Sudabeh Mortezai untersucht in ihrem neuen Film „Europa“ den blinden Fleck zwischen Wokeness und Ausbeutung.
Ein paar Menschen steigen in ein Auto. Die Sonne scheint, die Fremde wirkt nah. Doch plötzlich wirft sich ein Mann auf die Windschutzscheibe. Er fängt an, darauf einzuschlagen. Was er sagt, versteht man nicht, aber Wut zittert in seinen Augen. Das ist Europa. Oder: Das ist auch Europa. Das meint zumindest Sudabeh Mortezais neuester Kinofilm, der hinter den Glanz der Etikette „Europa“ schaut und mit seinen Ambivalenzen spielt. Die geschilderte Eröffnungssequenz des dritten Spielfilms der iranisch-österreichischen Regisseurin birgt in ironischer Manier, was Mortezai in Europa eröffnen will: Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen – eine Union, die ihre Agenden oft hinter dem Schein westlicher Wertecodices versteckt, soll sich nicht wundern, wenn die Ausgebeuteten am anderen Ende zurückschlagen. Die zerbrochene Windschutzscheibe wird zum Symbol für Vorurteile, Paternalismus und eine Form von innereuropäischem Kolonialismus. Wie schon in Mortezais Vorgängerfilmen verschwimmt die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion derart, dass gerade das Fiktive die Realität in ganz besonderer Weise unterstreicht. Es wird zum Spiegelbild der Wahrheit.
Zwischen Fiktion und Realität
Albanien, irgendwann in der Jetztzeit: Beate Winter (Lilith Stangenberg) arbeitet für die private Sicherheitsfirma „EUROPA“. Inmitten der ländlichen Idylle des Balkanstaats gilt es ein Geschäft für ihren Arbeitgeber durchzusetzen. Unter dem Deckmantel der Strukturentwicklung soll den letzten dort autark lebenden Bauern ihr Land abgekauft werden, um dahinterstehende kapitalistische Firmeninteressen zu verwirklichen. Beate weiß, wie sie spielen muss. Gerade noch bei einem Vortrag in einer albanischen Universität zu Stipendiumsangeboten von EUROPA unter dem Framing von „female empowerment“, wird Beate Winter zur skrupellosen Geschäftsfrau, wenn es darum geht, die Interessen ihres eigenen Unternehmens zu realisieren. Gemeinsam mit ihrem Assistenten und einem albanischen Dolmetscher, zieht Winter von Haus zu Haus und macht den Grundbesitzern ihr Angebot. Wenn Beate Winter auf Widerstand stößt, werden ihre Worte harscher. Während die Deadline immer näher rückt, legt sich dabei besonders ein Bauer, Jetnor (Jetnor Gorezi), quer und will partout nicht auf die Verheißungen und versprochenen Kompensationszahlungen eingehen. Schlussendlich fährt Beate Winter Geschütze auf, die jeglichem Gewissen entbehren. Sudabeh Mortezai erschafft nach den beiden erfolgreichen Spielfilmen Macondo (2014) und Joy (2018) mit Europa wieder einmal eine Welt, die ungemein nah an der Realität vorbei schürft, aber gerade durch die Überspitzung aufdeckt, was niemand sagen will: Die Sicherheitsfirma mit dem ironischen Namen wird zur Projektionsfläche von Doppelbödigkeit und Ambivalenz, die in vielen vermeintlich europäischen, aufgeklärten Haltungen liegt. Im Vorfeld der Dreharbeiten sagte Sudabeh Mortezai dazu in einem Interview mit dem Österreichischen Filminstitut: „Ich wollte eine Geschichte erzählen, wo es um eine Art innereuropäischen Kolonialismus, um Ausbeutung geht; eine Geschichte, die sehr kritisch hinterfragt, was nun das ‚Richtige‘ ist. Mit welchem Recht hält man etwas für ‚richtig‘? Was ist Fortschritt und was ist Rückständigkeit? Wie definiert man diese Dinge? Wie wirken sie aufeinander?“ Diese Fragen werden in Europa durch kleine Gesten und fast schon unbemerkte Handlungen der Hauptfigur Beate beantwortet. Aber auch die Gegenspieler wie Jetnor, der widerständige Bauer, bekommen eine Uneindeutigkeit in ihrem Charakter beigemengt. Doch dahinter steckt eine bewusste Entscheidung: „Ich will, dass man im Film als Zuschauerin oft unschlüssig ist, mit wem man jetzt sympathisieren soll, weil beide Positionen ihre Tücken haben.“
Kontrastreiche Beziehungen
Um die Tücken etwas genauer zu betrachten, muss man Mortezais umfangreiche Vorarbeit zum Film mitbedenken. Weil sie nicht viel über Albanien wusste, hat die Regisseurin viele Besuche in dem Land gemacht, um Kultur und Gesellschaft besser kennenzulernen. Dabei verfolgt Sudabeh Mortezai (fast) ihr übliches Rezept: Bis auf die Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg, mit der sie erstmals eine professionelle Schauspielerin einsetzte, sind alle Akteure ihres Filmes keine ausgebildeten Schauspieler: „Dabei kommt es stark darauf an, Beziehungen zu seinen Darstellern aufzubauen, und bei der Recherche immer sehr offen zu sein. Ich gehe nicht mit einer fixen Idee in das Projekt, sondern schaue mir einfach mal alles an, lasse mich auf die Leute ein und baue Beziehungen zu ihnen auf. Trotzdem braucht man eine professionelle Distanz.“ Ebenso typisch für Mortezais Arbeit, kannte bis auf Lilith Stangenberg keiner der Darsteller davor das gesamte Drehbuch, um möglichst viel Spielraum für Improvisation zu lassen. Der Film wirkt in manchen Passagen deswegen manchmal so echt, dass man glauben würde, die Organisation EUROPA mit all ihrem Zynismus gäbe es wirklich. Ganz ohne Realitätsbezug ist die Geschichte aber nicht: Wie auch schon bei ihrem letzten Spielfilm Joy hat Mortezai wahre Umstände als Ausgangserzählung herangenommen: „Die Kontraste zwischen urban und archaisch (in Albanien, Anm.) sind kein Klischee, sondern eine Realität. Aber was ist archaisch? Man denkt vielleicht gleich an Blutrache, es gibt aber auch ganz andere Ebenen. Was ich bei meinen Reisen gespürt habe, ist, dass es für die älteren Menschen ein großer Schmerz ist, dass alle Jungen wegen beruflicher Perspektiven auswandern. Der Bruch ist da.“ Europa flirtet mit der Fiktion, dass sich eine solche Geschichte ereignen könnte. Der Schauplatz spielt dabei besonders in diesem Film die entscheidende Rolle: Der Ort Poliçan dient als Vorbild für die Kulisse, da er auf die Paranoia und den Größenwahn des kommunistischen Diktators Enver Hoxha verweist. Dieser ließ zwischen 1972 und 1984 Hunderttausende Bunker erbauen, damit alle Albaner sich jederzeit gegen einen ausländischen Angriff schützen könnten. Poliçan war dabei der Hort der Waffen- und Munitionsproduktion des ganzen Landes: „Ein Ort, wo man an allen Ecken das oppressive System spürt, wo sich aber die Natur den Raum ohne Rücksicht darauf zurückgeholt hat.“
Patriarchale Heuchelei
„Der Titel ist eine bewusst gewählte Provokation, und er soll wehtun. Wir reden viel über unsere Wertegemeinschaft, und ich habe den Eindruck, dass viele linke Intellektuelle aus Angst vor rechten Narrativen zunehmend in einen unkritischen Europapatriotismus verfallen; das halte ich für problematisch“, so Mortezai in einem Interview. Verkörpert wird dieser Zwiespalt in der Rolle von Beate Winter, die vor Lügen und Manipulation nicht zurückscheut. Gleichzeitig spiegelt sie gemeinsam mit Besa, der Tochter von Jetnor, nicht nur die zwei Gesichter Europas, sondern auch des Patriarchats wider, das beide Welten – Albanien und das „westliche Europa“ – untermauert: Beate muss sich dem machohaften Corporate-Gehabe beugen, um dorthin zu kommen, wo sie an der Spitze ihrer Firma steht, während Besas Einstellung Albaniens Ausbruch aus den patriarchalen Strukturen reflektiert: „Insbesondere junge Frauen nehmen eine Schlüsselposition im sozialen Wandel ein. Die jungen Frauen, mit denen ich in Albanien gesprochen habe, haben eine positive Einstellung zu ihren Familien und ihrer Kultur. Aber sie würden nicht zögern, alles zu tun, was nötig ist, wenn sich die Möglichkeit ergibt, in einem großen Unternehmen zu arbeiten und Karriere zu machen.“ So stoßen Beate und Besa auf einer schicksalhaften Ebene aufeinander, die für den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidend sein soll.
Europa spielt im für viele von uns Fremden und wirkt doch ganz nah. Der Film bringt Hierarchien ans Licht, die wir nicht wahrhaben wollen und stößt damit in steinige Erde. Trotz allem hat er gerade auch wegen seiner tollen Protagonisten fast etwas Witziges und zeigt uns unser Spiegelbild ganz mühelos. Wir wollen uns der Handlung entziehen, und können uns doch nicht ganz weg-identifizieren: „Ich wollte diese Heuchelei entlarven.“