Filmkritik

Notturno

| Susanne Jäger |
Eindringlicher Dokumentarfilm über das Leben im und nach den Kriegen im Nahen Osten

Notturno ist ein bedächtiger, äußerst sehenswerter Film, der über einen Zeitraum von drei Jahren an Orten im Grenzgebiet Irak, Kurdistan, Syrien und Libanon gedreht wurde. Es wird nicht viel gesprochen, die Kamera folgt unterschiedlichen Menschen beim Weiterleben und beim Reflektieren darüber, was in den letzten Monaten, Jahren, Jahrzehnten im Krieg um sie herum passiert ist. Wie auch in seinen Vorgängerfilmen Fuocoammare (2016, Berlinale-Gewinner) und Sacro GRA (2013, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet) zeigt Regisseur Gianfranco Rosi eine Vielzahl von Protagonisten, deren Namen wir nicht erfahren und deren Geschichten wir uns nur ausmalen können. Waffengewalt ist in Notturno nie direkt da, aber auch nie weit weg. Sie macht sich durch entfernte Schüsse, die ein Shisha-Date nicht stören, Feuergefechte am Horizont, die das Fischen im See nicht unterbrechen oder lachende Teegespräche darüber, ob der Soldatenkollege einen schroffen Fahrstil hat, bemerkbar. Das Leben läuft, weil es muss. In ruhig komponierten, fast statischen Einstellungen zeigt Rosi Menschen, die irgendwie weitermachen. Ein Bursche verdingt sich als Tagelöhner und bringt zu seinen Geschwistern heim, was eben geht. Peschmerga-Kämpferinnen schauen, in ihrem Lager ruhend, auf einem Tablet Kampfhandlungen an, stehen sodann auf und machen sich bereit für einen neuen Tag. Eine weinende Mutter hört sich verzweifelte Telefonsprachnachrichten ihrer gekidnappten Tochter an, in denen diese immer dringlicher um ihr Leben fleht. Eine Gruppe Psychiatriepatienten probt für ein Laientheaterstück das die leidvolle Geschichte der Region zum Inhalt hat.

Wie der Titel bereits andeutet, findet in Notturno viel im Dunklen, Nächtlichen statt. Wann oder wo sich eine Szene abspielt, erfährt das Publikum nicht genau, aber das ist für Rosi auch nebensächlich. So willkürlich wie die Grenzen dieser Regionen von den Kolonialmächten gezogen wurden, so willkürlich ist die nicht aufhörende Gewalt. Es bleibt unklar, was wo begonnen hat und ob es jemals ein Ende haben wird. Die eindringlichsten Szenen des Films zeigen jesidische Kinder, die stotternd von Gräueltaten, denen sie nur knapp entkommen sind, berichten. Ihre Lehrerin fragt behutsam nach, bringt Ordnung in die Erzählung. Selbstgemalte Zeichnungen an der Wand des Klassenzimmers zeigen die abscheulichsten Dinge, zu denen Menschen fähig sind. Ein Junge betrachtet die Bilder. Und wir wundern uns mit ihm über diese seltsame, schreckliche Erwachsenenwelt.