probleme einschalten und Metternich befehlen würde, alle bürokratischen Regeln zu missachten und die Bilder und die Schätze in die Waggons zu laden, würde er das tun. Darin liegt der Reiz dieser Situation. Unter den gegbenen Bedingungen haben diese Menschen den ehrlichsten Weg gesucht. Sie begannen alles zu tun, was sie können. Und es stellte sich heraus, dass diese zwei kleinen Menschen – jetzt im Vergleich zu Hitler und zur französischen Regierung gesehen – mehr oder weniger ihre Vorstellungen in Übereinstimmung bringen konnten, zumindest solange Metternich dazu in der Lage war. 1942 wurde er aus Paris entfernt. Bis dahin hatte er sich immer an irgendwelche Gesetze geklammert und es so geschafft, nicht zu tun, was man ihm aufgetragen hatte. Aber 1942 war das sowieso kein Thema mehr. Die Deutschen hatten dann andere Sorgen, in erster Linie an der Ostfront – eine ganze Kette von Niederlagen, beginnend mit Moskau.

Wenn sie selber in einem Boot wären und die „Mona Lisa“ und einen Menschen transportieren würden, und Sie würden in einen Sturm geraten, wen würden Sie retten?
Natürlich den Menschen.

Warum?
Weil es ein Mensch ist

Würden Sie Ihr Leben opfern, um die „Mona Lisa“ zu retten?
Ich weiß nicht, da müsste ich nachdenken. Wahrscheinlich, wenn es niemanden gäbe, der von mir abhängig wäre, keine Familie, keine Kinder. Gewöhnlich verteidigen sich die Menschen in solchen Situationen bis zum Geht-nicht-mehr. Und dann kommt es doch so, wie Gott will. Entweder lässt er die „Mona Lisa“ und alle Sokurows untergehen, oder er erlaubt es einem, sich zu retten, oder es retten sich alle.

In Ihrem Film wiederholt Ihre Heldin Marianne oft die Schlagworte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ist das nicht eine Schablone?
Jetzt ja. Zur Zeit der Revolution wurde das in Frankreich noch aufrichtig geglaubt. Aber das ist es sehr schnell vorbei gewesen. Man sagt ja oft, die russische Revolution, die Bolschewiken, wie schrecklich das war. Ja, sie waren keine Engel, aber die französischen Revolutionäre waren auch Drachen mit vielen Köpfen. Heutzutage muss man diesem Slogan mit Wehmut begegnen, mit leiser Wehmut, weil alle anderen Emotionen bis zur Empörung schon geäußert wurden. Es bleibt nur leise Wehmut, weil sich keine einzige dieser Parolen sich in der Praxis einer europäischen revolutionären oder öffentlichen Bewegung als wahr erwiesen hat. Es gibt keine Brüderlichkeit in der Wirklichkeit. Schauen Sie sich ein beliebiges europäisches Land an, und Sie werden sehen, dass das nur schöne Worte sind. Und wenige verstehen, welchen Sinn diese Worte haben.

Warum lässt sich die moderne Gesellschaft in der Mehrheit der globalen Fragen von der Religion oder von einer herrschenden Macht leiten? Wo bleibt die eigene Vernunft oder mindestens die Intuition?
Weil in den Händen der Religion der systematische Willen und die Begriffe konzentriert sind, ebenso in der Politik. Für die Gesellschaft ist es sehr wichtig, dass etwas reflektiert ist. Die Gesellschaft folgt den Ideen, die sich herausgebildet haben und die die Zeit geprüft hat. Deshalb folgt man der Kirche, dem Staat. Weil Menschen in ihrer Masse keine eigenen Ideologien erarbeiten können. Und niemals erarbeiten Sie einen Sinn. Der Sinn wird von den Menschen erarbeitet, die religiöses Bewusstsein haben, oder von Menschen, die das Wesen des staatlichen Apparates kennen.

Ist für Sie Religion das schlimmste Übel der Gesellschaft?
Nein, aber Religion ist eine persönliche Sache jedes Menschen, nicht öffentliches Gut. Das Übel daran ist die Institution, die Kirche. Das ist sehr ernsthaft und gefährlich, egal, ob es in Russland der Patriarch ist oder der römische Papst in Europa. Es besteht immer das Risiko eines einzelnen personifizierten Gottes, der ja eigentlich ein Mensch ist.

Ist es nicht gefährlich, wenn es keine Trennung zwischen Religion und Staat gibt?
Es ist gefährlich. Die Religion fordert von den Menschen, die Augen zu schließen und ihr mit geschlossenen Augen zu folgen, etwas zu glauben, ohne es zu überprüfen. Das Abschalten der Vernunft, Bildung, Aufklärung – das ist es, was die Religion fordert. Die Religion braucht keine Aufklärung. Das sind absolut entgegengesetzte Tendenzen: Die Religion ist in die Vergangenheit gewandt, die Aufklärung in die Zukunft. Religion ist pessimistisch, Aufklärung optimistisch.

Wie sehen Sie die aktuelle politische Situation mit den vielen Flüchtlingen?
Das ist eine große politische Operation. Es gibt keine Freiheiten mehr. Über welche Freiheit kann man in der gegebenen Situation sprechen? Über die Freiheit, dein eigenes Land zu verlassen oder über den neuen Kolonialismus? Wenn Europa diese Flüchtlinge aufnimmt, ist das ein neuer Kolonialismus. Sie verstehen, warum Europa damit einverstanden war, dass handlungsfähige, erwachsene Leute ihr Land verlassen und nach Europa kommen. Hier werden sie irgendwelche Arbeiter sein. Wir können ahnen, für welche Arbeiten sie eingesetzt werden. Und Europa interessiert gar nicht, was mit jenen Ländern passiert, die von hunderttausenden Leute verlassen werden, und ob diese Länder jemals wieder aufgebaut werden. Die Frage, was dort übrig bleibt nach dem Exodus der Flüchtlinge, ist eine sehr große Verantwortung. Wer diese Länder wieder aufbauen wird. Da droht ein neuer Kolonialismus.

Sie haben einmal gesagt, dass es im Kino unmöglich sei, etwas tatsächlich Hervorragendes zu schaffen. Was muss in der Filmkunst passieren, damit das vielleicht doch geschieht?
Ich glaube, es ist notwendig, dass hervorragende Persönlichkeiten in der Kinematografie arbeiten. Vielleicht war Bergman so jemand oder Eisenstein, ich bin nicht sicher. Bergman hatte Glück,  Eisenstein nicht, weil er in der Sowjetunion war und durch Ideologie und Zensur erstickt wurde. Was aber den Maßstab anbetrifft, war Eisenstein eine großer Wegbereiter des Kinos. Die Kinematografie hat so ein großes Geschenk, so einen begabten Menschen gar nicht verdient.

Marianne sitzt vor der „Mona Lisa“ und sieht Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Napoleon sieht sich und seine Trophäen, Dali malt ihr seine eigenen Augen, Schnurrbart und die Hände. Was sehen Sie, wenn Sie vor der „Mona Lisa“ sitzen?
Eine Botschaft aus lang verklungenen Zeiten an unsere Zeit und an die Zukunft. Die Größe der künstlerischen Arbeit eines Porträtisten, den weder ein Fotograf, weder Kino noch Fernsehen, niemand, ersetzen kann. Das Innerste des menschlichen Wesens, alle Eigentümlichkeiten eines Menschen, die Größe eines Menschen wurde in der Malerei in den Porträts ausgedrückt. Niemand hat dieses Niveau der Einfühlung in der Menschlichkeit später erreicht. Das können keine Schriftsteller, das kann kein Kino, es können nur die Maler. Sich so tief in den Menschen versenken, so vorsichtig und feinfühlig arbeiten können nur sie. Die Maler sind nicht die, die Masken von Toten abnehmen, sondern die, die uns lebendige Menschen erhalten lassen.

Warum bleiben Sie in dem Film bei den französischen Porträts?
Weil es diese Menschen gar nicht mehr gibt. Wir wissen gar nicht, was das für Menschen sind. Aber nach den Gesichtern in den Porträts verstehen wir die Veränderung der Physiognomie und wie sich das französische Volk mit der Zeit veränderte. Wir wissen gar nichts von diesem Teil der Evolution in der muslimischen Welt, nicht, dass es dort keine darstellende Kunst gibt. Ich war in Doha im Museum für Islamische Kunst. Sie haben grandiose künstlerische Exponate, aber es ist alles Design. Es gibt dort keine Menschen. Das ist eine absolut andere Vorstellung von der Welt und der Kunst. Dort gibt es eine absolute Harmonie, die es in der christlichen Kunst nicht gibt, weil hier der Hochmut des Künstlers immer stört. Genauso war es in der Renaissance: Jeder Künstler war hochmütig. Wir kennen praktisch keinen der Künstler, die die Tafeln zum Schmücken von Moscheen schufen. Die erste Ausgabe des Korans hat unglaubliche Illustrationen, das ist eine unglaubliche Schönheit, eine nicht irdische Schönheit.

Warum hat man Ihren Film bei den Filmfestspielen von Cannes nicht ausgewählt, sidass er erst in Venedig gezeigt wurde?
Sie hatten einfach Angst. Und der Direktor des Festivals mag mich gar nicht und ist äußerst verärgert mir gegenüber.

Warum das?
Weil ich eine unabhängige Meinung habe, weil ich dagegen kämpfe, dass ständig gewalttätige Filme gezeigt werden. Ich sprach mit dem Direktor des Festival darüber, dass ich ihn dazu aufrufe, diesen Kampf zu unterstützen. Das macht natürlich Ärger, wenn irgendein Regisseur sich erlaubt, ihm, dem Gesetzgeber der filmischen Moden, vor dem alle zittern, zu widersprechen. Wie kann man es nur wagen, einem Franzosen, und noch dazu dem Direktor des Festivals von Cannes zu widersprechen? Das ist so etwas wie Blasphemie.

Lag es vielleicht auch daran, dass Ihr Film den französischen Mythos vom Widerstand gegen die Nazis ankratzt?
So kann man das nicht sagen. Gott sei Dank sind viele Franzosen sehr selbstkritisch. Es gibt in Frankreich eine große Diskussion darüber – auch ohne meinen Film –, ob sie gut gehandelt haben, indem sie Deutsche reingelassen haben, ob sie richtig gehandelt haben, als sie die Kapitulation erklärt haben, ob sie richtig gehandelt haben, als sie die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung zugelassen haben. Die Franzosen haben selber Juden denunziert, ohne dass die Deutschen sie dazu aufgefordert haben. Das Festival von Cannes hat sich nicht leicht getan, mir abzusagen, aber da dieser Film, wie sie sagen, Frankreich beleidigt, haben sie ihn dann nicht genommen.

Womit genau beleidigt der Film Frankreich?
Weil ich kritisch bin. Ich habe mich mehrmals vergewissert, dass alle Gespräche darüber, dass irgendwelche demokratische Prinzipien existieren und dass eine demokratische Instanz im westlichen Europa gibt, sehr stark bildhafte Sachen sind. Es gibt genauso wie in Russland Komplotte, genauso wie in Russland eine staatliche Kontrolle. Alle Länder leben nach dem gleichem Maßstab, aber irgendwo macht man es klüger und feiner, und woanders gröber und ohne auf irgendetwas zu schauen. Man beurteilt in Europa Russland kritisch, aber bei sich zu Hause passiert das Gleiche. In Wirklichkeit ist es die gleiche Situation.

Hätten Sie „Francofonia“ auch mit russischem Geld machen können?
Das weiß ich nicht, ich habe das gar nicht versucht. Ich bin kein Liebling des Kulturministers, vielen in der Leitung gefällt meine politische Einstellung nicht, und ich habe keine persönliche Beziehung mit diesen Menschen. Ich denke, wenn ich einen Antrag auf staatliche Förderung gestellt hätte, hätte ich sie wahrscheinlich nicht bekommen. Aber ich habe ihn nicht gestellt, schon allein, um keine Zeit zu verlieren. Gott sei Dank haben Franzosen, Deutsche und Holländer gesagt, sie würden das Geld auftreiben – und so war es auch.

Woran arbeiten Sie zur Zeit?
Es ist zu früh, um darüber zu sprechen. Aber es gibt mehrere unterschiedliche Ideen.