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The Substance

The Substance

Spieglein, Spieglein an der Wand …

| Alexandra Seitz |
Nichts für Spritzenphobiker: Der feministische Body-Horror-Splatter-Kracher „The Substance“ von Coralie Fargeat.

Die Nadel sticht vorsichtig ins Eigelb, die Spritze injiziert die Substanz, und schon schiebt sich seitlich ein weiteres Eigelb heraus und sieht irgendwie frischer und straffer aus. Nein, das ist kein besonders aufwändiger und rätselhaft geratener Produktionsfirmen-Jingle, wie sie sich vor so manchem Filmbeginn geradezu häufen, das ist der Filmbeginn selbst – und er zeigt des Pudels Kern. Es folgt eine Montage aus der Aufsicht auf jenen Stern, der auf dem Hollywood Boulevard dem Star Elisabeth Sparkle gewidmet ist: Die Montage, die Einweihung, die Begeisterung, die Aufmerksamkeit, das Nachlassen, die Vernachlässigung, die Gleichgültigkeit, das Vergessen. Die Zeit vergeht, der Ruhm vergeht, das Scheinwerferlicht wandert weiter.

Doch die es eben noch beschien, die fällt eben nicht einfach tot um, die muss vielmehr weiter ihr Auskommen finden und darüber hinaus zurechtkommen mit dem Versiegen von Bewunderung und Applaus. „You are wonderful / great / fantastic / the best!“ – Wer hört das in diesem Metier (des Showbusiness’, aber weitergehend eben auch des Frauseins) nicht gerne? Wer würde den Zuspruch nicht vermissen, wenn er ausbliebe? Also greift Elisabeth Sparkle, als sie feststellt, dass ihr Stern aufhört zu funkeln, nach dem erstbesten Strohhalm, und steckt bald richtig tief in der Scheiße.

Dabei ist Elisabeth topfit und schaut blendend aus. Das erste Mal sehen wir sie als Vorturnerin in ihrer eigenen Fitness-Fernsehshow. „You’ve got it!“, lautet die Parole, die sie ein ums andere Mal ausruft, während sie mit fröhlicher Miene die langen Beine in die Luft wirft. Im Stil erinnert das an das in den achtziger Jahren populäre Aerobic und an dessen Propagandistin Jane Fonda, die wiederum, wie bei jedem öffentlichen Auftritt der mittlerweile 86-Jährigen festzustellen ist, von natürlichen Alterungsprozessen rein gar nichts hält. Wahrscheinlich hat auch Elisabeth bereits „das eine oder andere machen lassen“ – es hilft ihr nichts, an ihrem Geburtstag (mutmaßlich einer in den hinteren Fünfzigern) wird sie vor die Tür gesetzt.

Während dieser Szene beschleicht das Publikum das erste Mal der Verdacht, dass der Horror von Coralie Fargeats The Substance – der in diesem Jahr beim Festival in Cannes mit dem Preis für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde – auch im Grotesken liegt, das er zu Hilfe holt. Harvey, der Produzent von Elisabeths Sendung, spricht mit vollem Mund, nein, er schmatzt Wortfetzen aus dem Maul, in das er zugleich mit von Mayonnaise schmierigen Fingern Garnelen hinein stopft; die Kamera in Engführung mit dabei, Fettglanz, Speisebrei, Schalen-Sauerei auf der Tischdecke, Spucke- und Partikelsprühregen. Dennis Quaid lässt sich in seiner Rolle als Mover und Shaker im TV-Business, dem vor allem am Moven und Shaken der bei ihm unter Vertrag stehenden weiblichen Physiognomien gelegen ist, nicht lumpen. Er beantwortet die satirisch sich auswirkenden Manöver des filmischen Stils – hier: Nahaufnahmen mit verzerrenden Linsen und harte, rasante Schnitte – mit hemmungslosem Chargieren, das die gesamte Physis miteinbezieht. Jede Sau frisst schöner. Während Elisabeth noch im Salat stochert – naheliegenderweise ist ihr der Appetit vergangen –, ist sie auch schon entlassen und Oldwhiteman Harvey zum nächstwichtigen Fernsehfritzen davongeeilt. Noch auf dem Nachhauseweg trifft Elisabeth auf ihr Schicksal.

DOPPELTE IDENTITÄT

Die dubiose Substanz, die ihr als Lösung des Problems der Vergänglichkeit empfohlen wird, und die Fargeats emanzipatorischem Befreiungsschlag den Titel gibt, schiebt, einmal injiziert, eine „bessere, jüngere, schönere, perfektere“ Version ihrer Selbst aus Elisabeths Rückgrat: Sue, derart knackig und glatt, dass einem Photoshop und Make-up einfallen. Es sind aber nur Jugend und das pralle Leben. Nur? Der Haken an der Sache ist, dass sich Elisabeth und Sue fortan das Leben teilen müssen; eine Woche ist die eine am Zug, die andere Woche die andere. „Remember you are one“, raunt mahnend die Stimme im Gebrauchsanleitungsvideo. Doch bald schon schlägt die leichtfertige Jugend, wie es nun einmal ihre Art ist, diesen Hinweis in den Wind und die Folgen sind fürchterlich. Nicht nur für die wie kommunizierende Röhren zusammengespannten weiblichen Körper, sondern auch für die Augen der Betrachterin, die sich dem zunehmend eitrig-blutigen Schrecken gerne verschließen würden. Und es dann doch nicht können, weil dergleichen entfesselte Oldschool-Metzgerei zuletzt vielleicht bei Stuart Gordon (Re-Animator, 1985) zu sehen war, bei Brian Yuzna (Society, 1989) oder beim frühen Peter Jackson (Braindead, 1992) – um am eher unintellektuellen Bodensatz des Genres zu gründeln. Dass Fargeats Arme bis über die Ellenbogen im Eimer mit dem Gekröse stecken, fasziniert einen ja dann doch, das Allerschönste aber ist, dass sie dabei auch noch schlaue Gedanken denken kann. Gemahnen die ekligen Prozeduren, die Elisabeth, Sue und schließlich noch Monstroelisasue über sich ergehen lassen müssen, und die in ihrer ganzen Ekligkeit von Fargeat regelrecht zelebriert werden, etwa nicht an die Verfahrensweisen der Schönheitschirurgie? Das Herumstochern mit langen dicken Kanülen in den gelbweißlichen Fettpolstern; das Zerren und Biegen, Stopfen und Zupfen auf und unter der Haut; Botox, Silikon und Collagen – liefern sie nicht lediglich die Blaupause, nach der Fargeat die Welt der Substanz modelliert?

Die Autorin und Regisseurin dieses etwas wahnsinnigen Werkes wurde 1976 in Paris geboren. Ihr Studium an der dortigen Filmhochschule La Fémis schloß Coralie Fargeat nicht ab, da ihr Faible fürs Genre an dem renommierten Institut nicht ermutigt wurde: Erfahrungen im Metier sammelte sie als Regieassistentin. Sie mitbegründete das Genre-Film-Kollektiv „La Squadra“ und arbeitet im Vorstand des „Collectif 50/50“, das sich für Gleichberechtigung und Vielfalt in der Filmindustrie einsetzt. Nach zwei Kurzfilmen – Le Telegramme (2003) und Reality+ (2014) – legt sie 2017 ihr Langfilmdebüt vor. Vielbeachtet nicht zuletzt, weil sie mit Revenge einen alles andere als zimperlichen Beitrag zum problematischen Rape-Revenge-Subgenre liefert. Wie der Titel nahelegt, hält sich Fargeat mit dem handlungsstiftenden Vergewaltigungsmotiv nicht lange auf, setzt dafür aber mit umso mehr Gusto den Rache-Part in Szene. Bereits hier bringt Fargeat Splatter-Effekte zum Einsatz, die bis hart an die Grenze gehen: das Opfer, das sich im Drogenrausch einen dicken Ast aus den eigenen Eingeweiden zieht; der Täter, der in seinem Fuß nach einer eingetretenen Scherbe gräbt; die blutverschmierten Böden, auf denen der Showdown zur Rutschpartie wird. Vor allem da gelingt es der Regisseurin, mit ein paar Hysterie-Umdrehungen mehr – im wahrsten Sinne des Wortes, findet dieser Showdown doch in einer Luxus-Villa in einer Art Rundlauf statt – die Darstellungskonventionen zur Debatte zu stellen, um am Ende den Spieß umzudrehen und den nackten männlichen Körper der Tortur zu unterziehen. Rape – Revenge.

DRASTISCHER HORROR

Der widerliche Anblick als eigenständiger Schauwert zieht sich durch Fargeats bisheriges Werk, ist aber natürlich auch ein Erfordernis des gewählten Genres. Wer zum Körperhorror Relevantes beitragen will, muss auf dem Gebiet des körperlich Horrenden liefern. Gleiches gilt für die Schauspieler und Schauspielerinnen. Wer nicht mit seiner gesamten Physis dabei ist, hat in einem solchen Film nichts verloren. Sprechen wir also vom darstellerischen Ensemble.

Quaid als Harvey kommt noch vergleichsweise leicht davon. Er braucht lediglich die zur Kenntlichkeit des „dirty old man“ entstellte Karikatur eines Mannes an den Schalthebeln der Macht zu liefern, wobei ihm Benjamin Kracuns Kamera fröhlich entgegenkommt. Der Geifer tropft, die Stielaugen stieren und nicht nur der Kamm schwillt, sobald Harvey Frischfleisch-Sues ansichtig wird.

Margaret Qualley (Sue), haute kürzlich (es kann nicht oft genug gesagt werden) aufsehenerregend befreit in Ethan Coens Lesben-Roadmovie Drive-Away Dollsauf die Pauke. Sie ist die Idealverkörperung der Gewissenlosigkeit und Grausamkeit der Jugend, ausgestattet mit dem, was man einen Pfirsich-Hintern nennt, und wild entschlossen, denselben zu ihrem Vorteil einzusetzen.

Da kommt auch schon der nächste Aha-Effekt, nämlich im Zuge der Aufnahmen für Sues „Fitness“-Show – in der das Motto „Pump it up!“ ausgegeben wird und sich ein verändertes Bildrepertoire ausdrückt. Vorbei sind die Zeiten der Cancan-Beinschwünge; die sportiven Tanzbewegungen, die nunmehr gezeigt werden, wurzeln in den Bewegungsmustern des Geschlechtsverkehrs und gehören zu den Standards von Gangsta-Rap-Videos. Wobei die Insistenz, mit der Sues perfekter Arsch den Zuschauenden wieder und wieder ins Gesicht fährt, dem „male gaze“ alles verschämt Verstohlene nimmt und ihn als objektivierenden Porno-Blick kenntlich macht. Die Reiz-Überdosis, die Fargeat in dieser Szene verabreicht, treibt ihr zugleich alles Voyeuristische aus. Stattdessen wirkt sie nun entlarvend.

Dass die Schönheit im Auge der Betrachterin liegt, beweist außerdem jene andere viel-beraunte Szene, in der Demi Moore (Jahrgang 1962) als Elisabeth Sparkle ihren nackten Körper einer kritischen Betrachtung unterzieht. Natürlich beeindruckt der Mut, mit dem Moore sich hier – vermeintlich – ausliefert, allerdings trägt Fargeats Inszenierung Sorge, dass ihrem Blick aufs gealterte Fleisch nichts Auslieferndes anhaftet. Er bleibt ganz faktisch gegenwärtig, verzeichnet nüchtern die Auswirkungen der Schwerkraft, wirft die Frage auf: Na und? Dann steht sie wieder vor einem, jene Demi Moore, die sich als Titelheldin G.I. Jane (Ridley Scott, 1997) den Schädel rasierte und eines ihrer Kameradenschweine mit dem Sager „Suck my dick!“ anblaffte; und damit der Filmgeschichte einen Moment der weiblichen Selbstermächtigung bescherte, bei dem dem bildungsbürgerlichen Feuilleton kollektiv einer abging.

Mit einer Laufzeit von zwei Stunden und zwanzig Minuten ist The Substance für einen „down and dirty“ Genrefilm recht lang, in dieser Dauer steckt aber auch der Anspruch des Epischen. Fargeat instrumentalisiert ein umfangreiches Arsenal literatur- und filmhistorischer Bezüge – von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ über „Der Glöckner von Notre-Dame“ und „Der Elefantenmensch“ bis hin zu „Das Bildnis des Dorian Gray“ –, um Themen wie Jugendlichkeitswahn und Pornografisierung, vor allem aber weiblichen Selbsthass aufs Korn zu nehmen. Sie gestaltet den immerwährenden Kampf der Frau mit dem Bild, das von ihr gemacht wird, das ihr vorgegeben wird, an dem sie sich messen (lassen) muss, und das ihr, so sie es für sich annimmt, zum Verhängnis wird. Bei aller galgenhumoristischen Verschmitztheit, die in den Poren und den Falten der Inszenierung steckt, ist damit nicht zu spaßen und haben wir es neben allem anderen auch mit einer existenziellen Tragödie zu tun. Verkapselt in jener herzzerreißenden Sequenz, in der Elisabeth an dem Versuch scheitert, sich für ein Date zurechtzumachen. Wir sehen eine tolle Frau in ihren Fünfzigern, die das Vertrauen in sich selbst verloren hat und sich die Erotik ihres Körpers nicht (mehr) zugesteht. Nicht umsonst schließlich wird ja der Kampf zwischen Elisabeth und Sue um die Lebenszeit vom sexuellen Begehren ausgelöst.

Fargeat operiert mit The Substance auf mehreren Ebenen, lässt Abschweifungen zu und es unter allen Umständen richtig krachen – so dass sich am Ende daraus vielleicht nicht unbedingt ein architektonisch überzeugendes, schönes Haus ergibt, aber doch eine ziemlich ansehnliche Hütte, die etwas windschief zwar, doch felsenfest in der Brandung steht.