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Emma Thompson zeigt sich nackt. – Meine Stunden mit Leo

Emma Thompson

Let's talk about Sex

| Pamela Jahn :: Dieter Oßwald |
Emma Thompson zeigt sich nackt. Aus gutem Grund: In „Good Luck to You, Leo Grande (Meine Stunden mit Leo)“ plädiert die britische Schauspielerin für die Emanzipation der weiblichen Lust.

Endlich ist es soweit: Ihr Mann ist tot, die Kinder sind erwachsen, und sie selbst ist mittlerweile pensioniert. Höchste Zeit für Nancy (Emma Thompson), sich ein Herz zu fassen, ihre ganze angestaute Scham abzulegen und nach einem sexuell unbefriedigenden Eheleben endlich einmal Spaß im Bett zu haben – mit einen „richtigen“ Orgasmus und allem Drum und Dran. Also bucht sich die ehemalige Religionslehrerin für einen Nachmittag in einem Hotelzimmer in Norwich ein. Kurz davor hatte sie sich im Internet auch den Mann bestellt, der ihr zum Klimax verhelfen soll. Leo Grande nennt sich der junge Sexarbeiter, für den sie sich entschieden hat. Eigentlich heißt er Daryl McCormack (Isaiah Jesus), aber sein richtiger Name tut zunächst nichts zur Sache. Leo sieht gut aus, verdammt gut sogar, und darauf kommt es an. Außerdem ist er höflich, tolerant und, auch ganz wichtig, verständnisvoll. Geduldig hört er sich an, wie Nancy überhaupt auf die absurde Idee kam, ihrer Lust nachzugeben. Wie unzufrieden sie mit ihrem Körper ist. Wie groß die Enttäuschung über die eigenen Kinder und über sich selbst. Nur zur Sache kommt sie nicht. Denn Nancy ist viel zu nervös, kann sich nicht entscheiden zwischen dem Aufschieben oder Aufgeben der ganzen Aktion. Irgendwann siegt die Notwendigkeit, jetzt endlich mit dem Sex loszulegen, weil die innere Anspannung unerträglich wird.

Es ist keine leichte Rolle, die Emma Thompson in Good Luck to You, Leo Grande angenommen hat. Umso mehr hat man das Gefühl: Niemand sonst könnte Nancy so wunderbar spielen wie sie. Es ist ihr großer Auftritt. Es ist ihr Film. Das Drehbuch, das aus der Feder der Komikerin Katy Brand stammt, scheint auf sie zugeschrieben. Und die australische Regisseurin Sophie Hyde gibt ihr den nötigen sicheren Raum, den auch eine erfahrene Schauspielerin wie sie braucht, um sich vor der Kamera derart zu entblößen. Zwar hält Isaiah Jesus gekonnt mit seinem Waschbrettbauch und dem ungenierten Charme eines professionellen Callboys dagegen. Doch Thompson dominiert in jeder Szene das Geschehen, selbst wenn sie in dem Moment die Unsicherheit in Person verkörpert.

Das intime Kammerspiel, das daraus entsteht, balanciert die Leichtigkeit einer schrägen Kaum-Sex-Komödie mit dem Versuch einer bisweilen tiefgründigen Charakterstudie über (Selbst-)Akzeptanz und Empowerment. Demgegenüber steht jedoch stets das spürbare Ungleichgewicht zwischen der dominanten Leinwandpräsenz von Thompson und ihrer in sich hin- und hergerissenen Figur, der die Schauspielerin neben einer gesunden Portion Selbstironie immer auch eine aufrichtige und berührende Menschlichkeit verleiht. Im Interview spricht die Oscar-Preisträgerin über den Mut für die Rolle in Good Luck to You, Leo Grande, die Dreharbeiten und das Problem mit perfektionistischen Bildern.

 


Hauptdarstellerin Emma Thompson im Gespräch

Frau Thompson, in der letzten Szene steht Ihre Figur völlig nackt vor dem Spiegel. Sind Sie das selbst, oder hat ein Double die Szene übernommen?
Emma Thompson: Das bin ich natürlich selbst!

Das ist für einen Star ungewöhnlich und ziemlich mutig.
Weshalb soll das mutig sein?

Weil es das in Hollywood so noch nicht gegeben hat!
Sie meinen, es sei mutig, weil ich 62 Jahre alt bin! Würde Charlize Theron nackt vor der Kamera stehen, würden Sie das vermutlich nicht als mutig bezeichnen!

Doch, das wäre von Charlize Theron natürlich ebenso mutig.
Na gut, Sie haben Ihre Antwort ja bereits bekommen. Sie finden es mutig. Tatsächlich läuft die gesamte Geschichte darauf hinaus, dass meine Figur Nancy endlich in der Lage ist, ihren Körper zu akzeptieren. Dabei handelt es sich um einen ganz normalen, natürlichen Körper ohne irgendwelche Behandlungen. Ihre Frage macht mir deutlich, dass wir einfach nicht gewöhnt sind, normale Körper zu sehen. Ob das mutig ist oder nicht, darüber kann man streiten. Unbestreitbar ist, dass es gut für uns alle wäre, wenn wir mehr normale Körper sehen würden.

Was hat Sie an diesem Drehbuch gereizt?
Das Drehbuch ist unglaublich modern. Es behandelt Fragen von Scham und Lust, wie ich es in dieser Form noch in keinem Film gesehen habe. Nancy, die Heldin, ist keine Puritanerin, sondern eine ganz durchschnittliche Frau mit einem ganz gewöhnlichen Beruf. Sie war verheiratet und hat zwei Kinder. Vielleicht ist ihre Einstellung nicht unbedingt sehr liberal, doch das macht ihre Normalität eben aus. Im Kern erzählt der Film davon, wie zwei Menschen in einem Raum voneinander lernen. Wie sie Vorurteile ablegen. Und wie wichtig es ist, miteinander zu reden. Unter normalen Umständen würden diese beiden Menschen kaum miteinander sprechen. In diesem Hotelzimmer jedoch müssen sie ihre Komfortzone verlassen.

Wie würden Sie Ihre Figur charakterisieren?
Nancy ist mutig, aber sie hat ihre Fehler. Viele ihrer Überzeugungen sind das Gegenteil von woke, was ich liebe, weil das bei 90 Prozent der Bevölkerung ebenso ist. Ihre Einstellungen, ihre Vorurteile, ihre Voreingenommenheit sind nicht ungewöhnlich. Nancy hat die Regeln ihr ganzes Leben lang befolgt. Doch langsam erkennt man, dass diese vermeintlich so perfekte Konstruktion in Wirklichkeit ganz anders aussieht. Es gibt eine Leere, welche Nancy daran gehindert hat, wirklich ein menschliches Wesen zu sein.

Ist die sexuelle Revolution an Nancy vorbeigegangen?
In einer Szene sagt Nancy einmal, dass es Frauen ihrer Generation gibt, die sexuell aktiver waren als sie selbst. An ihr selbst ging das alles vorüber. Sie lebte in einer kleinen Stadt und verbrachte dort ein ordentliches Leben: Beruf, Ehe, Kinder. Sie hat sich anständig verhalten, so wie es Frauen damals gesagt wurde: Sei ein gutes Mädchen! Die Lust am eigenen Körper war für sie mit Sicherheit nie ein Thema.

Sorgen Flirt-Plattformen wie Tinder heute für mehr Freiheiten?
Nein, solche Plattformen sind eine Einladung, die eigenen Fotos zu industrialisieren. Das Ziel ist, möglichst perfekt auf seinen Bildern auszusehen. Was Werbung und Kino vormachen, wird dort nachgestellt. Dort werden perfektionistische Varianten des menschlichen Körpers als Vorbild gefeiert, die man selbst niemals erreichen kann. Das sorgt natürlich für ganz große Unzufriedenheit. Unser Film hingegen zeigt, wie Zufriedenheit entstehen kann, nämlich durch Kommunikation. Am Ende hat Nancy diese sehr schöne Bindung mit diesem Mann, eine tiefe und unromantische Intimität. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.

Wie entspannt sind Dreharbeiten in einem kleinen Raum mit sehr viel Dialog und nur einem Partner?
Zwölf Seiten Dialog an einem Drehtag stellen schon eine Herausforderung dar! Wir mussten den Text wirklich sehr gut kennen. Wie immer, wenn etwas derart komprimiert wird, müssen Dinge sich von diesem Druck auch wieder befreien. Das ist einschränkend und zugleich sehr befreiend.

Wie gelingt es, die Intimität glaubhaft darzustellen?
Die Regisseurin Sophie Hyde, mein Filmpartner Daryl McCormack und ich haben gemeinsam sehr viel geprobt. Es gab diese Übung, bei der wir auf dem Boden lagen und beschreiben mussten, welche Stellen am Körper einem gefallen und welche nicht. Dann haben wir einen ganzen Tag damit verbracht, unbekleidet zu sein. Damit hat sich die Nacktheit zwischen uns normalisiert.

Ihre Figur Nancy betrachtet sich am Ende mit Stolz nackt im Spiegel. Wie ergeht es Ihnen dabei?
Ich kann nicht so vor einem Spiegel stehen. Sobald ich das tue, ziehe ich den Bauch ein, drehe mich seitwärts. Ich ertrage das nicht, mich so anzugucken. Man hat uns Frauen unser ganzes Leben lang eine Gehirnwäsche verpasst, damit wir unsere Körper hassen. Und alles, was uns umgibt, erinnert uns daran, wie unvollkommen wir sind und was alles nicht perfekt ist. Ziehen Sie sich mal aus und stellen Sie sich still vor einen Spiegel. Bewegen Sie sich nicht. Akzeptieren Sie sich, wie Sie sind.