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The Rye Horn
The Rye Horn

Filmfestival

Kontrastreiche Erzählformen

| Kirsten Liese |
Eindrücke vom 71. Filmfestival San Sebastian

Nicht auf jedem Festival lässt sich die Vielfalt des Kinos in seinen unterschiedlichsten Erzählformen so ausgeprägt erleben wie jüngst in San Sebastian. So ließen sich im Wettbewerb der 71.  Ausgabe gleichermaßen Geschichten erleben, die sich allein über Bilder mit sehr wenigen Worten vermitteln und solche, die von Dialogen dominiert werden und die Bilder dazu im Kopf des Zuschauers entstehen lassen.

Die Jury des internationalen Wettbewerbs unter dem Vorsitz der französischen Filmemacherin Claire Denis kürte The Rye Horn mit der Goldenen Muschel zum besten Film, bevorzugte offenbar das erstgenannte Extrem einer bildreichen Geschichte mit sehr wenigen Worten.  Und feierte zugleich das spanische Kino und die Frauen, die in dem Drama der Regisseurin Jaione Camborda  in solidarischer Schwesternschaft schwierige Zeiten durchstehen.

Eine qualvolle Geburt in langer Echtzeit-Einstellung eröffnet das subtile Drama, das wenig später ebenso detailliert nachzeichnet, wie die Protagonistin Maria einer jungen Frau bei einem illegalen Schwangerschaftsabbruch hilft. Beide Vorgänge ereignen sich in den 1970er Jahren, kurz bevor die Herrschaft des Diktators Franco endete.  Zunächst scheint bei der Abtreibung alles nach Plan zu laufen, doch in der Nacht stirbt die tapfere junge Frau. Maria, die sich an ihr keineswegs bereichern-, sondern ihr zu einem selbstbestimmten Leben verhelfen wollte, gerät ihrerseits in Not. Umgehend muss sie das Land verlassen, um nicht als Mörderin verurteilt zu werden. Auf der Flucht nach Portugal kommt sie beinahe ums Leben, mit letzter Kraft schafft sie es an die Küste. Kurze Zeit später ist sie selbst schwanger und nicht mehr in der Lage, schwere Feldarbeit zu arbeiten. Aber sie findet Hilfe bei einer schwarzen Prostituierten, die ihrerseits gerade ein Kind bekommen hat, und Maria bei sich aufnimmt.

In der Weise, wie sich Frauen schwesterlich mit gemeinsamer Kraft gegen patriarchale Strukturen auflehnen, Schutzräume schaffen und teilen, wirkt The Rye Horn wie eine spanische Antwort auf Antonias Welt von Marleen Gorris. Der feministische Klassiker aus Holland kam allerdings schon 1995 in die Kinos und ein bisschen wundert es, dass Camborda ihre Geschichte erst jetzt erzählt. Gleichwohl gelingt ihr ein höchst emotionales, bemerkenswertes Stück Kino, das sein Publikum tief in einen Strudel aus Schmerzen, Ängsten, Erschöpfungs- und Verzweiflungszuständen hineinzieht und gleichzeitig aufbaut mit der sagenhaften Power der nicht unterzukriegenden Heldinnen.

Mit Un amor zeigte San Sebastian noch ein weiteres berührendes Frauen-Porträt aus weiblicher Hand. Nach dem gleichnamigen Roman von Sara Mesa schildert Isabel Coixet den schwierigen Alltag einer Übersetzerin um die 30, die sich in eine Provinzstadt im spanischen Hinterland zurückgezogen hat. Diese Nat leidet unter ihrem unverschämten Vermieter, der sie permanent an das Geld erinnert, das sie ihm für seine Bruchbude schuldet, selbst aber nicht bereit ist, gravierende Mängel zu beheben. Selbst als Regen durch das Dach tropft, schaltet der Alte auf stur. In ihrer Not lässt sich Nat auf das unmoralische Angebot eines Außenseiters aus der Nachbarschaft ein: Andreas (Silberne Muschel für die beste Nebenrolle: Hovik Keuchkerian), „der Deutsche“ wie ihn andere Nachbar nennen,  repariert ihr das Dach, dafür muss sie mit ihm schlafen. Unverhofft weckt der Sex bei der sensiblen Frau Leidenschaften, aber am Ende ist die Beziehung zum Scheitern verurteilt. Nicht nur äußerlich erscheint Andreas als ein grober Klotz, er offenbart auch keinen guten Charakter.

Die im Titel verankerte Liebe bezieht sich im Film mithin wohl  weniger auf das obsessive sexuelle Verhältnis  als vielmehr auf die Freundschaft mit einem Hund, wie die Regisseurin im Interview sagt. Der Vermieter hat ihn Nat in schlechter Absicht aufgedrückt. Aber entgegen seinen Prophezeiungen wächst die angeblich  beißwütige Kreatur ihr ans Herz.  Denn sie erkennt schnell, dass sie ein einsames, geschundenes Wesen vor sich hat, das Menschen misstraut. Kraft des großen Einfühlungsvermögens in die Seele eines verängstigten Hundes und der großen Liebe, die die Regisseurin für ihre vierbeinigen Darsteller – eine Katze spielt auch noch mit – einbringt, gelingt ihr eine der schönsten Geschichten über die Freundschaft zwischen Mensch und Tier, die das Kino hervorgebracht hat.

Für das theaternahe, extreme Kino langer Dialoge in gleichbleibenden Einstellungen steht in San Sebastian der Rumäne Cristi Puiu, der in seinem jüngsten Werk MMXX von der Corona- Zeit im Lockdown erzählt, in der die Welt stillstand, soziale Begegnungen nur noch unter Auflagen möglich waren.

Eben deshalb treffen in den vier Episoden jeweils wenige Personen überwiegend in Innenräumen aufeinander, wo sie  prekäre Situationen reflektieren, wobei die Erzählungen bis hin zur Unerträglichkeit kontinuierlich abgründiger werden. Eine jüngere Frau nimmt am Schicksal einer Freundin teil, die zur Entbindung in eine spezielle Quarantäne-Klinik eingeliefert wurde und nun darunter leidet, dass sie ihr Neugeborenes nicht sehen darf. Das seien einfach Grausamkeiten, die er sich nicht erklären könne, sagt Puiu, bräuchten nicht gerade Patienten in einer Covid-Station Zuversicht und Zuwendung statt Isolation?  In den übrigen Episoden bietet eine Psychotherapeutin ihrer Klientin an, die Masken abzunehmen, ein Krankenpfleger hinterfragt Sinn und Unsinn der vielen Covid-Tests, die mit ihren großen Fehlerraten oftmals weniger nützen als helfen. In der letzten, schaurigsten Episode berührt der Rumäne Puiu allerdings noch  andere Themen: Da berichtet eine Prostituierte sichtlich aufgewühlt davon, wie sie ihre eigenen Kinder an Organhändler verkauft hat. Puiu begibt sich mithin an dunkle Orte, die andere meiden, schaut hin, wo andere wegschauen, stellt unbequeme Fragen, die andere gar nicht erst aufwerfen. Schade, dass er dafür nicht honoriert wurde.

Nicht anders erging es allerdings dem Belgier Joachim Lafosse, dessen großartigen Beitrag Un silence die Jury ebenso übersah. Daniel Auteuil verkörpert darin einen pädophilen Staranwalt, der sich gegen seine eigenen Söhne vergangen- und im Darknet Tausende von kinderpornografischen Videos aufgerufen hat. Im Fokus aber steht Emmanuelle Devos als seine Ehefrau, die lange Zeit die Verbrechen ihres Mannes zu verdrängen versucht und sich von falschen Versprechen hat abspeisen lassen. Die Identifikation mit einer Figur wie dieser Astrid mag schwerfallen, was vereinzelte Buhrufe zur Premiere erklären mag, aber sie erscheint wie aus dem Leben gegriffen. Nicht jedes Thema eignet sich für einen Wohlfühlfilm mit moralisch integren Vorbildern. Die große Herausforderung, komplexe Figuren wie Astrid oder gar abstoßende wie ihren Mann darzustellen, meistern Devos und Auteuil fulminant, und vor allem sie preiswürdig  mit präzisen Blicken und Gesten der inneren Unruhe, Besorgnis, Wut und Verzweiflung.

In eine ähnliche thematische Richtung bewegt sich Todd Haynes in seinem amerikanischen Drama May December, uraufgeführt in Cannes, das San Sebastian in seiner Nebenreihe „Perlen“ zeigte.  Julianne Moore ist darin die skandalträchtige Mittvierzigerin Gracie, die  mit einem 13-Jährigen eine Familie mit mehreren Kindern gegründet hat und zeitweise dafür im Gefängnis saß. Diese Ereignisse bilden die Vorgeschichte des Dramas, das 20 Jahre später einsetzt, als in Gestalt von Natalie Portmann eine Schauspielerin zu der Familie stößt, die einem Film über das zweifelhafte Liebesleben Gracies darstellen soll. Allerhand Spiegelungen zwischen den Biografien der beiden Frauen besorgen  einen gewissen Thrill, aber letztlich steuert die Tragikomödie auf ein böses Erwachen für alle Beteiligten hin, insbesondere für den jungen Ehemann, dem bewusst wird, dass die amouröse Bindung an eine erwachsene Frau im Kindesalter keineswegs eine eigene willentliche Entscheidung gewesen sein konnte.

Sinnreiche Komödien verlieren sich selten in die Wettbewerbe internationaler Festivals, insofern lässt sich nachvollziehen, dass  eine halbwegs anspruchsvolle, mit deutschen Geldern geförderte Produktion aus Argentinien  bei Juroren und Publikum gut ankam.  Die Handlung um zwei Philosophen, die um die Nachfolge ihres gemeinsamen, verstorbenen Professoren konkurrieren, wirkt zwar ein wenig dünn und mit gleich zwei Auszeichnungen (bestes Drehbuch: María Alché and Benjamín Naishtat; geteilter Darstellerpreis: Marcelo Subiotti) überhöht, aber wie Puan über große Themen wie den Tod oder die Philosophie räsoniert und seine Reflektionen mit einem frischen, von allerhand Slapsticks durchsetzten Humor verbindet, hat was.

Spezielle Trends ließen sich im 71. Jahrgang des Festivals jedoch nicht ausmachen, selten versammelten sich derart unterschiedliche Handschriften und Themen im Wettbewerb. Das zeigte sich beispielsweise daran, dass einige Geschichten an Orte und Landschaften führten, denen man im Kino bislang selten begegnete:

So schildert die französisch-belgische Koproduktion L’île rouge den beschwerten Alltag in Madagaskar in Zeiten des Kolonialismus in den 1970er Jahren. Regisseurin Jeanne Lapoirie bietet wenig bekannte Einblicke in diese Zeit, überfrachtet ihre Erzählung aber etwas überambitioniert mit unterschiedlichen Strängen, Genres und Perspektiven von Erwachsenen und Kindern, die die Ereignisse für sich in einer fiktiven animierten Erlebniswelt mit einer Superheldin verarbeiten.

In das unwirtlich kalte Grönland schickt die Schwedin Isabella Eklöf ihren Protagonisten Jan in dem zweifach prämierten Drama Kalak (Spezialpreis der Jury, Beste Kamera), der dort, im Bunde seiner kleinen Familie fern der dänischen Heimat sein Kindheitstrauma vom sexuellen Missbrauch seines Vaters loszuwerden hofft. Die überwiegend kargen, verschneiten, trüben Ansichten von der Insel, auf der viele Menschen, allen voran alleinlebende Frauen und Mütter stark an Einsamkeit leiden, bescheren der  psychologisch an der Oberfläche bleibenden Erzählung beeindruckende Schauwerte.

Summa summarum bewegte sich der Wettbewerb auf dem gewohnt hohen Niveau der Vorjahre. Es bleibt danach aus meiner Sicht das beste Festival nach Cannes und Venedig.  Dass einige Beiträge schon kurz zuvor ihre Weltpremiere in Toronto feierten, stört nicht.

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