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Peter von Kant

Große Schuhe

| Andreas Ungerböck |
Fassbinder-Fan François Ozon hat sich an des Meisters „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ herangewagt. Ein zwiespältiges Unterfangen, das als „Peter von Kant“ nun in die Kinos kommt.

Vierzig Jahre sind nun vergangen, seit der manische Viel-Arbeiter Rainer Werner Fassbinder in den frühen Morgenstunden des 10. Juni 1982 seinem ungesunden Lebensstil zum Opfer fiel. „Das Herz des deutschen Films hat aufgehört zu schlagen“, hieß es in einem berühmt gewordenen Nachruf. Doch es ist unübersehbar, dass Person und Werk des Selbst- und Andere-Ausbeuters nach wie vor – oder besser gesagt: mehr denn je – faszinieren. Zu seinen erklärten Bewunderern gehören u.a. Tsai Ming-liang, Gus Van Sant (der die Schlussszene aus Faustrecht der Freiheit in seinem My Private Idaho nachstellte) oder auch Wong Kar-wai, der Musik des Fassbinder-Komponisten Peer Raben für seinen Film 2046 verwendete. Erst vor zwei Jahren entstanden mit dem engagierten Biopic Enfant terrible von Oskar Roehler und mit Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz, der sich mehr an Fassbinders Fernsehserie aus dem Jahr 1980 als an Döblins Roman orientierte, weitere Hommagen.

Das verwundert insofern nicht, als es offensichtlich ist, dass der deutsche und der europäische Autorinnen-/Autorenfilm einen „Motor“ (so ein anderer Nachruf) wie Fassbinder dringend gebrauchen könnten. Man muss Fassbinder keineswegs glorifizieren, und selbst dem eingefleischtesten Fan (wie dem Autor dieser Zeilen) ist klar, dass manche seiner rund 40 Filme, vor allem seine doch recht didaktischen Traktate zur deutschen Nachkriegsgeschichte, gar nicht gut gealtert sind, aber es bleibt immer noch ein gewaltiger Fundus an großartigen Filmen. Ja, vielleicht muss man sogar – anders, als das früher gesehen wurde – jene Arbeiten an erster Stelle sehen, in denen er sich exzessiv und bis zur Selbstentäußerung mit sich selbst bzw. mit dem Zustand seiner Truppe/Kommune beschäftigte.

Das wären also Filme wie Warnung vor einer heiligen Nutte, Faustrecht der Freiheit, Satansbraten oder In einem Jahr mit 13 Monden, die von der zeitgenössischen Kritik oder jedenfalls von Teilen davon, vielfach als „Nabelschau“ abgetan wurden. Das galt auch und ganz besonders für Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972), den Fassbinder gewohnt radikal und flott nach seinem eigenen Theaterstück auf die Leinwand geworfen hatte. Gerade einmal zehn Tage wurde gedreht, schlanke 325.000 D-Mark betrug das Budget, der Stab war ebenso klein wie die Besetzung. Das Theaterhafte wurde erst gar nicht verborgen, im Gegenteil: Wo im Theater Akte enden, gibt es hier Schwarzblenden. Das Geschehen spielt sich an einem einzigen Ort ab, dem Atelier samt Wohnung der Modeschöpferin Petra von Kant in Bremen.

ALTER EGO
Diese Figur war schon damals, aber mehr noch heute, unschwer als Alter ego des Filmemachers zu erkennen: eine brillante, aber wegen ihres Selbstmitleids und ihrer Larmoyanz ein wenig unleidliche Person. Petras Ehe ist beendet, sie ist enttäuscht von mangelnder beruflicher Anerkennung und lässt sich mit der jungen Karin Thimm ein, die eben erst in ihr Leben geschneit ist. Petra ruft Karin großspurig zum „Supermodel“ aus, doch die künstlerische und private Beziehung wird schnell zum Albtraum. Karin, inzwischen ein Star, entzieht sich der manischen Vereinnahmung durch Petra, wird dabei verletzend und flieht schließlich. Marlene, die den ganzen Film über als „Dienerin“ von Petra malträtiert wird und kein einziges Wort spricht, soll das nächste „Opfer“ der Modeschöpferin werden, doch sie lehnt – ein wenig überraschend, weil man dachte, sie sei Petra hörig – das Angebot zur „Zusammenarbeit“ vehement ab.

„Ein Krankheitsfall“, das hat Fassbinder gewohnt treffend als Untertitel gewählt, und er widmete – legendär – den Film schon in den Anfangscredits „dem, der hier Marlene wurde“. Laut Aussagen seiner engsten Mitarbeiter Harry Baer und Kurt Raab war damit Peer Raben gemeint, Komponist fast aller seiner Filme und als Kassenwart und „Buchhalter“ der chaotischen Truppe in den Anfangstagen ganz besonders (von Fassbinder) gefordert. Und auch über die Figur der Karin gibt es eigentlich keine Zweifel: Fassbinders heftige Zuneigung zu dem schwarzen Schauspieler Günther Kaufmann, den er 1969 bei der Arbeit an Volker Schlöndorffs Fernsehfilm Baal kennengelernt hatte und den er zum Star aufbauen wollte, der aber – verheiratet und Vater zweier Kinder – schließlich die Flucht ergriff, war/ist bekannt. (Erst in Fassbinders letzten Filmen war Kaufmann wieder zu sehen.)

Ebenfalls evident war Fassbinders damals neu entdeckte Begeisterung für das Genre des Melodrams, das er anhand der Hollywood-Filme des deutsch-amerikanischen Regisseurs Douglas Sirk kennengelernt hatte und in jenen Jahren quasi lehrbuchhaft in mehreren seiner Arbeiten (Der Händler der vier Jahreszeiten, Angst essen Seele auf usw.) umsetzte. Der Groschenroman-Titel, das vor Kitsch strotzende Atelier, die pompösen Kostüme und Frisuren, die gefühlsüberladenen Dialoge und der fast sprichwörtlich gewordene plakative Name der Hauptfigur sind dafür deutliche Indizien. Beim nochmaligen Sehen des Films verblüfft einmal mehr Fassbinders – er war damals 27! – unglaubliche Virtuosität in allen filmischen Belangen, von den geschliffenen Dialogen über seinen Umgang mit den allesamt famosen Schauspielerinnen – im Mittelpunkt Margit Carstensen als Petra, Hanna Schygulla als Karin und Irm Hermann als Marlene –, die kongeniale Musik (The Platters, Verdi, die Walker Brothers) und ganz besonders das visuelle Konzept, das er mit Kameramann Michael Ballhaus umsetzte. Wie die drei Hauptfiguren in diesem klaustrophobischen, kammerspielartigen Rahmen zueinander in Beziehung gesetzt werden, wie sich die Machtverhältnisse zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Zuneigung und Verachtung auch in den Bildern ausdrücken, das ist schon mehr als eindrucksvoll.

ZWIESPALT
Das ist der Punkt, um auf François Ozons Bearbeitung des Films zu sprechen zu kommen. Ozon, das ist bekannt, ist ein erklärter Verehrer Fassbinders, nicht zuletzt abzulesen daran, dass er im Jahr 2000 dessen frühes Theaterstück „Tropfen auf heiße Steine“ (1964) verfilmte. Dass er sich nun, sozusagen zum 50-Jahre-Jubiläums des Films, der Petra von Kant annahm, ist grundsätzlich begrüßenswert, dass sein Film 2022 als Eröffnungsfilm der Berlinale ausgewählt wurde, irgendwie folgerichtig. Und dass es höchst unterschiedliche Arten von Remakes oder Neuinterpretationen bekannter Filme gibt, ist eine Binsenweisheit. Man denke an Gus Van Sants „unerhörtes“, aber letztlich doch reizvolles Projekt, Hitchcocks Psycho quasi 1:1 nachzudrehen, an Luca Guadagninos etwas aus dem Ruder gelaufene Argento-Hommage Suspiria, und dergleichen mehr. Wie Guadagnino hat Ozon die Handlung in der Entstehungszeit des Films belassen. Der Schauplatz ist diesmal Köln, nicht Bremen – nicht weiter wichtig, einmal abgesehen davon, dass wohl niemand, wie hier im Film, von Köln nach Frankfurt fliegen würde.

Entscheidender ist schon, dass Ozon die Hauptfigur zu einem Mann gemacht hat (siehe Titel), und nicht nur das, er macht ihn ganz plakativ als Rainer Werner Fassbinder, gespielt von Denis Ménochet, klar kenntlich. So naheliegend das erscheint, so fragwürdig ist es, denn der Hauptreiz des Originals liegt ja genau darin, dass Fassbinder ganz bewusst – Douglas Sirks Filme lassen grüßen – Frauen statt Männer gewählt hat: „Alles in allem finde ich das Verhalten der Frauen genau so schrecklich wie das Verhalten der Männer, und ich versuche, die Gründe dafür zu illustrieren und vor allem zu zeigen, dass wir fehlgeleitet werden durch unsere Erziehung und durch die Gesellschaft, in der wir leben.“ Noch dazu stilisiert François Ozon den Filmemacher, der, wie gesagt, damals 27 war, zum älteren Fassbinder kurz vor seinem Tod, mit der „typischen“ Lederweste, der großen Brille, und ziemlich beleibt und behäbig. Dabei bleibt die Figur ziemlich Teddybär-artig, merkwürdig weich und unentschlossen, ganz anders als die Petra, die Margit Carstensen im Originalfilm darstellt: hochfahrend, giftsprühend und selbstmitleidig bis zum Exzess. Da ging Fassbinder ganz offensichtlich mit sich selbst wesentlich strenger ins Gericht, als Ozon es tut.

Eine fragwürdige Entscheidung ist auch die, dass Peters junger Liebhaber hier klar als El Hedi Ben Salem erkennbar ist, mit dem sich Fassbinder nach der unglücklichen Geschichte mit Kaufmann „tröstete“ und dem er die männliche Hauptrolle in Angst essen Seele auf (1973) auf den Leib schrieb. Das passt weder biografisch noch von der erzählten Geschichte her, denn Ben Salem verließ Fassbinder nicht, sondern wurde von diesem später unschön fallen gelassen. Dass Ozon die Handlung von 124 auf unter 90 Minuten straffte, ist vertretbar, aber seltsam, weil er andererseits ganze Passagen aus dem Originaltext ungekürzt übernimmt. Darin liegt möglicherweise das Hauptproblem an Ozons Film: Er kann sich nicht recht entscheiden zwischen Remake, respektvoller Hommage und eigenständiger Neuverfilmung, und dieser Zwiespalt manifestiert sich in Peter von Kant von der ersten Minute an. Nun kann man mit Recht argumentieren, dass Menschen, die das Original nicht kennen, von solchen Überlegungen unbeleckt bleiben werden, aber wenn das Experiment nicht nur im Titel, sondern auch sonst so deutlich als solches erkennbar ist, muss sich Ozons Film den Vergleich doch gefallen lassen. Und wo er leider ganz, ganz schlecht abschneidet, ist die visuelle Ebene: Zum Thema Bild- und Raumgestaltung und zum Genre „Kammerspiel“ ist dem französischen Filmemacher leider rein gar nichts eingefallen außer eine ziemlich konventionelle Schuss/Gegenschuss-Abfolge.

Es gibt aber, um nicht nur zu nörgeln, auch Schönes: Es ist fein, Isabelle Adjani wieder einmal zu sehen, und es ist natürlich eine gute Idee, Hanna Schygulla, die im Originalfilm die Karin spielte, hier als Fassbinders Mutter zu besetzen (auch wenn nicht ganz klar ist, warum sie abwechselnd Deutsch und Französisch spricht). Und wie im alten Film Irm Hermann als Marlene ist hier der noch weitgehend unbekannte Stefan Crépon als stumm duldender Diener Karl möglicherweise die größte Entdeckung des Films.