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1971. DOSSIER

Sideways through Time

| Jörg Becker |
Im Rückblick auf 1971 darf natürlich die Musik nicht fehlen. Von den Allman Brothers bis Frank Zappa, von Glamrock bis Lennon, von Bowie bis Miles Davis: was für ein Jahr!

Jim Morrison, seit 1966 Sänger von The Doors, dem 1971 eine Überdosis von „China-White”-Heroin zum Verhängnis geworden sein soll, hatte sich zuletzt als Autor verstanden und an Gedichten und Drehbuchideen gearbeitet. „Riders on the Storm“ war der letzte mit den Doors aufgenommene Song zu dem bluesdominierten Album „L.A. Woman“ (1971), auf dem die dunkle, raue Baritonstimme des zur Ikone gewordenen Sängers mit lasziver Ausstrahlung zu hören war, jede seiner Performances ein theatralisches Happening mit offenem Ausgang. Legendär die „entglittenen“ Konzerte wegen angeblich unzüchtigen Entblößungen („indecent exposure“) und öffentlicher Trunkenheit. Morrison wurde zur Galionsfigur einer Jugendbewegung, von der er selbst nicht verstand, warum sie nicht stärker rebellierte.

In den Charts war Morrison mit den Doors in seinem letzten Lebensjahr noch mit „Love Her Madly“ zu hören; George Harrison sang „My Sweet Lord“, James Taylor „You’ve Got a Friend“, Janis Joplin „Me and Bobby McGee“, Joan Baez „The Night They Drove Old Dixie down“, Carole King „It’s Too Late“, Rod Stewart begann seine Solokarriere mit „Maggie May“, im heftigen Sound von The Who sang Roger Daltrey „Won’t Get Fooled Again“, wogegen Cat Stevens mit „Wild World“ eine ungleich sanftere, friedvolle Welthaltung verströmte.

Markenzeichen
Eines der berühmtesten Plattencover der Geschichte – Andy Warhol gestaltete die Hose mit Reißverschluss angeblich für 15.000 Pfund – verbindet man mit „Sticky Fingers“ von den Rolling Stones. Unter den Gastmusikern finden sich Ry Cooder und Billy Preston. „Brown Sugar“ sowie die Country-geprägten „Wild Horses“, „Dead Flowers“ und „Sister Morphine“ sind Klassiker, und für den letztgenannten Titel bekam Mick Jaggers damalige Freundin Marianne Faithfull erst in den neunziger Jahren die Credits. Sie hatte große Teile des Textes über einen Sterbenden, der verzweifelt nach Morphium verlangt, beigesteuert. Mit „Sticky Fingers“ erreichten die Stones zum ersten Mal Platz eins der Album-Charts in England und den USA. Sie waren nun eine Marke, besaßen ein eigenes Label, was auch die Einführung des berühmten Zungenlogos, seither ein eingetragenes Warenzeichen, unterstreicht.

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Pink Floyds Album „Meddle“ bildet so etwas wie das Scharnier im Werk der Band. Es steht zwischen der ausklingenden psychedelischen und der beginnenden progressiven Phase, und schlägt die Richtung ein zu klassischen Werken wie „Dark Side of the Moon“ von 1973. Der Einfluss des genialen Psychedelic-Pop-Songwriters Syd Barrett („Arnold Lane“, „See Emily Play“ u.v.a.) ist verklungen. Über die komplette B-Seite erstreckt sich das Stück „Echoes“. Auf der A-Seite, nach dem massiv angeschlagenen Bass vor Sturmrauschen, gebündeltem heftigem Klang-Einfall und gegenrhythmischen, wie von Hämmern geschlagenen Drums hört man mit „A Pillow of Winds“ ein ruhiges akustisches Liebeslied.

Wie selbstsicher die Hard Rock/Blues Rock-Band Led Zeppelin damals auftrat, belegt allein schon die Tatsache, dass sie ihrem vierten Album keinen Namen gaben – die Massen der Fans wollten es, 37 Millionen Mal hat sich die „Led Zeppelin IV“ genannte Platte dann verkauft. „Stairway To Heaven“ dürfte keinen geringen Anteil am Erfolg gehabt haben.

Deutsche Sounds
Die Musik von Cans „Tago Mago“ kennt keine Zuschreibungen und Genres; Sounds fließen ineinander, alles ist transparent, frei diffundiert der Schall. Die Explorer im Klangraum, teils Schüler des Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen, nannten sich Can, eine Formation aus Köln, und die Stücke ihres musikalischen Kosmos revolutionierten den deutschen Pop. Can hatte sich nie als Rockband betrachtet und schon gar nicht unter die pop-journalistische Kategorie „Krautrock“ fallen wollen. Noise-, Synthie- und Cut-and-Paste-Experimente ließen ihre Stücke erscheinen wie Ergebnisse einer Klangforschung; der stereotyp im Vordergrund wirkende Beat des Drummers Jaki Liebezeit wie überhaupt der Can-Sound setzte sich von den Rhythm-and-Blues-Mustern nach angelsächsischem Vorbild ab.

Unter den vom Synthesizer-Sound bestimmten Electronic- und Ambient-Pionieren jener Jahre aus der Bundesrepublik besaßen Tangerine Dream (die ihren Bandnamen dem Liedtext von John Lennons/Paul McCartneys „Lucy in the Sky with Diamonds“ entlehnt hatten) aus West-Berlin international das wohl größte Renommee mit ihrem repetitiv und wie auf fliegendem Teppich ausgebreiteten Klang. „Alpha Centauri“: Mit Orgel und Flöte auf die Umlaufbahn. Edgar Froese hatte „Saucerful of Secrets“ von Pink Floyd gehört, extrahierte den Rock-Anteil und entwarf seine eigene Version von Psychedelia, die er „Kosmische Musik“ nannte.

Posthum
Das wohl erfolgreichste der posthum veröffentlichten Alben von Jimi Hendrix war „The Cry of Love“, in dem Aufnahmen aus dem Electric-Ladyland-Studio seit März 1968 enthalten sind, u.a. „Drifting“, „Freedom“, „Astro Man“ und „Ezy Rider“. Ebenfalls 1971 erschien ein Live-Album mit dem Soundtrack eines unveröffentlichten Dokumentarfilms von einem Konzert in der Royal Albert Hall, Ende des Jahres der Mitschnitt vom Auftritt „Live at the Isle of Wight“, aufgenommen im August 1970 (2002 unter dem Titel „Blue Wild Angel“ veröffentlicht).

Janis Joplin war am 4. Oktober 1970 gestorben, kurz vor Vollendung der Aufnahmen zu „Pearl“. Ihre Band stellte die vorliegenden Gesangsaufnahmen fertig, und das Spektrum ist groß: Rhythm And Blues, Country, Funk. Der Song „Me and Bobby McGee“, den Joplin von ihrem Ex-Geliebten Kris Kristofferson gecovert hat, wird zur Hymne. Unvergessen auch: „Oh lord, won’t you buy me a Mercedes Benz / My friends all drive Porsches, I must make amends…“ – Joplins Studio-Jux als konsumistisches Stoßgebet.

Glam Rock
Für John Lennons „Imagine“ reiste die Rock-Prominenz der damaligen Zeit, George Harrison, Rick Wakeman u.a., geschlossen in die Ascot Sound Studios in Lennons Anwesen Tittenhurst Park. Phil Spector, Vertreter des „Wall-of-Sound“, produzierte, und gemeinsam schufen sie einen der schönsten Songs des Pop-Zeitalters: „Imagine“, die Sehnsucht der Balladen schlechthin verströmend, die so unterschiedliche Gemütszustände vereint. Ein weiteres Lied auf der Platte, „Jealous Guy“, erreichte erst 1981 kurz nach Lennons Ermordung in England Platz eins der Charts in der Version von Roxy Music. Diese 1970 gegründete Band, deren Erscheinungsbild um den Dandy-Look des Frontmanns Bryan Ferry perfekt designt wirkte, verlieh dem Glam-Rock-Faktor mitsamt seiner dekadenten Note, der Artiness der Selbstdarstellung, einen Schub, mitsamt aller Rock ’n’ Roll-Nostalgie, einem Anteil Velvet Underground, vor allem Ferrys manieriertem Stakkato-artigen Gesang. New Romantic-  bzw. New Wave-Tendenzen hatten Roxy Music als Vorbild. Die Single-Auskopplung ihres Debütalbums unter dem Titel „Virginia Plain“ erreichte bereits Platz 4 der britischen Charts.

Das vierte Studioalbum von David Bowie, „Hunky Dory“, klingt feiner und leiser als die Vorgänger. Hier findet man die Klassiker „Changes“, „Life On Mars“ und „Oh! You Pretty Things“ sowie das oft zitierte „Andy Warhol“. Bowie liebte Velvet Underground. Nur Klang, keine Bühneninkarnation, so funktioniert sein Album ohne große Show und verkaufte sich zunächst nicht so gut. Erst als im Jahr darauf Bowie mit „Ziggy Stardust“ (1972) zum Superstar wurde und die Spitze der Glamour Scene einnahm, zogen die Verkäufe an. Bowie: „Tomorrow belongs to those who can hear it.“

Jazz-Rock-Fusion – Wah-Wah
Miles Davis „Jack Johnson“ (1971) – Neuedition: From the Complete Jack Johnson Sessions (2003). Jazz kann auch Funk und Hard Rock sein. Zwei Stücke zu je 25 Minuten: Miles Davis hatte die Musik für einen Dokumentarfilm über den Boxer Jack Johnson produziert und setzte den Sound-Spot in dieser Fusion-Produktion auf den Gitarristen John McLaughlin. Michael Henderson, der sehr junge Bassist aus der Band von Stevie Wonder, verstärkte das Funk-Element des Miles-Davis-Sounds, und heraus kam „the Greatest Groove Album of all Times“. Seit jener Zeit nutzte der „Birth of the Cool“-Schöpfer ein Wah-Wah-Pedal für sein Instrument, entdeckte über die Verstärkung seiner Instrumente die modulierenden Wirkungen der Verzerrung, die man von Jimi Hendrix’ Gitarre her kannte, dem Heulen, Dröhnen und Schnurren über Vibrator und Rückkopplung. Mit dem Doppelalbum „Live/Evil“ springt man in die elektrisierende Jam Session-Atmosphäre, die sich bei Konzerten der Miles-Davis-Formationen einstellte und in den folgenden Alben „Big Fun“ und „Get Up With It“ vermittelt.

Exotische Grooves
John McLaughlin hatte 1970 ein Album, „Devotion“, herausgebracht, dem das „Rolling Stone“-Magazin attestierte, es sei  „as heavy as the most fanatical Led Zeppelin devotee could wish, while maintaining a high musical level“. 1971 folgte der große Einschlag mit dem Debütalbum der eigenen Band, The Mahavishnu Orchestra, „The Inner Mounting Flame“, ein Meilenstein der Jazz-Rock-Fusion. Im selben Jahr veröffentlichte McLaughlin eine grandiose Probe seiner Virtuosenklasse auf rein akustischer Ebene: „My Goal’s Beyond“, ein Album, auf dessen Cover bereits der Inspirationsquell des Gitarristen, sein Guru, zu entdecken ist.

Als Ende 1970 der aus Wien stammende Pianist Joe Zawinul, Miles Davis’ Keyboarder („Bitches Brew“) und Komponist von „In a Silent Way“, mit Wayne Shorter die Band Weather Report gründete, schlug Jazz Fusion eine neue Richtung ein: Zawinul brachte Stile diverser Ethnien ein, sammelte global verstreute Klangquellen, entdeckte exotische Grooves, erweiterte das Schlagzeug durch Percussion und löste sich vom Jazz-traditionellen Thema-Solo-Thema-Schema. Zawinul habe den Synthesizerklang humanisiert, hieß es, gleichsam zum Atmen gebracht. Das Debütalbum von 1971 ist eine Entdeckung, wobei gegenüber den zukünftigen, vor allem in Afrika populären Stücken der 1970er wie „Birdland“ oder „Black Market“ noch Abstand besteht.

„The eagle flies on Friday …“
„Frank Zappa and the Mothers of Invention – Live at the Fillmore East“ (Juni 1971); im Zusammenhang jener Auftritte kam es auch zu kuriosen Sessions mit John Lennon und Yoko Ono (siehe YouTube). Im selben Jahr entstand der surreal-humoristische Musikfilm 200 Motels (Regie: Tony Palmer, der diverse Filmbiographien und Konzertfilme, u.a. zu Cream, Jimmy Hendrix, den Beatles, Tangerine Dream produziert hat; Frank Zappa war Ko-Regisseur und Drehbuchautor), ein an fünf Acht-Stunden-Tagen gedrehtes Video über die (erotischen) Erfahrungen von Bandmitgliedern auf Tournee. Prominente Kollegen wie Ringo Starr und Keith Moon treten in Gastrollen auf.

Live-Alben – als dokumentierte Einzigartigkeit von Bühnen-Acts einer Gruppe – nahmen zu. „Live at Fillmore East“ haben viele dort konzertierende Bands ihre Auftritte mitgeschnitten, herauszuheben ist das Doppelalbum der Allman Brothers Band, allein schon wegen des Gitarrensolos von Duane Allman (20. November 1946 – 29. Oktober 1971) in „Stormy Monday“: „The eagle flies on Friday and Saturday I go out to play…“. Einen weiteren Live-Höhepunkt des Jahres bildet „Grateful Dead“, ein Doppelalbum mit Songs der Band um Jerry Garcia aus San Francisco aus sieben verschiedenen Konzerten, auch unter dem Titel „Skull & Roses“ bekannt; es enthält u.a. Kris Kristoffersons „Me & Bobby McGee“ und Chuck Berrys „Johnny B. Goode“.

Das „Concert for Bangla Desh“, aufgenommen am 1. August 1971 im Madison Square Garden, New York, war George Harrisons viertes Album, ein Benefizprojekt, angeregt von dem Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, dessen Familie aus Bangladesh stammte, zugunsten Millionen von Flüchtlingen infolge des Krieges, in dem 1971 Völkermord-Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Das west-östliche Weltmusik-Projekt wies auf diese Kriegsverbrechen mit friedensvoller Musik – „love and peace“ – hin, man hört Beatles-Classics wie „Here Comes the Sun“ und „Something“ unter illustrer Beteiligung – Eric Clapton, Billy Preston, Ringo Starr, Leon Russell und nach langer Pause wieder einmal Bob Dylan.

In Search of Space and Reality
„In Search of Space“ befanden sich die Psychedelic-Space-Rocker Hawkwind um die spätere Motörhead-Ikone Lemmy Kilmister, ehe sie mit einem Acht-Takt-Rock ’n’ Roll-Boogie namens „Silver Machine“ 1972 Platz 2 der Charts erklommen. „Master of Reality“, drittes Studioalbum von Black Sabbath, den Heavy-Metal- Hardrock-Matadoren, langsamer als die Vorgängeralben, wurde zur Inspirationsquelle zukünftige Stoner- und Sludge-Metal-, Hardcore- und Doom-Metal-Interpreten der Zukunft.

Das bis heute erfolgreichste (vierte) Album der britischen Band Jethro Tull, „Aqualung“, an der rockig geblasenen Querflöte, oft gekonnt auf einem Bein im langen Lodenmantel vor dem Mikrophon balancierend, Frontmann Ian Anderson, baut klassische Zitate in den Blues-Rock mit Heavy-Metal Elementen, stampfenden Rhythmen und massiven Riffs, ein („Locomotive Breath“). Die Songtexte kritisieren Amtskirche und Schulsystem und bedenken ethische Fragen, die man sich an der Schwelle zum Erwachsenenleben stellt und dann in der Regel für lange Zeit aus den Augen verliert.