Sowohl die Quinzaine des Réalisateurs (Directors Fortnight) als auch die Semaine de la Critique neigen sich dem Ende zu.
Nach zehn der 13 Tage des Festival de Cannes ist viel passiert, vom heiß diskutierten Auftritt von Justin Timberlake und Anna Kendrick zu Anfang der Woche bis zu dem Rekorderfolg von Toni Erdmann mit bisher nie erreichten durchschnittlichen 3,8 von 4 Sternen bei der Kritik. Auch die Vorführungen der Quinzaine des Réalisateurs sowie der Sémaine de la Critique waren gut besucht, und bald wird entschieden, welche Regisseure das Festival mit einem Preis verlassen.
Vor allem die Quinzaine des Réalisateurs hat sich in einem Film nach dem anderen übertroffen – so etwa mit L´economie du Couple (After Love), einem sehr ruhigen Drama des belgischen Regisseurs Joachim Lafosse, der bereits 20007 einen Film in dieser Sektion hatte. Der Film erzählt von Marie und Boris, einem Paar mit zwei kleinen Töchtern, das sich nach 15 Jahren Ehe scheiden lassen will. Ihre finanzielle Situation ermöglicht nicht, dass eine/r von ihnen aus dem gemeinsamen Haus auszieht und so müssen sie sich irgendwie gemeinsam mit dieser Situation zurechtfinden. Obwohl die sowohl die Geschichte als auch ihre Charaktere dazu einladen, einen lauten und impulsiven Film zu vermuten, läuft L´economie du Couple trotz aller emotionalen Höhen und Tiefen scheinbar gleichmäßig und besonnen vor sich hin. Dieser Kontrast zwischen Inhalt und Stil des Films balancieren ihn auf eine Weise aus, die ihn umso sehenswerter macht.
Ein weiterer Publikumsfavorit war Les Vies de Therese des französischen Regisseurs Sébastien Lifshitz, ein 40-minütiger Film, der bei seiner ersten Aufführung in Cannes Standing Ovations erhielt. Lifshitz portraitiert auf Wunsch der feministischen Ikone Therese Clerc die Geschichte von Clercs Altern und Ableben. Wer jedoch erwartet, einen tieftraurigen Film zu sehen, irrt sich – sowohl die alte Frau selbst, als auch ihre Kinder und anderen Weggefährten bewahren bis zuletzt einen ehrlichen Humor, der, gepaart mit den zerstreuten Aufnahmen ihres Lebens, eher eine energiegeladene Hommage an das Leben als ein Bild des Todes ist.
Nathan Morlanos Mean Dreams löste sehr gemischte Reaktionen aus. Die Jagd eines kriminellen Polizisten (Bill Paxton) nach seiner Tochter(Sophie Nélisse), deren Freund (Jungstar Josh Wiggins) versucht hatte, sie aus den Fängen ihres gewalttätigen Vaters zu befreien, stieß teils auf harte Kritik, teils auf großes Lob. Was Morlano aber auf jeden Fall gekonnt meistert, ist, in Momenten der Anspannung und Brutalität dem Zuseher noch einen Schlag in die Magengrube zu verpassen, indem er durch das Verhalten seiner zwei jungten Protagonisten daran erinnert, dass das ohnehin schon undurchsichtige Gewirr aus Gewalt und Ausweglosigkeit auch noch von zwei Kids mit eingeschränkter Wahrnehmung und Handlungsbandbreite betrachtet wird. Letztlich ein äußerst sehenswerter Film.
Zu erwähnen ist hier sicherlich auch noch die bereits im Vorfeld des Festivals viel besprochene „Anti-Biografie“ Pablo Nerudas, Neruda von Pablo Larrain. Ein faszinierender Film, der allerdings durch bessere Kenntnisse der Originalsprache Spanisch oder der französischen Untertitel sicher noch weitaus mehr Facetten zeigt.
Auch die Sémaine de la Critique neigt sich ihrem Ende zu. Hier bleibt aus allen Kurz und Langfilmen definitiv der Eröffnungsfilm In Bed with Victoria am stärksten in Erinnerung. Justine Triet zeigt darin die Anwältin Victoria (perfekt verkörpert von Virginie Efira) und ihr Leben, das mit jeder Minute noch chaotischer wird. Neben Efira glänzt vor allem der französische Jungstar Vincent Lacoste als Ex-Drogendealer, Au-pair und Vertrauter Victorias.
Abgesehen davon haben Filme wie Grave (Raw), eine französisch-belgische Produktion unter der Regie von Julia Ducournau oder Tramontane von Vatche Boulghourjian begeistert.
Wer nun endgültig die Preise in den beiden Kategorien erhalten wird, stellt sich in den nächsten zwei Tagen heraus. Doch selbst die Regisseure, deren Filme bei diesem Festival nicht prämiert werden, können sich alleine durch die Aufnahme in das hochselektive Programm des Festivals in der Qualität ihrer Filme bestätigt sehen.