Mit dem Drama „Alles ist gut“ über eine junge Frau, die einen sexuellen Übergriff erlebt, legte Eva Trobisch 2018 ein beeindruckendes Regiedebüt vor. Jetzt hat sie ihren zweiten Spielfilm „Ivo“ gedreht. Ein Gespräch über Extremsituationen, selbstbestimmte Frauen und die Lust am Kontrollverlust.
Ivo (Minna Wündrich) kommt zu spät. Als sie am Morgen bei ihrer ersten Patientin eintrifft, ist das Bett im Pflegeheim leer. Die Rentnerin sei in der Nacht verstorben, sagt man ihr jetzt. Das Personal hat es versäumt, Ivo rechtzeitig zu informieren. Eine verlegene Entschuldigung. Vierzig Minuten Autofahrt umsonst.
Viel Zeit, sich darüber aufzuregen, bleibt Ivo nicht. Sie ist auf Achse, pausenlos, von früh bis spät. In ihrem alten Skoda fährt sie jeden Tag zu den unterschiedlichsten Menschen, die sie in der letzten Phase ihres Lebens betreut. Zur Ruhe kommt die ambulante Palliativpflegerin nur selten, wenn sie etwa einmal kurz warten muss, Zeit für eine Zigarette bleibt oder für einen Kaffee. Dann schweift ihr Blick oft ins Weite, manchmal beobachtet sie ihre Umgebung oder starrt einfach nur vor sich hin. Es sind diese flüchtigen Momente, in denen Ivo ihr eigenes Verhältnis zur Welt austariert. Ihr Beruf ist ihr wichtig, dafür gibt sie sich hin. Dass sich ihre Teenage-Tochter zu Hause derweil immer mehr von ihr entfernt, nimmt die alleinerziehende Mutter in Kauf. Was sind schon ihre Probleme gegen den schmerzhaften Prozess, den ihre Patienten und deren Angehörige durchmachen, weil sie lernen müssen, mit dem Tod umzugehen.
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Schon wieder ein Film übers Sterben? Das Thema, könnte man meinen, hat Konjunktur. Gerade wurde Matthias Glasners dreistündiges Drama über den Tod der eigenen Eltern beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, unter anderem als Bester Film. Eva Trobischs zweite Regiearbeit ist leiser, aber nicht weniger überlegt. Über ihre Titelheldin nähert sich die 1983 in Berlin geborene Autorin und Regisseurin aktuellen Fragen zum Umgang mit schwerkranken Menschen und assistiertem Suizid auf zärtliche, fast schon meditative Art.
Darin schwingt eine Ambivalenz, eine Uneindeutigkeit mit, die für Trobisch typisch ist, nicht nur was ihre Geschichten angeht. Sie selbst oszilliert in ihrer Arbeit zwischen Kino, Fernsehen und Theater. Vor drei Jahren wurde ihre erste Bühnenarbeit in Basel aufgeführt. Studiert hat die Regisseurin an der HFF in München, wo sie erste Kurzfilme drehte. Um ihre Drehbucharbeit zu vertiefen, ging sie erst mit einem Stipendium nach New York und absolvierte anschließend noch einen Master in Screenwriting an der London Film School.
Das Erstaunlichste an ihrem neuen Film ist die Kraft, die Ivo ausstrahlt, und von der man als Zuschauer unmerklich mitgerissen wird. Wie bereits in Trobischs Debüt Alles ist gut (2018) konzentriert sich die Kamera ganz auf die Wahrnehmung ihrer Protagonistin. Statt auf ausgiebige Dialoge setzt die Regisseurin auf Innensichten und Alltagsbeobachtungen. Ihre Inszenierung protzt nicht mit Virtuosität, sie atmet, sie lebt. Gleichzeitig lassen die ruhigen, psychologisch aufgeräumten Bilder genügend Raum, um immer auch den Widersprüchen Geltung zu verschaffen, die in Trobisch selbst ringen, eben weil es keine eindeutigen Lösungen gibt.
Frau Trobisch, Ihr erster Film „Alles ist gut“ handelte von den Nachwirkungen eines sexuellen Übergriffs. In „Ivo“ begleiten Sie eine ambulante Palliativpflegerin durch ihren Alltag. Sie sind offensichtlich nicht an leichten Stoffen interessiert?
Eva Trobisch: Der Eindruck kann leicht entstehen. Obwohl ich im Fall von Ivo in die Welt, die ich im Film beschreibe, gewissermaßen reingepurzelt bin. Der Film ist mir auf eine interessante Art und Weise „passiert“. Ich hatte die Anfrage, einen Polizeiruf zu schreiben, und habe dafür nach – das klingt jetzt lustig – geeigneten Verbrechen gesucht. Fasziniert hat mich dabei alles, was nicht eindeutig war, wo es Ambivalenzen und verschiedene Sichtweisen gab, die ein klares Urteil schwierig machen. Das Böse ist erzählerisch recht abgeschlossen und dadurch schnell langweilig, sofern man nicht im Genre zuhause ist. Irgendwann bin ich bei meiner Recherche auf den „Todesengel der Charité“ gestoßen.
Wer verbirgt sich dahinter?
Eine Krankenschwester, die in der Charité in Berlin gearbeitet hat. Sie wollte Gutes tun und hat sterbenskranken Menschen Überdosen verabreicht, an denen sie verstorben sind. In ihrer Wahrnehmung hat sie sie erlöst. Weil die Betroffenen vor allem Patienten waren, die sich sehr gequält haben oder die nur noch an Geräten hingen, hat sie sich als Altruistin gesehen. Angehörige sahen das jedoch oft anders. Vom Gericht wurde sie als Serienmörderin verurteilt.
Eigentlich ein perfekter Stoff für einen Sonntagabend-Krimi.
Vielleicht. Nur hat mich ein Krankenhaus als Setting wenig interessiert. So bin ich auf die ambulanten palliativen Pflegedienste gekommen. Das von Haus-zu-Haus-Fahren, und damit auch durch einen Querschnitt der Gesellschaft, fand ich reizvoll. Ich habe mir ein paar Vereine rausgesucht, bin mit den Betreuern und Betreuerinnen mitgefahren und habe schnell gemerkt, dass ich keine Ahnung von ihrer Arbeit hatte. Mir fehlte die Sprache, der Umgang mit dem Tod. Ich bewegte mich wie auf Eiern, befallen von so einer bekloppten, betulichen Betroffenheit. Die wirklich das Letzte ist, das irgendjemand braucht in einer Situation, in der wir uns alle eines Tages wiederfinden werden. Das hat mich beschämt und ich wollte das ändern.
Für einen Film, der sich so sehr auf seine Titelfigur konzentriert, braucht es eine spannende Protagonistin im Zentrum. Wie würden Sie Ivo beschreiben?
Unverwüstlich, pragmatisch, sinnlich und stark. Aber auch ganz kindlich, irgendwie. Empfindsam. Ich habe sie immer als sehr patente Person gesehen. Mir war klar, dass sie eine große physische und psychische Kraft braucht. Und eine Helligkeit. Die Pfleger und Pflegerinnen, mit denen ich während der Recherche zu den Hausbesuchen gefahren bin, das waren so rheinländische Frohnaturen. Damals habe ich gemerkt, dass man das braucht, um in diesem Beruf zu bestehen. Wenn man ohnehin eher auf der dunklen Seite des Lebens steht, dann macht man so eine Arbeit, glaube ich, nicht.
Sie haben Ihre eigenen Berührungsängste in der Auseinandersetzung mit dem Thema angesprochen. Wie lässt sich der Tod im Raum filmisch einfangen?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Wir haben viel geredet, überlegt, gerungen. Für mich war für diesen Film – und das kann beim nächsten anders sein – klar, wir können die Tote zeigen, nicht aber ihr Sterben. Das hat mit ihr als Figur zu tun. Damit, wer sie ist und was sie will. Ich finde die Figuren kommunizieren häufig sehr klar mit uns Filmemacherinnen, was wir sehen sollen, dürfen, und was nicht. Man muss ihnen nur zuhören. Aber selbst wenn es sich stimmig anfühlte, die Figur nach ihrem Ableben zu zeigen, befällt einen beim Drehen und Schneiden doch manchmal ein Gefühl der Scham, weil man weiß, jetzt liegt da eine lebendige Schauspielerin, die so tut, als sei sie tot. Da kommt man sich einfach schnell vor wie ein Scharlatan.
Die Schauspielerin ist Pia Hierzegger. Sie spielt Solveigh, eine Freundin von Ivo, die an der unheilbaren Nervenkrankheit ALS leidet und ebenfalls von ihr betreut wird.
Genau. Solveigh möchte sterben und sie hat das Gefühl, diese Entscheidung gehört ihr allein. Sie will das für sich machen. Ohne ihren Mann, ohne eine Freundin. Auch wir als Filmemacherinnen und Filmemacher haben das akzeptiert. Ich fand, das ist ihr intimer Raum, da ist Diskretion geboten und die müssen wir ihr gewähren.
Ivo unterstützt die Freundin bei ihrer Entscheidung. Hätte sie sich bei einer Patientin, die ihr weniger nahesteht, anders entschieden
Wahrscheinlich, ja. Die Mitarbeitenden der SAPVs (spezialisierte ambulante Palliativversorgung; Anm.), bei denen wir recherchiert haben, haben oft eng und respektvoll zusammengearbeitet und waren gleichzeitig in ihren Meinungen zum Thema Sterbehilfe so verschieden wie Menschen eben sind. Manche waren dafür, manche dagegen. Manche sagten, sie könnten es sich privat vorstellen, aber nicht geschäftsmäßig, andere sahen es genau anders herum. Und man sollte vielleicht dazu sagen: Wir haben den Film in der Zeit gedreht, als die Sterbehilfe gesetzlich zugelassen war. Mittlerweile ist das Gesetz wieder gekippt worden.
Auf welcher Seite stehen Sie?
Ich habe den Film nicht zuletzt auch gemacht, weil ich das wirklich nicht klar sagen kann. Mir ging es in all den Gesprächen, die wir im Vorfeld darüber geführt haben, immer so, dass ich die Argumente sowohl dafür als auch dagegen verstanden habe. Und ich bin heilfroh, dass ich Regisseurin bin und keine Politikerin, weil ich nicht wüsste, wie man einen Gesetzesentwurf schreiben sollte, der alle Komponenten berücksichtigt. Ich empfinde diese Frage als abhängig von so vielen Parametern und damit als eine extrem individuelle. So individuell, dass es nicht das eine Gesetz geben kann, das für alle gilt. Und dennoch tue ich mich schwer damit, Menschen mit Sterbewunsch diesen kategorisch zu verbieten.
Was interessiert Sie an derartigen Extremerfahrungen, wie sie sowohl Ivo als auch Janne in Ihrem Debütfilm „Alles ist gut“ erleben
Das ist bei mir nie der Ausgangspunkt oder die Stoßrichtung. Ich denke keine Sekunde: Das könnte denn jetzt mal ein heikler Stoff sein. Eher werde ich einfach immer wach, wenn entweder Konsens herrscht – dann fange ich an, diesen zu hinterfragen –, oder aber, wenn es Fragen gibt, auf die ich keine Antwort habe. Ich glaube, das verbindet beide Filme, dass es meinerseits so ein Bedürfnis gab, etwas für mich selbst herauszufinden. Ich verstehe, dass man die beiden Filme irgendwie im Kontext sieht, aber es war nicht bewusst gewählt. Und bei meinem nächsten Film ist das alles anders – da gibt es keine Extremsituation, kein Reizthema. Es handelt sich um eine Familiengeschichte mit vielen verschiedenen, leiseren und lauteren Konflikten. Romanhafter, ohne die eine klare
Prämisse.
War es auch Zufall, dass Ivo und Janne vom Charakter her ähnlich sind? Beide legen in ihrem Handeln eine gewisse Pragmatik und Unaufgeregtheit an den Tag.
Interessant, dass Sie das sagen. Das habe ich letztens schon einmal gehört, für mich sind es recht unterschiedliche Figuren. Was sie aber vielleicht verbindet, ist eine gewisse Antidramatik. Kürzlich wurde mir ein Förderbaustein für mein neues Projekt abgesagt, mit der Begründung, dass meine Figuren zu spröde seien. Ich habe das als ein Kompliment empfunden. Wahrscheinlich hat diese Gefasstheit, von der Sie sprechen, auch etwas mit mir selbst zu tun. Sonst würden die beiden Filme vielleicht einen anderen Ton haben. Ich suche immer lieber das Profane im Drama, das Normale, die Bürokratie, das Irdische, Schlichte, nicht das Melodram. Bei Ivo hat das aber auch die Arbeitswelt vorgegeben. Die Pflegerinnen und Pfleger agieren so würde- und respektvoll, so maximal auf Augenhöhe. Es wäre geradezu unanständig gewesen, wenn wir da mit filmischen Mitteln angefangen hätten, emotional herumzumanipulieren.
Sind Sie auch jemand, der ungern die Kontrolle verliert?
Nein, ich kann dem Kontrollverlust einiges abgewinnen. Schon allein Schreiben macht ja nur dann Spaß, wenn die Kontrolle, der Zensor loslässt. Was ich aber kenne, von mir und meiner Generation, ist das Gefühl, kein Opfer sein zu wollen. Das war vor allem für die Figur der Janne bei Alles ist gut extrem wichtig. Das ist ein Anspruch auf Selbstbestimmung, den ich von mir selber kenne und der möglicherweise auf die Figur abfärbte. Nicht zuletzt, weil es mich extrem reizt, die Grenzen in diese Richtung auszuloten. Das ist ein Motiv, um das ich kreise, an dem ich mich abarbeite: Bis zu welchem Grad können wir entscheiden, wer wir sind und wie wir leben wollen? Und welcher Anteil ist über Herkunft, Sozialisierung und Verlauf einer Biografie selbstredend vorgezeichnet, geradezu determiniert?
Hat man Ihnen eigentlich damals davon abgeraten, beim ersten Film gleich mit einem so schwierigen Thema wie sexueller Nötigung einzusteigen?
Nein, der Film hat es aus anderen Gründen schwer gehabt. Anfangs hatten wir Probleme, Partner zu finden, aber gar nicht wegen des Themas. Die Vergewaltigung wurde auch erst recht spät in der Stoffentwicklung Teil der Handlung. Es war vielmehr so, dass viele nicht wussten, worum es eigentlich geht, es gab die Kritik, dass das Drehbuch keine Richtung verfolge. An dieser Front habe ich natürlich wenig anzubieten, weil ich ja recht offen erzähle und mir das Botschaftende fremd ist. Umso überraschter waren am Ende alle, dass der fertige Film bei manchen Zuschauern und Zuschauerinnen doch eine gewisse Wucht entwickelt hat.
Sie haben eingangs Ihre Arbeit für den „Polizeiruf“ erwähnt. Sind Sie eigentlich ein Krimi-Fan?
Gar nicht. Ich kann das, glaube ich, auch nicht so gut. Ich finde allerdings den Münchner Polizeiruf unheimlich aufregend, weil das oft tolle Leute sind, die den machen. Dominik Graf, Christian Petzold, Jan Bonny. Immer wieder gibt es hier die Möglichkeit, das Format mit großer künstlerischer Freiheit und flexibel gehaltenen Genreverabredungen zu gestalten. Da muss ja noch nicht mal jemand sterben.
Ach nein?
Das ist der Unterschied, habe ich mir sagen lassen. Beim Tatort muss immer jemand sterben, beim Polizeiruf nicht. Das finde ich zum Beispiel schon mal sehr entlastend. Zwar stirbt in dem Fall, den ich jetzt geschrieben habe, auch jemand. Aber es ist eher ein Unfall, eine Fahrlässigkeit – alles andere als ein heimtückischer Mord. Dazu fehlt mir einfach der Zugang.
Macht Ihnen beim Filmemachen das Schreiben am meisten Spaß?
Wenn Sie mich jetzt fragen, mitten in den Dreharbeiten zu meinem neuen Film, könnte ich mir gerade nichts Schöneres vorstellen, als mich an den Schreibtisch zu setzen und meine Ruhe zu haben. Drehen ist einfach unfassbar anstrengend. Das ist so ein Hochleistungssport, ein Wahnsinnsrausch. Man ist permanent am Agieren und Reagieren, es gibt keinen Raum zur Reflexion. Gleichzeitig genieße ich es auch, wenn die Dinge größer werden als mein Hirn. Wenn Dinge außerhalb der Kontrolle meines Schreibprogramms passieren.
Zwischen Ihren ersten beiden Filmen lagen sechs Jahre. Wie schön, dass der dritte mit weniger Abstand folgt.
Ich habe zwischendurch Theater gemacht. Deswegen war ich kurz abtrünnig. Aber ich weiß nicht, wie schnell es diesmal geht. Bei einem Ensemble-Film mit neun Hauptdarstellern und -darstellerinnen werde ich sicher einige Zeit im Schnitt verbringen. Ich gebe mir Mühe, aber ich glaube, es wird wieder eine Weile dauern, bis der Film fertig ist.