Die Serie „The Long Shadow“ begibt sich auf die Spuren eines der berüchtigtsten Serienmörder in der Geschichte Großbritanniens.
Als im Oktober 1975 in einem Vorort von Leeds die Leiche von Wilma Mary McCann gefunden wurde, war das Entsetzen über den grausamen Mord groß. Der Täter hatte der 28-jährigen Frau, Mutter von vier Kindern, mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen und zudem mehrere Male auf sie eingestochen. Doch zu diesem Zeitpunkt hätte wohl kaum jemand geahnt, dass dieses Verbrechen den Auftakt zu einer Mordserie darstellte, die die Metropole Leeds, die Region Yorkshire und schließlich Großbritannien mehr als fünf Jahre lang in Angst und Schrecken versetzten sollte.
Regisseur Lewis Arnold und Drehbuchautor George Kay rollen in der siebenteiligen Serie The Long Shadow mit akribischer Genauigkeit einen Kriminalfall auf, der das Vereinigte Königreich in Atem hielt. Das ist aus dramaturgischer Sicht eine Herausforderung, denn die Untaten des als „Yorkshire Ripper“ (allein die Assoziation mit Jack the Ripper, einer der bekanntesten Figuren der Kriminalgeschichte, verweist darauf, welchen Eindruck und Verwerfungen psychologischer Natur dessen Taten im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben) titulierten Serienmörders Peter Sutcliffe, dürften nicht nur in Großbritannien – wo The Long Shadow 2023 auf dem Fernsehsender ITV1 erstmalig zu sehen war – hinlänglich bekannt sein. Dem begegnet Arnolds Inszenierung mit einem klugen Schachzug, spielt der Täter doch als Person über weite Strecken nur eine untergeordnete Rolle.
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Die Fahnder
Im Fokus steht zunächst die Arbeit der Polizei bei der Suche nach dem Täter, die von Detective Chief Superintendent Dennis Hoban (Toby Jones) geleitet wird, Ausgangspunkt ist dabei der Mord an Wilma McCann. Sie hatte einen ausgiebigen, abendlichen Pub-Besuch absolviert, ehe sie ihrem Mörder in die Hände gefallen war, eine nachvollziehbare Täter-Opfer-Beziehung scheint bald eher ausgeschlossen. Auch sonst gibt es wenig verwertbare Spuren, auch weil die Möglichkeiten auf dem Gebiet der Forensik Mitte der siebziger Jahre noch weit entfernt von dem sind, was für moderne Ermittlungsarbeit mittlerweile zum Standard gehört. Doch zur damaligen Zeit gab es eben noch keine DNS-Analyse und gesammelte Informationen wurden nicht in Computersysteme eingespeist, sondern in Karteikarten eingetragen. Die Verknüpfung solcher Daten war entsprechend mühsame Kleinarbeit und vor allem zeitaufwändig. Die West Yorkshire Police setzte große personelle Ressourcen ein, führte tausende von Befragungen durch, doch der Aufklärung des Falls kam man zunächst keinen Schritt näher. Dass man es dabei nicht mit einer singulären Tat zu hat, wird deutlich, als am 20. Jänner 1976 Emily Jackson ermordet wird, der Modus Operandi ähnelt stark jenem Tötungsdelikt, dem Wilma McCann zum Opfer gefallen ist. Und als sich in den folgenden Monaten und Jahren in der Region derartige Angriffe mit identem Tatmuster auf Frauen häufen, wird den verantwortlichen Ermittlern klar, dass man es mit einem Serientäter zu tun hat, dessen mörderisches Treiben nur durch seine Festnahme zu einem Ende kommen wird.
Lewis Arnold, der sich als Regisseur neben einiger Folgen aus Serien wie Humans oder Broadchurch vor allem mit der dreiteiligen Miniserie Des (2020), die sich mit der ebenfalls auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte des Serienmörders Dennis Nilsen befasst, einen Namen machen konnte, ist mit The Long Shadow ein herausragender Beitrag im Genre True Crime, das sich insbesonders in jüngerer Vergangenheit großer Popularität erfreut und dementsprechend hart umkämpft ist, gelungen. Mit hoher Präzision und einem Blick für Details rekonstruiert seine Inszenierung – Kameramann Ed Rutherford etabliert eine Textur, die das spezielle Flair der Siebziger spürbar macht – die jahrelangen Ermittlungen. Dabei wird deutlich, welche mühevolle Arbeit die Suche nach dem brutalen Serienmörder darstellte und mit welchen Herausforderungen sich die Ermittler konfrontiert sahen. So konnte man im Verlauf der Mordserie, was forensische Beweise anging, auf nicht viel mehr als Reifenspuren und Fußabdrücke, die man in der Nähe der vom Täter abgelegten Mordopfer gesichert hatte, zurückgreifen. Und diese aufreibende Fahndung samt dem sich im Lauf der Zeit immer mehr steigernden Druck, den die Öffentlichkeit und die nicht gerade zimperlichen britischen Zeitungen ausübten, hinterließ bei den Ermittlern Spuren, bis hin zur psychischen und physischen Erschöpfung. Die Jagd nach dem Killer entwickelte sich für manche der Polizeibeamten zu einer Art von Besessenheit – David Finchers Zodiac, der sich ebenfalls um einen realen Serientäter dreht, verweist darauf, welche ambivalente Faszination ungelöste Kriminalrätsel evozieren können –, die sich in mehrfacher Hinsicht als eher ungesund erweisen.
Doch The Long Shadow arbeitet auch jene Pannen auf, die sich im Verlauf der Ermittlungen häuften und mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu beigetragen haben, dass Peter Sutcliffe so lange unentdeckt blieb. Die Gründe dafür lassen sich auf mehreren Ebenen finden. Zu einem Problem wurden die Auswechselungen der leitenden Beamten und die damit verbundenen Richtungsänderungen bei den Ermittlungen. So folgte etwa auf den analytisch agierenden, für alle Ermittlungsansätze offenen Dennis Hoban – Toby Jones verleiht seiner Figur eine melancholisch anmutende Seite –, der auf einen höheren Posten weggelobt wird, Assistant Chief Constable George Oldfield (David Morrissey). Der erweist sich zwar als höchst engagiert, doch als die Fahndung nach dem Täter trotz allem Einsatz auch unter seiner Leitung erfolglos bleibt, entwickelt Oldfield eine Verbissenheit, die dazu führt, dass er sich strategisch böse vergaloppiert und die Ermittlungen damit ungewollt in eine falsche Richtung lenkt. Zudem herrschte unter so manchem der mit dem Fall befassten Polizeibeamten eine für diese Zeit nicht untypische Voreingenommenheit, was die Charakterisierung der Opfer anging, vor. Die Annahme, der Yorkshire Ripper würde gezielt Prostituierte als Opfer ins Visier nehmen, erwies sich zusehends als unhaltbar. Als immer wieder Frauen, die nicht diesem Gewerbe nachgingen, Ziel seiner Attacken wurden, tat man dies entweder als Fehler des Rippers ab oder man unterstellte manchen der Opfer – auch denen, die die Tat schwer verletzt überlebt hatten – doch der Prostitution nachgegangen zu sein. George Oldfield macht sich nicht einmal mehr die Mühe, mit seiner Geringschätzung für manche der Opfer hinter dem Berg zu halten, als er bei einer Besprechung mit seinen Kollegen über eine der ermordeten Frauen herzuziehen beginnt: „Nachts allein unterwegs, zieht durch Pubs und Tanzbars, steigt zu fremden Männern ins Auto – Prostituierte oder leichtes Mädchen, kommt auf das Gleiche raus.“ Entsprechend ist dann auch der Umgang mit potenziellen Zeuginnen, was den Ermittlungen auch nicht gerade dienlich ist.
Die Opfer
Arnolds Inszenierung konzentriert sich aber nicht nur auf den kriminalistischen Aspekt, seine Inszenierung versteht es, die True-Crime-Geschichte kongenial zu erweitern und so den titelgebenden langen Schatten, der sich über die Region gelegt hat und noch lange nach dem Ende der Mordserie nachwirkt, sichtbar zu machen. Neben dem durchgehenden Faden um die polizeilichen Ermittlungen etabliert Arnold Handlungsstränge, die unterschiedliche Charaktere aus besagter Region vorstellen. Zunächst erscheint die Auswahl ein wenig arbiträr, doch nach und nach wird sichtbar, dass sie alle einen Konnex – sei es als Opfer, Familien oder Freunde von diesen – zu den Taten Peter Sutcliffes haben. Womit deutlich wird, welche Kreise diese Mordserie gezogen hat und welche Erschütterungen dabei in weiten Teilen der Bevölkerung ausgelöst worden sind – und das in einem Land, das in dieser Zeit ohnehin unter multiplen Krisen zu leiden hatte. Leeds etwa zeigte sich vom Niedergang traditioneller Industrien – die Textilindustrie war über Jahrzehnte hinweg ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor der Stadt – schwer getroffen. Zudem litt Großbritannien in den siebziger Jahren unter einer hohen Inflation, was die soziale Lage zusätzlich verschärfte. In The Long Shadow wird der ökonomische Druck, dem sich immer größere Teile der Bevölkerung gegenübersahen, immer wieder angesprochen. So sahen etwa Frauen oft keine andere Möglichkeit, ihre Familien über die Runden zu bringen, als gelegentlich der Prostitution nachzugehen. Zu ihnen zählte auch Emily Jackson, die dabei zu ihrem Unglück Peter Sutcliffe begegnete. In diesem Licht erscheinen die bigotten Unterscheidungen zwischen „leichten Mädchen“ und „anständigen Frauen“, die mancher der Ermittler pflegten, noch unangebrachter und selbstgerechter, als sie es ohnehin schon waren.
The Long Shadow geht dabei mit seiner vielschichtigen, nuancierten Betrachtungsweise über den True-Crime-Plot hinaus und zeichnet entlang des Kriminalfalls ein bedrückend präzises Bild des Vereinigten Königreichs jener Tage.
Dass die Taten des Yorkshire Ripper im Mittelpunkt stehen, aber nicht der Täter, erscheint nur folgerichtig. Der abgesetzte Chefermittler Dennis Hoban weiß das gegenüber einem Kollegen geradezu prophetisch vorwegzunehmen: „Erst jetzt ist mir klar geworden, dass wir immer davon ausgingen, dass wir ein Monster jagen. Aber solltet ihr ihn schnappen, wird es jemand ganz normaler sein. Jemand, der sich wie wir eine Zeitung kauft, mal ein Regal aufbaut, auf ein Bier ins Pub geht, sich mit seiner Frau zankt. Er ist einfach normal.“