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The Whale – Darren Araonofsky
Darren Araonofsky © Niko Tavernise

The Whale | Interview

„Entscheidend ist die Wahrhaftigkeit“

| Dieter Oßwald |
Darren Aronofsky und Brendan Fraser über ihre Zusammenarbeit, die physische und psychologische Gestaltung der Hauptfigur sowie die Darstellung von Emotionen.

Reden wir in völliger Ehrlichkeit über „The Whale“. Denn Ehrlichkeit ist ja dessen Thema …
Darren Aronofsky: Das stimmt! Vielen Dank.

Im Film heißt es einmal, Menschen seien unfähig, sich nicht um andere zu kümmern – glauben Sie daran oder ist das eine Wunschvorstellung?
Darren Aronofsky: Ich glaube sehr stark an diese Aussage. Und unser Film glaubt ebenfalls daran. Die Dialoge unseres Drehbuchautors Samuel Hunter finde ich unglaublich poetisch und wunderschön. Als Geschenk gab ich Sam eine Skulptur von Charlie, auf deren Sockel wir diesen Satz gravieren ließen. Für mich steht diese Aussage für eine große Hoffnung.

Brendan Fraser: Charlie stellt Liz dies als Frage, im Wissen darum, wie sehr sie ihn liebt und wie viele Konflikte sie durchlebt. Sie ist Krankenschwester und die Schwester seines einstigen Partners. In diesem Moment weiß Charlie, was Liz für ihn alles durchgemacht hat. Ich glaube, er möchte ihr mit diesem Satz einfach für ihr Mitgefühl danken. Ich hoffe sehr, dass mehr Menschen dieser Ansicht teilen – diesen Satz gibt es, um ihn dem Publikum als Frage zu stellen.

Der junge Missionar kann unwidersprochen seiner Homophobie frönen. Ist es klüger, dem Publikum sein eigenes Urteil zu überlassen statt politisch korrekte Botschaften im Film zu predigen?
Darren Aronofsky: Das ist eine gute Frage, ich wünschte, unser Autor Sam Hunter wäre jetzt dabei. Ich habe mir über die homophoben Äußerungen des Predigers nicht wirklich viele Gedanken gemacht, aber es stimmt, sie sind vorhanden. Für mich stand sein Geständnis im Vordergrund, dass er Charlie ekelhaft findet. Das gilt nicht nur seinem körperlichen Aussehen, sondern teilweise auch seiner sexuellen Orientierung. Charlie zwingt Thomas zur Ehrlichkeit. Wenngleich die Aussagen nicht Charlies moralischen Ansichten entsprechen, sind sie zumindest ehrlich.

Wie wird aus einem Durchschnittsmenschen eine Person mit zweieinhalb Zentnern Gewicht? Oder sollten Magier ihre Tricks lieber nicht verraten?
Darren Aronofsky: Sofort nach der Zustimmung von Brendan, die Rolle zu übernehmen, rief ich meinen Maskenbildner Adrien Morot an, mit dem ich schon seit The Fountain zusammenarbeite. Von ihm wollte ich wissen, ob man diese Verwandlung auf eine glaubhafte Weise umsetzen kann. Die Bedingung war, dass diese Prothese keine Falten von Brendans Gesicht verdeckt, damit seine ganze Mimik nicht eingeschränkt wird. Adrien entwickelte mit neuester Technologie eine Lösung, die unglaublich realistisch wirkte und zugleich Brendan alle Bewegungsfreiheit ließ. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass jenseits dieser ganzen Maskentechnik es des Künstlers Brendan Fraser bedurfte, der sie in sein Spiel einbaute. Der sie ignorierte und damit sich selbst gegenüber glaubhaft bleiben konnte.

Brendan, mit welchen Gefühlen sehen Sie sich selbst nach dieser Transformation? Gehört das zum Job einfach dazu, wie eine Perücke?
Brendan Fraser: Als ich mich zum ersten Mal damit sah, dachte ich, das sei jemand, den ich nicht kenne.

Darren Aronofsky: Stimmt das?

Brendan Fraser: Natürlich ist mir klar, dass Masken etwas verändern. Aber beim ersten Mal war das schon heftig zu sehen. Das Kostüm und das ganze Aussehen von Charlie, sein Charakter-Make-up, waren perfekt aufeinander abgestimmt und hat mich nie vom Schauspielen abgelenkt. Nur so kann es funktionieren – und ich glaube, das haben wir erreicht.

Inwieweit ist das Übergewicht eine Metapher für den Kontrollverlust im Leben? Könnte Charlie vielleicht ebenso gut ein Alkoholiker oder Spielsüchtiger sein?
Brendan Fraser: Charlie trägt einen großen emotionalen Schmerz in sich, welcher sich durch seinen Körper offenbart. Er verschlingt gleichsam seine Gefühle. Er befriedigt seine Süchte. Er verletzt sich sogar durch das ständige unkontrollierte Essen. Aber ja, statt der Fresssucht könnte Charlie auch spiel- oder sexsüchtig sein. Er befriedigt ein Bedürfnis, das er verspürt. Sein Gehirn sagt ihm: Du fühlst dich besser, wenn du das jetzt sofort tust!

Darren Aronofsky: Das ist ein guter Punkt. Es könnte sich ebenso gut um Alkohol-, Spiel- oder Sexsucht handeln. Darüber gibt es natürlich auch bereits etliche Filme. Menschen reagieren auf emotionale Schmerzen in ganz unterschiedlicher Weise, bei Charlie ist es eben die Fresssucht.

Sie haben sich in der Vorbereitung mit adipösen Menschen getroffen. Wie war diese Erfahrung für Sie?
Brendan Fraser: Unsere erste Ansprechpartnerin war die Psychologin Dr. Rachel Goldman, eine Expertin auf diesem Gebiet. Sie gab wichtige Ratschläge für das Drehbuch und brachte mich in Kontakt mit zehn Betroffenen, die mir von ihren Erfahrungen erzählten. Manche hatten lebensrettende Operationen hinter sich, andere scheiterten, weil sie erst 150 Pfund abnehmen sollten, bevor ihre Versicherung bezahlen würde. Ihnen allen war wichtig, mir ihre Botschaft mitzuteilen: Das sind Menschen mit Familien. Mit Hoffnungen, mit Sehnsüchten und Träumen, wie wir alle. Es ist so einfach, adipöse Personen in unserer Gesellschaft zu ignorieren oder auszugrenzen. Und das ist einfach nicht fair! Diese Menschen kennen zu lernen, hat mir verdeutlicht, dass ich mit dieser Rolle eine Aufgabe habe. Meine Absicht war es, diesen Menschen Würde zu verleihen.

Darren Aronofsky: Ja, darum geht es in diesem Film. Er gibt Menschen, die oft übersehen werden, Würde.

Wobei dieser Charlie keineswegs immer nur liebenswert ist. Wie wichtig sind solche Grautöne beim Porträt einer Figur?
Darren Aronofsky: Charlie hat seine dunklen Seiten, das stimmt.

Brendan Fraser: Er ist ein sehr selbstsüchtiger Typ, darüber haben wir oft gesprochen. Charlie traf Entscheidungen in seinem Leben, die fragwürdig sind. Wir treffen ihn an einem Wendepunkt seines Lebens, das fast zu Ende ist. Bleibt ihm Zeit zur Versöhnung mit seiner Tochter? Wir wissen es nicht. Er weiß es nicht. Möchte die Tochter überhaupt eine Versöhnung? Das bleibt offen bis zum Schluss. Darin liegt die Brillanz der dramatischen Struktur von Sam Hunters Buch.

In einer Videokonferenz mit seinen Studenten zeigt Charlie später zum ersten Mal sein Gesicht. Prompt zücken die meisten ihr Smartphone, um ihn zu fotografieren. Wie kam es zu dieser Idee?

Darren Aronofsky: Die Studenten sind Angehörige von Mitarbeitern des Films, darunter auch meine Nichte – die macht allerdings kein Foto mit ihrem Smartphone. (Lacht.)

Brendan Fraser: Diese Studenten sind auch der Chor im Film.

Darren Aronofsky: … oder sie sind wir, das Publikum!

Nicht nur die Maske ist in diesem Film eine Herausforderung: Ein Kammerspiel in nur einem Raum mit fünf Akteuren klingt zunächst nicht unbedingt nach großem Kino.
Darren Aronofsky: Kino ist Schauspiel, Licht und Kamera. Den Raum zu reduzieren und damit das Schauspiel zu unterstreichen, ist tatsächlich eine aufregende Herausforderung. Wie verwandelt man dieses großartige Stück Drehbuch in ein Stück Kino? Zum Glück ist die Geschichte so reichhaltig und die Darsteller so großartig, dass man nie ein Gefühl der Klaustrophobie in diesem Film bekommt, der zwei Stunden lang in nur einem Raum spielt. Diese Erkenntnis war meine ganz große Erleichterung, nachdem ich die erste Fassung gesehen hatte.

Es gibt in „The Whale“ viele bewegende Szenen und auch Tränen. Wie gelingt Ihnen die Darstellung von Gefühlen,
ohne in Kitsch abzugleiten?
Darren Aronofsky: Das ist immer eine sehr schwierige Linie. Für mich liegt die Lösung in der Wahrhaftigkeit der Darstellung. Wenn diese gegeben ist, gehe ich bis an die Grenzen. Ob eine Figur an einer bestimmten Stelle zu viel oder zu wenig Gefühle zeigt, wird ohnehin jeder Zuschauer anders empfinden. Man kann es nicht allen recht machen, jeder hat da seine eigene Meinung und Empfindung. Deswegen richte ich mich danach, was mir selbst am wahrhaftigsten erscheint.

Sehen Sie eine Verwandtschaft zwischen Charlie und John Merrick, der Titelfigur aus „The Elephant Man“?
Darren Aronofsky: Über The Elephant Man habe ich viel nachgedacht. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Deformation des „Elefantenmenschen“ ist extrem selten und kommt nur bei ganz wenigen Menschen vor. Beim Publikum dafür ein Mitgefühl zu wecken, war eine extrem schwierige Aufgabe. Gegenüber Adipösen gibt es so viele Vorurteile, Hass und Ablehnung, dass einige Menschen sich auf unsere Geschichte gar nicht einlassen wollen. Die werden wir nach den ersten fünf Minuten des Films verlieren. Doch wenn das Publikum sein Herz öffnet, wird es mit einer großartigen Reise belohnt. Denn Brendan verleiht diesem Charlie eine großartige Menschlichkeit.

Mr. Fraser, macht Sie „The Whale“ mehr stolz als ein Abenteuerfilm wie „The Mummy“?
Brendan Fraser: In gewisser Weise schon, aber ich bin auf beide Filme stolz. Blockbuster erreichen ein sehr großes Publikum. The Whale wird das Publikum mit großen Gefühlen erreichen.

Zum Abschluss: Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Qualität im Schauspiel-Beruf?
Brendan Fraser: Wahrhaftigkeit!