Eine Reise durch die Filme des Winters birgt unvorhersehbare Überraschungen. In dieser Jahreszeit kann sich innerhalb von Augenblicken das Aussehen der Welt ändern. Das wissen wir, seit wir uns als Kinder beim ersten Schnee des Jahres die Nase an der Fensterscheibe plattgedrückt haben.
Was unterscheidet München von Paris? Neben vielem anderen auf alle Fälle dies, dass sich letztgenannte nur allzugern hat lieben lassen – von Cole Porter über Ella Fitzgerald bis hin zu Screaming Jay Hawkins. Sie alle haben die Hymne „I love Paris“ angestimmt und zwar „every moment of the year“, also im Sommer „when it sizzles“ ebenso wie im Winter, „when it drizzles“. In München dagegen verfuhr man mit Künstlern, die die Schönheit des Jahresverlaufs besingen wollten, eher ungnädig: nachzuvollziehen in Karl Valentins tollkühnem Kunstlied-Sketch über die vier Jahreszeiten: „Wie herrrlich ist‘s doch im Frrühling. Im Frrühling, da fühl ich mich wohl. Ach wääre es immer nur Frrühling“ usw. bis „der Frrrühling gibt Mut mir und Krrrafft“. Folgt das Publikum dem zyklischen Vortrag Valentins (alias Korbinian Nasenlöchler) über Sommer und Herbst noch mit Wohlwollen, so schneidet es ihm unter Pfeifen, Pöbeln und Stühlewerfen rüde das Wort ab, als es zur letzten Strophe kommt, worin die Schönheit der kalten Jahreszeit, ihre Herrlichkeit und das damit verbundene Wohlfühlen gelobt werden soll. Geknickt beugt sich Bariton Nasenlöchler der grausamen Ungeduld seiner Zuhörerschaft, um kleinlaut von der Bühne abzugehen: „Und dabei wäre doch gerade der Winter solch eine schöne Jahreszeit gewesen!“
Vermutlich um Nasenlöchlers Enttäuschung zu verarbeiten, erfand Karl Valentin anlässlich eines winterlichen Besuchs von Samuel Beckett in seinem Münchener Grusel- und Lachkabinett den Winterzahnstocher mit Flaumfeder. Der ist in seiner Nebenfunktion auch als Handschmeichler zu nutzen und befindet sich seit langem als Duplikat in der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art, denn jenseits des Atlantiks gilt Karl Valentin unangefochten als „Charlie Chaplin of Bavaria“.
Schweben Wirbeln Stöbern
Federn, vor allem wenn sie aus Kissen und Bett befreit werden und obendrein noch das Glück haben, nicht als Applikation an einem Zahnstocher zu enden, sondern auf dem Silver Screen zu landen, um dort im Schweben, Wirbeln oder Stöbern ihren Moment of Fame zu erleben, erinnern unweigerlich an Schneeflocken. Viele frühe oder naive Filme haben sich das zunutze gemacht – von Méliès‘ À la conquète du pôle (1912) oder den vielen Verfilmungen von Andersens „Mädchen mit den Zündhölzern“ bis zu Jean Vigos Zéro de conduite (1933).
Und auch in der Filmtheorie oder -kritik war man gern und schnell zur Hand, Schnee und Fotografie resp. Film miteinander in Beziehung zu setzen, Siegfried Kracauer etwa, wenn er in seinem Fotografie-Essay (1927) schrieb: „Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben“. Oder wenn sich André Bazin 1948 explizit fragte, warum eigentlich so viel Schnee aufs Kino niedergehe: „Gemalter Schnee der naiven Filme, Schnee aus Soda Borat, welcher heftig in den Fenstern der Armen glitzert oder in den Schaufenstern für Spielwaren, an denen sich Kinder mit erwartungsvollen Augen ihre kleinen verfrorenen Nasen plattdrücken; leichter flockiger Schnee von unzähligen Gänsen, die Regisseure rupfen ließen, um einem Set die gewünschte Atmosphäre und Tonalität zu verleihen, oder der von Studiohimmeln, wie etwa in René Clairs Silence est d’ôr, behutsam herab rieselte; dann natürlich, dieser industriell hergestellte Schnee, zermahlenes Eis, das tonnenweise von den Windmaschinen Hollywoods hinausgeschleudert wird, daneben aber auch wirklicher Schnee, so in Leopold Lindtbergs Die letzte Chance oder gefährliche Schneelawinen, deren Absprengung das Kino dokumentarisch festgehalten hat.“ Und wollen wir nicht vergessen, dass bereits zehn Jahre vor Bazins Schneeaufsatz ein besonders gelungener Kinoschnee 1939 gar mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Damals erhielten Marty Martin, Jack Lannon und Russell Shearman vom RKO Special Effects Department den Scientific and Technical Academy Award „for the development of a new method of simulating falling snow on motion picture sets.“
Ob’s stürmt oder schneit…
Eine archetypische Ausprägung von Winterkino ist vermutlich Charlie Chaplins Goldrush (1925). Für diesen Film, so Chaplin selbst, wollte er erinnert werden. Jeder Moment von Goldrush atmet Winter und Kälte, Hunger und Not. Man kann ihn nicht nur, man muss ihn immer wieder mal sehen, den Kampf des kleinen Tramp mit den Menschen und den Elementen. Auch seine Auseinandersetzung mit ebenso gold- wie blutgierigen Gangstern oder sein Kräftemessen mit dem Bären oder die klapprige Hütte, absturzbedroht über der Schlucht im Eissturm. Und natürlich der Brötchentanz als Einlage beim frugalen Mittagsmahl. Und natürlich die, nun ja, weichgekochten Schuhe. Verspeiste Schuhe standen auch am Anfang von Chaplins Projekt. Der Regisseur war fasziniert von der Geschichte der Donner-Gruppe, die in der zweiten Jahreshälfte 1846 auf dem Weg nach Kalifornien vom Weg abkam und ohne hinreichende Ausrüstung in den Bergen der Sierra Nevada von vorzeitigen Schneestürmen überrascht wurde – eines der großen Kollektiv-Dramen des amerikanischen Westens. Die Gruppe bestand aus 87 Männern, Frauen und Kindern, und als sich im Februar 1847 eine Hilfsexpedition zum vermuteten Lager der Siedler durchschlagen konnte, fand sie noch 47 Überlebende, die in den Wochen zuvor buchstäblich alles Greifbare gegessen hatten, von den erfrorenen Leichen der Ihren bis zu diversen Stiefeln mit Bissspuren. Erich Kästner, der Autor von u.a. „Fabian“, „Emil und die Detektive“ sowie „Drei Männer im Schnee“ (Verfilmung: 1955 unter der Regie von Kurt Hoffmann), sah Chaplins Film im Winter 1945/46 und schrieb darüber in der „Neuen Zeitung“: „In München, Stuttgart, in Heidelberg und anderen Städten läuft jetzt der Film Goldrausch. Wenn man abends an den Kinos vorüber geht, hört man, bis auf die Straße hinaus, die armen, unterernährten, tiefbekümmerten Bayern, Schwaben und Badenser so laut lachen, dass die Trümmer in der Nachbarschaft wackeln.“ Und später: „Die treffliche Kunst dieses Films ist die Kombination von Rührung und Lachen oder auch Tragik und Komik, wobei das eine als verstärkendes Kontrastmittel des anderen wirkt.“
Von eisiger Tiefe geschluckt
Patriotismus und nationaler Widerstand gegen den Aggressor, am historischen Beispiel des Kampfes gegen die Deutschordensritter stehen im Zentrum von Sergej Eisensteins Aleksandr Nevskij (1938): Die Entscheidungsschlacht auf dem vereisten Peipus-See, dramatischer Kern, sinfonischer Höhepunkt und spektakuläre Attraktion des Films, an der Sergej Prokofjews Filmmusik entscheidenden Anteil hat, schlägt die schwergepanzerten gesichtslosen Reiter zurück, die Aggressoren brechen ein, werden von eisiger Tiefe geschluckt. Die Aufnahmen dieses Winters fanden im Sommer statt: „Patriotismus heißt unser Thema“ (Eisenstein), und die Frage „Echter Schnee oder echtes Heldentum?“ hatte sich bereits beantwortet. „Der Winter ist eine dunkle Jahreszeit. Man beschloss, den Winter zu machen“, schrieb Viktor Šklovskij in seiner Eisenstein-Biografie. „Man schuf ihn ohne Eiszapfen, ohne Dampf, ohne schneebedeckte Bäume. Aus der Arbeit wurde kein Winter, sondern eine Schlacht.“ Mittels Kreide und flüssigem Glas verwandelte man eine Obstwiese neben dem Mos’film-Studio in Schneelandschaft und in den vereisten See, den Schauplatz des Kampfes. Die Winterlandschaft reduzierte Eisenstein auf das Wesentliche: weißer Grund unter einem dunkel verhangenen Himmel.
Entfernte Schauplätze und Töne fließen zu einem einzigen Weltinnenraum zusammen, in leerer Stille der Städte, einer Fiktion der Nacht bei Restlicht in einer herbei imaginierten europäischen Megalopolis aus Bleibendem und Ephemerem auf einem leeren, unbekannten Erdteil – ein Gang durch ein Pompeji des zwanzigsten Jahrhunderts – „von diesen Städten wird bleiben, der durch sie hindurchgeht, der Wind.“ Der hört sich bisweilen kalt und eisig an in der Geschichte der Nacht (1979, Clemens Klopfenstein), geht einem unter die Haut in dem sensiblen Schwebezustand, in den man sich, angesichts der Bilder dieses Films erst einmal zum Autor aller aufkommenden Erinnerungen und Vorstellungen geworden, versetzt fühlt. Die Welt ist eine verschneite Bühne, auf der ein schemenhaft und grobrastrig übertragener nächtlicher Umzug stattfindet in bizarren Kostümen und Masken, eine gespenstische Prozession von Nachtgestalten, etwa der Fassnachtszug in Basel, auch vereinzelte Figuren beim Schneefegen in den Straßen, zu klein, als dass die überwölbenden Bauten hinter ihnen für sie bestimmt sein könnten. Auch wenn die Nacht den Eindruck der Jahreszeiten verwischt, gerät die filmische Expedition zunehmend spürbar in die Winterkälte, streift über Oberflächen frostigen Kristalls, nimmt vereiste Zubringerstraßen und Töne pfeifender Stürme auf und endet mit dem Bild von Wohnblocks, weißbedeckt, mit einzelnen Lichtquellen zwischen Tag und Nacht, zu sehen sind Verwehungen, graphische Effekte wie aus einem Pirandello-Szenarium. Ein auffliegender Vogelschwarm erscheint am Himmel, die Kamera folgt seiner Bewegung, und mit einem Mal gefriert das Korn zum Schlussbild, die Bewegung wird eingefroren. Freeze Frame.
Ein anderer Winterpoet in den Provinzen des Kinos ist Guy Maddin: Sein Winnipeg (My Winnipeg, 2007) in Manitoba, Kanada besingt er mit hysterisch-surrealer Note als in verschneiter Schlafwandelei begriffen. Ein Lebensraum, der einen umfangen hält und nie entlassen wird. Und ein zeitliches Gebilde, das untrennbar und unauslöschlich mit des Regisseurs Kindheit verknüpft ist, darin sich Gefundenes mit Erdachtem zusammenschweißt zu einer Sphäre, durch die der Autor somnambul, wie in einem Dream Train gleitet: „Always Winter, always sleepy.“
Alles schläft, einsam wacht…
Ebenso wie Licht, Feuer und Wolken sind auch die Erscheinungen elementarer Winterkälte in Faust – Eine deutsche Volkssage (1926) exakt nach F. W. Murnaus Bildvisionen entstanden: Es schneit auf den Vorplatz des Domportals. In einem Stall unter eingefallenem Dach hockt Gretchen mit dem Neugeborenen an ihrer Brust auf verschneitem Boden. Der Wind scheint durch die Szene zu pfeifen. Die bittere Kälte, die den Tod bringt, ist in überirdisch reinem Weiß gehalten – eine verschneite Landschaft, deren geneigter Horizont den oberen Rand der Einstellung berührt. Gravitätische Bildkompositionen: Schneetiefe, eisig funkelnde Flächen, Zaunlatten ragen ins Bild; darunter halluziniert Gretchen, weißbestäubt, eine Wiege, in die sie den Säugling bettet und bald darauf als Kindsmörderin ergriffen wird. Alles Leid der Welt liegt in dieser Gegenerzählung zur Geburt von Gottes Sohn. Gefrierender Schmerz, eine Kältegeschichte – die in der kontrastiven Einblendung eines Frühlingsglücks vor Blütenwiese als Wahn der Eingekerkerten nur umso stärker empfunden ist. Godard zitiert daraus in Allemagne neuf-zéro (1991) über die Einsamkeit in Deutschland und lässt Lemmy Caution auf seinem Weg nach Westen die Eisdecke eines Gewässers überqueren: ein Kältedokument des politischen Wende- und Übergangswinters, das auch ein Straßenschild einer Karl-Marx-Straße im Schneematsch am Boden zeigt.
In der finalen Passage von Alexander Kluges Die Patriotin (1979) heißt es: „Wintergewitter. Intensives Schneetreiben. Donner, Blitz. Gesehen von Gabi Teicherts Fenster. Nach draußen. Dann umgekehrt: Blick von außen auf Gabi Teicherts Gesicht, das hoffnungsvoll auf das Wintergewitter sieht. Kommentar: ‚Jedes Jahr wieder zu Silvester sieht Gabi Teichert 365 Tage vor sich. So, dass Hoffnung besteht, das Ausgangsmaterial für den Geschichtsunterricht für die Höheren Schulen im kommenden Jahr zu verbessern.‘ Besonders heftiger Blitz. Donner. Schneegestöber. Ein dunkler großer Baum, dessen Wipfel im Gestürm. Titel: ‚Tausend Jahre fiel der Tau, / Morgen bleibt er aus. / Sterne treten ungenau / in ein neues Haus.‘“
Blitzeis
Man tut modern: Wände aus Glas, so dass man beim winterlichen Truthahnessen den Eindruck haben kann, „eigentlich“ in der Kälte und trotzdem schön warm zu sitzen. In der Erinnerung an Ang Lees Icestorm (1997) sind eigentlich alle Oberflächen aus hartem und kaltem Material – oft Spiegel und Chrom. Sämtlich aus Glut geboren und in Kälte erstarrt. Und das unbelebte Universum gleicht der belebten Welt der sozialen Verhältnisse: eisig und doch am Siedepunkt der Gewalt. Überhaupt der Wechsel von Aggregatzuständen: Denn was ist der titelgebende Eissturm, in abgemilderter Form auch Eisregen oder Blitzeis genannt? In einer Wettervorhersage während des Films, als man noch glaubte, glimpflich davon zu kommen, ist aus dem Radio zu hören: „Eisregen sieht harmlos aus, scheint sogar warm. Aber lassen Sie sich nicht täuschen, denn wenn er unten ankommt, verwandelt er sich sofort in eine kalte, glatte und rutschige Schicht.“ Für Icestorm, der im Winter 1973/74 spielt, als tatsächlich ein Eissturm über New Canaan, Connecticut, wütete, ließ sich Ang Lee neben der literarischen Vorlage von Rick Moody von Fotorealismus-Stilleben inspirieren, die sich wie eine zweite Haut über die Wirklichkeit legen. Alles ist sichtbar, alles ist transparent, und doch liegt ein eine unsichtbare Wand – oder wollen wir es eine durchscheinende Eisschicht nennen – zwischen Welt und Wahrnehmung.
Der gerade mal der Pubertät entwachsene Paul (Tobey Macguire) verbringt die Nacht gezwungenermaßen in einem steckengebliebenen Zug irgendwo in Connecticut. Die Landschaft ist märchentypisch tückisch, der Wald scheint wie in ein Spiegelkabinett verwandelt, und das Rauschen der Bäume tönt als messerscharfes Klirren. Doch aus der Kälte kommt kein äußerer Horror. Icestorm erscheint eher wie ein innerliches Frieren, ein Film, der eine Folge von Lebensmomenten mehrerer Tage vor dem Blitzeis wie durch vielfach gebrochenes Schneekristall betrachtet. Vieles von dem Unglück, welches da über zwei Familien kommt, war schon, wie a writing on the wall zu erkennen, bloß hatte niemand vermocht, die Schrift zu entziffern.
Mind the Gap
Die metaphorischen, gleichnishaft mentalen Kälte-Konnotationen des Winters in Filmerzählungen, etwa Un coeur en hiver (Claude Sautet) oder Eric Rohmers Conte d’hiver (Wintermärchen), beide von 1992, oder auch im Sinne eines politischen Aufbruchs bzw. hereinbrechenden Tauwetters wie in Winter adé (1988, Heike Misselwitz) seien hier nur angedeutet. Ebenso die zahlreiche Varianten von Schnee-Western, von Il grande silenzio (Leichen pflastern seinen Weg, 1968, Sergio Corbucci) oder McCabe & Mrs. Miller (1971, Robert Altman) über Dead Man (1995, Jim Jarmusch) bis zu The Revenant (2015, Inarritu). Und vernachlässigt haben wir, neben vielem anderen, auch die mysteriösen Winterschläfer (1997, Tom Tykwer), die sich zoologisch betrachtet aus der Vita activa zurückziehen, um so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen.
Was aber, jetzt mal ehrlich, ist eigentlich mit Weihnachten? Ist das nicht der Höhepunkt der Wintersaison? Was sollen wir da groß antworten? Wir wollen uns hier mit dem Hinweis auf zwei literarische Gewährsleute aus der Affäre ziehen: Schon in „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ bekannte Paul Auster sein Scheitern, etwas Belastbares zum Fest auf die Seiten zu bringen, entwickelte daraus aber später immerhin das Drehbuch für Wayne Wangs Smoke (1995). Und auch Jonathan Franzen ließ sich kürzlich in seinem ersten Buch von „Crossroads“ über die Adventszeit und Weihnachten aus, als er dort, ebenso so erschöpfend wie knapp, schrieb: „Die Feiertage sind eine schwere Zeit. Das Jahresende ist eine schwere Zeit. Aber mit den Gefühlen zu arbeiten, die dabei aufgewühlt werden, kann sehr nützlich sein.“