ray Filmmagazin » Themen » Retrospektive: Der lange Schatten

Retrospektive

Der lange Schatten

| Jörg Schiffauer |
Eine Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum widmet sich Pier Paolo Pasolini, Mauro Bolognini und Carlo Lizzani.

Als sich im vergangenen März der Geburtstag von Pier Paolo Pasolini zum einhundertsten Mal jährte, war dieses Jubiläum von zahllosen Würdigungen begleitet, die sein phänomenales Werk als Dichter, Journalist, Schriftsteller und natürlich als Filmemacher beleuchteten. Zu seinem einzigartigen filmischen Œuvre, das im Rahmen der Retrospektive umfassend zu sehen sein wird, zählen seine erste Regiearbeit Accattone (1961), mit der Pasolini die „Borgate“, jene römischen Vorstädte, die als soziale Brennpunkte gelten, in den Mittelpunkt rückte. Auch in Mamma Roma (1962) porträtiert er mit der von Anna Magnani gespielten Prostituierten eine Außenseiterin am Rande der Gesellschaft.

In Il Vangelo secondo Matteo (Das 1. Evangelium – Matthäus, 1964), überwiegend mit Laiendarstellern gedreht, zeichnet Pasolini entlang einer ziemlich strikten Umsetzung der biblischen Vorgabe Jesus als sozialen Revolutionär. Mit Edipo Re (1967) und Medea (1969) – mit Maria Callas in der Titelrolle – griff Pasolini Stoffe aus der klassischen Mythologie auf, seine eigenwilligen Inszenierungen vermochten die universelle Gültigkeit kongenial zu betonen.

Berührungspunkte

Während das herausragend solitäre Schaffen von Pier Paolos Pasolini immer höchst präsent war und ist, harren die Arbeiten Bologninis und Lizzanis einer dringend notwendigen Wiederentdeckung. Betrachtet man ihre Filme etwas genauer, erweisen sich die beiden als Regisseure, die einige hochspannende Kapitel des europäischen Kinos nach 1945 zu schreiben verstanden haben – inklusive mancher Berührungspunkte mit Pier Paolo Pasolini, wobei das gemeinsame Geburtsjahr 1922 der drei Protagonisten nicht mehr ist als eine originelle biografische Anekdote.

Mauro Bolognini – die Retrospektive zeigt von ihm wie auch von Lizzani ausgewählte Regiearbeiten – absolvierte zunächst ein Architekturstudium in Florenz, um dann seine Ausbildung am Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom fortzusetzen. Nachdem Bolognini bei mehreren Filmen von Luigi Zampa als dessen Assistent fungiert hatte, konnte er 1953 mit der Komödie Ci troviamo in galleria seine erste eigene Regiearbeit verwirklichen. Der in den nächsten zwei Jahrzehnten höchst produktive Bolognini, der in dieser Zeitspanne beinahe jedes Jahr zumindest einen Film drehte, setzte dabei mehrere in Szene, bei denen Pasolini als Ko-Drehbuchautor beteiligt war. Dazu zählen die Komödie Marisa la Civetta (1957), der vom Neorealismus deutlich beeinflusste La notte brava (1958) sowie La giornata balorda (1960), basierend auf Kurzgeschichten von Alberto Moravia, der neben Pasolini auch am Skript mitarbeitete. Mit Il bell’Antonio (1960) – die Hauptrollen spielten Marcello Mastroianni und Claudia Cardinale –, der die traditionalistischen, verkrusteten Denkmuster im damaligen Sizilien aufgreift, konnte Bolognini den Hauptpreis beim Festival in Locarno gewinnen. Filme wie La viaccia (1961), Metello (1979), Bubù (1971) oder L’eredità Ferramonti (1976), die alle in historischen Epochen angesiedelt sind, festigten Mauro Bologninis Position im europäischen Kino.

Carlo Lizzani arbeitete zunächst als Filmkritiker, eher 1946 als Ko-Drehbuchautor von Aldo Verganos Il sole sorge ancora in die Filmbranche einstieg. Als Autor war er an den Skripts von Klassikern des Neorealismus wie Rossellinis Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null, 1948) und Guiseppe De Santis’ Riso amaro (Bitterer Reis, 1949) beteiligt, Letztere trug Lizzani eine Oscar-Nominierung ein. Auch als Dokumentarfilmer konnte Lizzani sich in den fünfziger Jahren einen Namen machen. Bereits 1951 inszenierte er jedoch mit Achtung, Banditi! seinen ersten Spielfilm, der den Widerstand kommunistischer Partisanen gegen die Besatzer aus Nazi-Deutschland thematisiert. Ein ähnliches Sujet behandelt Lizzani in Il gobbo (Der Bucklige von Rom, 1960), der auf der Lebensgeschichte des titelgebenden Protagonisten basiert. Dieser, ein durchaus ambivalenter Charakter, schließt sich dem Widerstand an und wird zum erbitterten Kämpfer gegen die Faschisten. Doch auch nach der Befreiung durch die Alliierten bleibt der Bucklige ein höchst widerspenstiger Geist, der auch vor kriminellen Aktivitäten nicht Halt macht. Einen der Partisanen spielt Pier Paolo Pasolini höchstpersönlich. Lizzani drehte aber auch Spagetthi-Western wie Requiescant (1967) – auch hier tritt Pasolini als Darsteller in Erscheinung – und Un Fiume di dollari (1967) oder leichte Komödien wie La Celestina P… R… (1965). Als stilbildend erwiesen sich zwei auf wahren Begebenheiten basierende Kriminalfilme, Svegliati e uccidi (1966) sowie Banditi a Milano (1968), die schon etliches von dem in den siebziger Jahren sehr populären Subgenre des Poliziottesco vorwegnehmen.

Gemeinsamkeiten

Neben arbeitsbedingten Kollaborationen wie dem erwähnten Verfassen von Drehbüchern oder schauspielerischen Gastauftritten findet sich allerdings auch ein Themenkomplex, der wiederholt in den Arbeiten von Pasolini, Bolognini und Lizzani Platz greift: Die Ära des Faschismus und ihr Nachwirken auf das Italien der Nachkriegszeit.

Es mag typisch für sein Werk sein, dass sich Pasolini, der höchst präzise Erforscher gesellschaftlicher Zustände und Strukturen, den Faschismus und seine Mechanismen auf radikale Weise ins Auge fasste, doch das Ausmaß, mit der er dies tat, löst auch heute noch heftige Reaktionen aus. Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von Sodom) spielt in der titelgebenden Republik von Salò, jenem faschistischen Marionettenstaat im Norden Italiens, den Mussolini nach seiner Absetzung durch den „Großen Faschistischen Rat“ nur mit Hilfe der Nazis regieren konnte. Vier großbürgerliche Repräsentanten dieses Regimes entführen mit Hilfe einiger ihrer Schergen eine Gruppe junger Burschen und Mädchen und verbringen sie in ein abgelegenes Anwesen, wo die Gefangenen ihren Herren völlig ausgeliefert sind. Was folgt, sind eine Reihe von Demütigungen, sexuelle Gewalt in jeder Form bis hin zu Folter und Mord – und das alles im Rahmen eines von den vier „Herren“ aufgestellten strikten Regelwerks, das dem Grauen die Form einer genau orchestrierten Inszenierung verleiht. Zwar basiert Salò lose auf einer Vorlage des Marquis de Sade, doch die Unterteilung in Kapitel, die als „Höllenkreise der Leidenschaft, der Scheiße sowie des Blutes betitelt sind, verweisen deutlich auf Dantes „Inferno“ – eine schlimmere Hölle als jene, die Pasolini hier entfacht, ist kaum vorstellbar. Die Kontroversen um Aufführungsverbote und andere Zensurmaßnahmen sollte Pasolini, dessen gewaltsamer Tod in Ostia am 2. November 1975 noch immer geheimnisumwittert ist, nicht mehr erleben, erst einige Wochen nach seinem Ableben wurde Salò in Paris uraufgeführt. Höchst treffend beschreibt Bertrand Bonello, Regisseur von L’Apollonide, Saint Laurent oder Zombi Child welchen Effekt das kaum ertragbareGrauen, mit dem Pasolini in Salò auf die absolute Pervertierung von Macht verweist, hat: „Was der Film bei mir bewirkt hat, ist, dass ich den Faschismus spüren konnte. Aus dem Geschichtsunterricht, ans anderen Filmen, Dokumentationen, wie anschaulich sie auch gewesen sein mögen, mit Aussagen von Zeitzeugen – aus all dem wusste ich das zwar, also ich habe es begriffen, aber hier, in dem Film, wird es auf einmal spürbar.“

Carlo Lizzani griff den Widerstand gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg mit den bereits erwähnten Achtung, Banditi! und Il gobbo auf. Bereits 1954 thematisierte er mit Cronache di poveri amanti anhand der Bewohner eines Viertels in Florenz, wie der Faschismus im Italien der zwanziger Jahre im Alltagsleben nach und nach Einzug hält. Il processo di Verona (1963) befasst sich wiederum mit einem der letzten Kapitel von Mussolinis Regime, dem Prozess gegen einige jener Mitglieder des „Großen Fachistischen Rats“ – darunter Mussolinis Schwiegersohn, Graf Galeazzo Ciano –, die 1943 für die Absetzung des „Duce“ gestimmt hatten. Mussolini – ultimo atto (Mussolini – Die letzten Tage, 1974) beleuchtet dann den finalen Akt um den „Führer des Faschismus“. Mit dokudramatisch anmutender Nüchternheit rekonstruiert Lizzani die letzten Tage Mussolinis im April 1945, von seiner Gefangennahme durch Partisanen bis zur Hinrichtung mit seiner geliebten Claretta Petacci am 28. April. Rod Steiger verkörpert Mussolini als gebrochene, völlig bedeutungslos gewordene Figur, von jener Mischung aus großspurigem Volkstribun und Punchinello, mit der der „Duce“ am Höhepunkt seiner Macht die Massen in seinen Bann zu ziehen vermochte, ist in Mussolini – ultimo atto nichts mehr übrig geblieben.

Dass Mussolinis Faschismus auch im Italien der Nachkriegszeit lange Schatten geworfen hat, thematisiert Carlo Lizzani in San Babila ore 20: un delitto inutile (1976). Vor dem Hintergrund jener Ära Ende der sechziger und siebziger Jahre, als die extreme Rechte in Italien zunehmend zu Gewaltaktionen griff – und die Reaktion von kämpferischen Antifaschisten ausblieb –, fokussiert San Babila auf vier junge Männer, die sich auf Seiten der Neofaschisten zusehends radikalisieren. Ihr von Imponiergehabe, Machismo und rechten Parolen geprägtes Verhalten ergibt jene verhängnisvolle Mischung, die schließlich in einer sinnlosen Gewalttat mündet. Lizzani drehte dabei vor Ort, auch auf der titelgebenden Piazza San Babila in Mailand, die von den Neofaschisten als Aufmarschplatz beansprucht wurde. Ein durchaus prekäres Unterfangen, wie sich Gilberto Squizzato, Regieassistent bei San Babila, erinnert, betrachteten die Neofaschisten den Platz zur Zeiten der Dreharbeiten doch immer noch als „ihr“ Territorium. Zusammen mit Lizzanis höchst präziser, für ihn typischen Art der Inszenierung – seine Schnörkellosigkeit, die sich stilistischen Extravaganzen verweigerte, war zweifellos auch seiner dokumentarischen Arbeit geschuldet –, verleihen die Aufnahmen an Originalschauplätzen San Babila ein hohes Maß an Authentizität, die die Atmosphäre jener Jahre – der offen gezeigte „Römische Gruß“ ist dafür ein sichtbares Indiz – zwischen politischer Konfrontation extremer Art und der damit einhergehenden Verunsicherung kongenial widerspiegelt. Geradezu unheimlich prophetisch erweist sich Lizzani mit der Zeichnung der vier Neofaschisten als adrette junge Leute, die teilweise aus einem großbürgerlichen Milieu stammen, das man durchaus als „gutes Haus“ bezeichnen könnte. Angesichts dieses Erscheinungsbildes fühlt man sich auf verstörende Weise an Francesca Mambro und Valerio Fioravanti, Mitglieder der rechtsextremen Organisation Nuclei Armati Rivoluzionari, die 1980 den Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna verübten, der 85 Menschen das Leben kostete, erinnert.

Mit der „bleiernen Zeit“ Italiens, der Epoche, in der gewalttätige Auseinandersetzungen den politischen Diskurs zu ersetzen schienen, beschäftigt sich auch Mauro Bolognini in Imputazione di omicidio per uno studente (Mordanklage gegen einen Studenten, 1972). Darin endet eine Studentendemonstration mit dem Tod eines Teilnehmer und eines Polizisten. Als der mit der Untersuchung des Falls befasste Richter im Lauf seiner Ermittlungen jedoch feststellt, dass sein eigener Sohn darin verwickelt ist, gerät der honorige Jurist in einen Interessenskonflikt. Die Radikalisierung jener Dekade samt ihrer internationalen Dimension spricht Carlo Lizzani in Kleinhoff Hotel (1977) an – wenn auch auf etwas grotesk anmutende Weise. Weil sie ihren Weiterflug verpasst, muss Pascale, eine Frau aus großbürgerlichen Verhältnissen, einen weiteren Tag in West-Berlin verbringen. Spontan entscheidet sie sich, im Hotel Kleinhoff abzusteigen, dass sie aus ihrer Studentenzeit kennt. Im Nebenzimmer logiert ein Mann namens Alex, offenbar Mitglied einer linken Terrororganisation – obwohl der Begriff RAF im Film nicht fällt, handelt es sich recht eindeutig um diese Gruppe. Der Zimmernachbar übt eine seltsame Faszination auf Pascale aus, sie folgt ihm durch Berlin, wo sie die angespannte gesellschaftliche Lage zu spüren bekommt. Als sie in eine Polizeikontrolle gerät, wird sie auf ein Polizeirevier verbracht, wo die Vertreter des Staates die Willkür ihrer Macht demonstrieren. Der überzeugte Marxist Lizzani zeigte übrigens nie Berührungsängste gegenüber populärkulturellen Genres oder griffigen Formulierungen seiner Thesen. Nach einem erotischen Zwischenspiel von Pascale und dem Terroristen, der eigentlich aussteigen will, erfährt dieser in einer Radiomeldung von der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden – und von einer möglichen Verbindung zu einer deutschen Terrorgruppe. Knapp vor dem erotischen Tête-à-Tête hat ein von Peter Kern gespielter Journalist Pascale einen Schnellkurs in Sachen extremistischer Gruppierungen gegeben. In Kleinhoff Hotel mutiert die Tragödie zur Farce.