Das 27. Sofia International Film Festival fand vom 16. - 31. März 2023 statt.
„Reconnected“ war der Slogan, den Stefan Kitanov, Direktor des Sofia International Film Festival, als Logo auf Poster und Programmhefte hatte drucken lassen. Nach drei Jahren der Pandemie wünschte er sich „eine warme Begegnung zwischen Film, Autor und Publikum“. Die Menschen sollten sich wieder treffen und feiern – so wie er selbst, als er bei der Abschlussparty mit der Gitarre in der Hand in einer Rockband spielte. Die Filme des Wettbewerbs verbreiteten allerdings eine ganz andere Atmosphäre. Die Regisseure zeigten angeschlagene Charaktere – Flüchtlinge, Außenseiter, Opfer einer Diktatur, einsame junge Männer, wütende junge Frauen – , die die Hindernisse vor ihnen nicht überwinden konnten, die ihre Alltagsprobleme nicht bewältigten, die keinen Frieden mit ihrer Vergangenheit schlossen. Das galt für fast jeden der zwölf Filme im Wettbewerb, und so legte sich eine eigentümliche Melancholie über das Cinema House in der Innenstadt von Sofia.
Nachtwache zum Beispiel, das Regiedebüt von Joachim Neff. Ein junger Mann hat bei einem Autounfall in betrunkenem Zustand fahrlässig ein Mädchen getötet. Nach zwei Jahren in Gefängnis wegen Totschlags wird er auf Bewährung entlassen und beginnt als Nachtwächter an der Universität von Lüneburg. Während seiner nächtlichen Touren durch die Gebäude schließt er Freundschaft mit einer Gruppe von Studenten. Doch einer von ihnen ist der Bruder des toten Mädchens. Eine hervorragend gespielte, starke Geschichte über Schuld und Vergebung. Interessant ist vor allem der Kontrast zwischen den Studenten und dem Nachtwächter. Er passt in diese Gruppe nicht hinein. Er wird bis zum Schluss ein Außenseiter bleiben.
Auch To the North (Spre Nord), das Filmdebüt des rumänischen Regisseurs Mihai Mincan, erzählte eine starke, originelle und packende Geschichte, basierend auf einer wahren Begebenheit. Auf einem riesigen Containerschiff, das von Spanien nach Kanada unterwegs ist, entdeckt ein streng religiöser philippinischer Seemann einen blinden Passagier aus Rumänien. Er weiß, dass der taiwanesische Kapitän ihn über Bord werfen wird – so, wie er es schon mit dem Freund des Rumänen gemacht hat. Darum entschiedet er sich, den blinden Passagier zu verstecken. Doch dann entspinnt sich ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sich nicht nur die Landsmänner des Seemanns, sondern auch der verzweifelte Rumäne gegen ihn wenden. Regisseur Mincan vermittelt ein genaues Gefühl für die Verzweiflung des blinden Passagiers, für seine Angst und seine Klaustrophobie, während er sich im Labyrinth der Container versteckt oder später in einem kleinen Raum ohne Licht eingeschlossen wird. Interessant ist auch der Gebrauch einer sehr simplen, hart und beängstigend herausgestoßenen Sprache, die vor allem der Kapitän benutzt.
Cloves & Carnations (Bir tutam karanfil), der zweite Film des türkischen Regisseurs Bekir Bülbül, erzählte ebenfalls eine ergreifende Geschichte, dieses Mal mit ungemein schönen Bildern der einsamen Landschaft im Südosten Anatoliens. Ein alter Mann – vielleicht ein Flüchtling – und seine zwölfjährige Enkelin, sind unterwegs zur Grenze nach Syrien. Sie schleppen einen Sarg mit sich, in dem sich die Leiche der verstorbenen Frau des alten Mannes befindet. Doch als sich keine Mitfahrgelegenheiten mehr ergeben, gehen sie zu Fuß weiter, der Großvater zieht den Sarg hinter sich her. Das ist eine starker Metapher über Verlust und Trauer. Interessant ist auch die Enkelin, die fast niemals spricht, aber wundervoll zeichnen kann, obwohl sie wollene Handschuhe trägt. Der Filmstil ist sehr iranisch geprägt. Manchmal sieht man die Menschen, die gerade sprechen, gar nicht im Bild.
Ein Mann in Gefahr ist auch der Hauptcharakter in No End, gedreht von Nader Saeivar, einem iranischen Regisseur. Eigentlich ist Ayaz ein ganz gewöhnlicher Kerl. Allerdings ist sein Schwager ein lauter und unbequemer Regierungsgegner. Darum gerät auch Ayaz ins Fadenkreuz der Geheimpolizei. Ein furchteinflößender Agent zwingt ihn, erst über seinen Schwager, dann über Nachbarn und andere Familienmitglieder Auskunft zu geben. Doch Ayaz ist nicht der Richtige für diesen Job, und vielleicht lässt ihn der skrupellose Agent gerade deswegen nicht aus einen Klauen. Das Problem des Films: Ayaz ist ein unattraktiver Charakter, schwach, weinerlich, ohne Rückgrat. Zugegeben: Dies ist ein Mann unter großem Druck eines unbarmherzigen Regimes, der Zuschauer fühlt das von Beginn an. Doch dann macht der Regisseur den Fehler, Ayaz in Situationen zu zeigen, in denen er dumm handelt oder aussieht wie ein Clown, zum Beispiel, als er in einer Szene gestreifte, viel zu große Hosen tragen muss. Der Regisseur steht nicht auf der Seite seiner Hauptfigur.
In Roving Woman, dem Regiedebüt von Michal Chmielewski, wird Sara, die Titelfigur, eines Nachts in Los Angeles einfach von ihrem Lebensgefährten vor die Tür gesetzt. Sie trägt nur ein Abendkleid und Pumps. So macht sie sich auf, einen Schlafplatz, vielleicht sogar ein neues Heim zu finden. Sie trifft andere Menschen, klaut ein Auto, bringt es später dem Besitzer zurück, versucht, sich mit ihrer Mutter zu versöhnen, doch irgendwann nimmt ihre Reise eine unerwartete Wendung. Frei inspiriert nach dem Geheimnis um Connie Converse, einer Musikerin, die 1974 spurlos verschwand, ist dies ein sehr enigmatischer Film. Der Zuschauer erfährt nicht, warum Sara so handelt, wie sie handelt, nicht einmal ihren Lebensgefährten lernen wir kennen. Trotzdem ist dies ein faszinierender Film, in dem auch die Musik von Connie Converse eine große Rolle spielt.
Und dann war da noch Red Shoes (Zapatos Rojos) des mexikanischen Regisseurs Carlos Eichelmann Kaiser, der nicht nur den Wettbewerb gewann, sondern auch den Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci). Der Film erzählt die Geschichte von Artemio, eines altgewordenen Bauern in den einsamen Bergen Mexikos, der erfahren muss, dass er all sein Land verlieren wird. Schlimmer noch: Seine Tochter ist gestorben, er soll die Leiche in Mexiko City abholen. Und so macht sich der greise Mann auf in die brodelnde Großstadt. Ohne Orientierung, ohne Unterstützung irrt er durch eine brutale, gleichgültige Welt, die er so noch nicht erfahren hat. Bis die Prostituierte Damiana ihn unter ihre Fittiche nimmt. Ein ergreifender Film ist das, mit einigen großen Szenen, zum Beispiel, wenn sich Artemio und Damiana in minutenlangen Einstellungen ihr schlimmste Trauma erzählen. Darüber hinaus geht es auch um eine Gesellschaft, die ihre Außenseiter, Alten und Schwachen einfach vergisst. Atmosphärisch auch der Kontrast zwischen dem einfachen Leben auf dem Land und dem Großstadtdschungel. Nicht zu vergessen die schauspielerische Leistung von Eustacio Ascacio.