Franz Biberkopf, von Alfred Döblin erfunden, irrt in Burhan Qurbanis Neuverfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ als schwarzer Flüchtling durchs moderne Berlin. Und das funktioniert erstaunlich gut.
Die Geschichte des Franz Biberkopf, der, soeben aus der Strafanstalt Berlin-Tegel entlassen, ein ehrliches Leben führen möchte, ist der erste deutsche Großstadtroman von literarischem Rang. Mehr noch: Er ist eines der bedeutendsten Bücher des letzten Jahrhunderts, wegen seiner Vielschichtigkeit, der expressiven Sprache, der unterschiedlichen Stilformen, der Mischung von Zeitbezügen und alttestamentarischen Anspielungen. Nicht einfach zu lesen – das weiß jeder Oberschüler aus dem Deutschunterricht. Alfred Döblins Roman in die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts zu verlegen, mit einem schwarzen Flüchtling aus Westafrika als Hauptfigur – das ist eine bestechende Idee. Und so erzählt der afghanischstämmige, deutsche Regisseur Burhan Qurbani die Geschichte von Francis, der nach abenteuerlicher Flucht aus Guinea-Bissau in Berlin strandet, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Papiere, ohne Wohnung. Er lernt Reinhold kennen, einen neurotischen, sexsüchtigen Ganoven, der ihm gleichwohl Quartier gibt. Reinholds Chef ist Pums, der Flüchtlinge in der Hasenheide Drogen dealen lässt. Nichts für Francis – er kocht lieber exotische Speisen für die Dealer. Doch dann nötigt ihn Reinhold, an einem Überfall teilzunehmen. Alles geht schief, Francis verliert – durch Reinholds Schuld – einen Arm. Bei der Prostituierten Mieze findet er Unterschlupf und endlich so etwas wie Glück. Doch Reinhold ist nicht der Mann, der ihm das gönnen würde.
Döblins Roman wurde bereits mehrmals verfilmt, 1931 von Piel Jutzi mit Heinrich George als Franz Biberkopf, dann natürlich in der über 15-stündigen Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder, die ab Oktober 1980 in dreizehn Teilen und einem Epilog im deutschen Fernsehen lief, mit dem überragenden Günter Lamprecht in der Hauptrolle. Qurbanis Film, immerhin drei Stunden lang, muss sich hinter den großen Vorbildern nicht verstecken. Er hat einen mitreißendes, beklemmendes, wuchtiges, gesellschaftskritisches und anrührendes Drama inszeniert, das wie selbstverständlich im heutigen Berlin spielt, mit Flüchtlingsproblematik, Rassismus, Verbrechen und Außenseitertum. Wunsch und Wirklichkeit prallen dabei vehement aufeinander. Francis’ Vorsatz, ein guter Mensch zu werden, ist zum Scheitern verurteilt. Ein Passionsweg, den Welket Bungué – er stammt selbst aus Guinea-Bissau – eindrücklich deutlich macht. Jella Haase löst sich von ihrem Chantal-Image aus Fack ju Göhte und überzeugt als Hure mit Herz, die Francis erlösen könnte, wenn er nur wollte. Überragt wird der Film aber von Albrecht Schuch als Reinhold. Mit vorgebeugtem Gang, die linke Hand in die Hüfte gestützt, die blonden Haare hochtoupiert, ist er der Teufel persönlich.
Realisiert wurde das dreistündige Mammutwerk vom Ludwigsburger Produzenten Jochen Laube, mit dem Burhan Qurbani einst an der dortigen Filmakademie studierte. Und mit dem er vor sechs Jahren mit dem Neonazi-Drama Wir sind jung. Wir sind stark bereits für viel Furore gesorgt hatte. Auch auf der Berlinale 2020 kam die moderne Döblin-Verfilmung bei Presse und Publikum gleichermaßen gut an. Trotz der Favoritenrolle ging man aber bei der Bären-Verleihung letztlich leer aus.
„Berlin Alexanderplatz“ zählte zu den Favoriten der Berlinale. Dennoch gingen Sie leer aus. Sind Festivals so ungerecht wie jene Wirklichkeit, die im Film geschildert wird?
Burhan Qurbanis: Ungerecht finde ich das nicht. Mich freut der Goldene Bär für das politische Drama Es gibt kein Böses aus dem Iran. Natürlich bin ich traurig, dass wir nichts gewonnen haben. Aber es können eben nicht alle Filme im Wettbewerb einen Preis gewinnen. Zudem war es eine wunderbare Erfahrung, wie wir mit Berlin Alexanderplatz durch das Festival regelrecht getragen worden sind. Ganz besonders freut mich das für unsere Schauspielerinnen und Schauspieler.
Man könnte den Film als Mogelpackung verstehen: Ursprünglich wollten Sie ein Drama über Asylanten im Drogenpark drehen. Weil das nur wenige interessiert hätte, kamen Sie auf den Trick mit Döblin und seinem Roman.
Burhan Qurbanis: Als Schwabe würde ich den Ausdruck „Gottesbscheißerle“ für Maultaschen vorziehen: Das Fleisch ist im Teig versteckt, damit es in der Fastenzeit gegessen werden darf.
In der Schule haben Sie bei Döblin kaum geglänzt. Ist die Romanverfilmung nun Ihre verspätete Reifeprüfung?
Burhan Qurbanis: Döblin hat mir damals tatsächlich meine Abitur-Note versaut. (Lacht) Für mich war es spannend, mich jetzt auf eine ganz andere Art mit Döblin auseinanderzusetzen. Döblin war wild. Seine Sprache ist total aufregend und fesselnd. Wenn man jung ist und mit höherer Literatur gerade zum ersten Mal in Kontakt kommt, kann man das noch nicht so richtig schätzen.
Im Roman wird Franz Bieberkopf als hässlich und dick beschrieben. Bei Ihnen könnte der Francis alias Welket Bungué auch als Model durchgehen…
Burhan Qurbanis: Welket ist ein gut aussehender Mann. Aber ich beurteile das anders, weil ich die Schauspieler zunächst als Mensch wahrnehme. Wir haben nach einem Darsteller gesucht, der dieses Glitzern in den Augen besitzt. Ob hübsch oder nicht, Welket ist ein großartiger Schauspieler mit einer enormen Leinwandpräsenz. Er kann sensibel sein und im nächsten Moment beängstigend.
Ihr Werk dauert stolze drei Stunden. Weckt die Überlänge beim Publikum keine Berührungsängste, zumal in schnellen Netflix-Zeiten?
Burhan Qurbanis: Ich bin selbst ein Netflix-Kind und halte viel von diesen neuen Erzählformen der Streaming-Anbieter. Aber es ist eben ein enormer Unterschied, ob man sich etwas auf dem Fernseher anschaut oder gemeinsam mit anderen Menschen im Kino dieses Erlebnis teilt. Ich möchte das Publikum wieder hungrig machen, auf lange Geschichten, in denen viele Aspekte vertieft werden können. Nach meiner Einschätzung hat unser Film keine Längen, ich wüsste auch gar nicht, wo man ihn hätte kürzen können. Ursprünglich hatten wir eine Spielzeit von fünf Stunden, die hat mein Editor Philipp Thomas dann auf knackige drei Stunden herunter geschnitten.
Trotz des Mammut-Werks bleibt offenbar auch reichlich Zeit für kleine Anspielungen. Für das Publikum bietet das fast eine kleine Schnitzeljagd. Was hat es etwa mit der Telefonnummer von Reinhold zu tun, die ganz groß auf einem Zettel zu sehen ist?
Burhan Qurbanis: Bei der Telefonnummer von Reinhold handelt es sich um ein „Easter Egg“, einen heimlichen Hinweis auf den Roman. Solche Anspielungen finden sich immer wieder im Film. Seien es Auto-kennzeichen oder die Zahlen auf dem Sträflingsanzug von Francis. Auch der deutsche Pass, den Francis bekommt, hat eine kleine Überraschung: Sein Nachname Cabeza de castor ist das portugiesische Wort für Biberkopf.
Die Migranten im Film sind durchwegs kriminell, auch Francis neigt zur Gewalt. Kann man sich eine solche politische Unkorrektheit leisten, wenn man wie Sie selbst einen Migrationshintergrund hat?
Burhan Qurbanis: Eines unserer Vorbilder bei dem Projekt war Scarface von Brian De Palma. Darin geht es um einen kubanischen Flüchtling, der alles andere als gut ist. Trotzdem ist dieses Werk so wichtig für die Filmgeschichte, weil er etwas über die Zerrissenheit in einem Land erzählt. Die Figur ist nicht positiv besetzt, dennoch leidet man mit ihr und versteht ihr Handeln. Solange wir nicht behaupten, die Kriminalität hätte etwas mit der Mentalität von Migranten zu tun, sondern zeigen, dass sie etwas mit den äußeren Umständen zu tun hat, finde ich diese Darstellung legitim.
Was halten Sie von Rainer Werner Fassbinders TV-Serie von 1980? Er hat ja aus dem Stoff einen gewaltigen Mehrteiler gemacht? Was würde er über Ihre Version sagen?
Burhan Qurbanis: Ich mag Fassbinder, aber ich bin kein Fanboy. Er war ein Punk, ich bin in den neunziger Jahren groß geworden, und meine Attitüde ist Grunge. Damit verbindet uns eine gemeinsame Basis. Ich glaube, Fassbinder hätte sich gut unterhalten bei unserem Film.