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Diego Marcon – La Gola
Diego Marcon, La Gola, Kunstverein in Hamburg, 2024, Installationview. Photo: Andrea Rossetti. Courtesy the Artist; Sadie Coles HQ, London; Galerie Buchholz, Berlin / Cologne / New York; Kunstverein Hamburg; Kunsthalle Wien; and Centre d’Art Contemporain Genève for BIM ’24.

Diego Marcon

Archipel Gola

| Veronika Metzger |
Die Kunsthalle Wien präsentiert mit „La Gola“ die erste Einzelausstellung des italienischen Medienkünstlers Diego Marcon in Österreich.

Verpflichtung und Vergnügen: Diego Marcons La Gola ist eine Studie von zwei Extremen und den unausgesprochenen Grauzonen zwischen ihnen. Der ganze Film besteht aus einem Briefwechsel zwischen Rossana und Gianni, jeweils fast regungslos dargestellt, während ihre Briefe aus dem Off zu hören sind. Gianni berichtet von einem Menü seines Kochs: Zuppa Pavese, Lamm unter Schokoladenhaube, Torta Fedora. Ein wahres Festmahl, für dessen Beschreibung er sich Zeit nimmt, sich ausmärt – fast poetisch schildert er jede Geschmacksknote,
einen Brief für jeden Gang. Rossana hingegen umschreibt den zunehmenden Verfall ihrer Mutter. Sie isst gar nicht mehr, liegt im Sterben, und es ist an Rossana sie zu pflegen. Es macht der Tochter deutlich zu schaffen, auch wenn sie es sehr sorgfältig tut. Mit Hingabe versorgt sie sämtliche Körperflüssigkeiten, Wunden und Pusteln, und mit noch größerer Hingabe formuliert sie jene in den Briefen. „La Gola“ bedeutet sowohl der Bauch, umgangssprachlich die Kehle, als auch die Gefräßigkeit. Der Film selber beschäftigt sich deutlich mit allen Bedeutungen, ihren Gegenteilen und ihren Funktionen.

Der lombardische Künstler Diego Marcon, geboren 1985, präsentiert mit „La Gola“ in der Kunsthalle Wien zum ersten Mal eine Einzelausstellung in Österreich. Seine Werke wurden bereits bei den Filmfestspielen in Cannes, der Viennale und dem Internationalen Filmfestival Rotterdam gezeigt. La Gola ist eine Kooperation der Kunsthalle mit dem Centre d’Art Contemporain Geneve und dem Kunstverein Hamburg. Marcon bedient sich vielfältiger Genres und nutzt verschiedene Mittel wie Puppen und CGI, um seine Protagonisten zum Leben zu erwecken. Die Briefe von Gianni und Rossana sind Zeugnis unterschiedlicher Lebensrealitäten, deren Kontrast die Dialektik des Films ausmacht.

Obwohl die Briefe sehr ausführlich sind, lernt man die Charaktere nicht kennen. Wer hinter den Zeilen steckt und wer Gianni und Rossana außerhalb ihrer Selbstdarstellung sind, ist unklar. Es geht nicht um die Personen selbst, es geht um das Menü, es geht um die Mutter, es geht um das Leben. Und die beiden Hauptpersonen bleiben stumme Projektionsflächen für die beiden Enden des Spektrums. 

Auf der einen Seite Völlerei, auf der anderen Entsagung. La Gola greift damit auch gängige Geschlechterrollen auf. Die Frau nimmt eine servile Rolle ein, verschreibt sich der Askese, verschreibt sich der Pflege, verschreibt sich jemand anderem. Der Mann gibt sich dem Genuss hin, schwärmend und irdisch. Dieser Dualismus ist auch kinematografisch greifbar. Gianni ist in sanftes Sonnenlicht und Pastell getaucht, milde lächelnd und kontrastarm. Antwortend dann Rossana, verzweifelt, latent verweint, im Chiaroscuro, eine Hälfte ihres Gesichtes zum Teil nur vom Blitz des zunehmenden Gewitters um sie herum beleuchtet. 

Die Figuren sind realistische Puppen, die in der Postproduktion digital bewegt wurden, wenn auch nur sehr wenig. So bewegen sich die Augen und Augenlider oder es rollt eine Träne Rossanas Wange hinunter. Auch der Hintergrund bleibt minimalistisch, zum Teil nur einfarbig. Dadurch ruht der Fokus sehr auf den Briefen und den Emotionen, die sie ausdrücken. Begeisterung, Lust, körperliche und seelische Schmerzen, Ennui. Manchmal hört sich der von Marcon selbst geschriebene Text an wie eine Elegie, manchmal wie eine Hymne.
Durch die bescheidene Bildkomposition stehen aber auch die unbewegten Gesichtsausdrücke der Figuren im Fokus, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Giannis zufriedenes schmunzeln und Rossanas müde Trauer. 

Etwas haben die beiden jedoch gemeinsam – das komische Gefühl, das einen bei ihrem Anblick begleitet. Dieses Unbehagen hat einen Namen: „uncanny valley“. Das Phänomen beschreibt die Akzeptanzlücke, die anthropomorphe Figuren in uns auslösen. Die Figuren sehen menschlich aus, beinahe realitätsecht, aber nicht menschlich genug, um mit echten Menschen verwechselt zu werden. Ein Hybrid aus real und artifiziell, gleichzeitig beides und keines davon. Man kann nicht genau festlegen, was nicht stimmt, aber etwas ist definitiv unheimlich. So hält es sich auch mit Rossana und Giannis Beziehung. Sind die beiden ein Paar? Brieffreunde? Obwohl liebevoll, scheinen die Grußformeln der beiden genau das zu sein – Formeln. Affektiert affektgeladen. Auswendig gelernt. Eine Liebe, die beinahe echt sein könnte, wäre da nicht dieses dumpfe Gefühl, dass irgendetwas falsch ist.

Außerhalb der Anrede und dem Abschied gehen die Briefe nicht aufeinander ein. Die beiden Hauptcharaktere monologisieren vor sich hin, mit sich selbst, ihrer Situation und den eigenen Befindlichkeiten beschäftigt. Die Briefe könnten genauso gut Tagebucheinträge sein, auch wenn sie ebenfalls eine morbide Parallelität zueinander aufweisen. Sowohl Gianni als auch Rossana finden die schillerndsten Worte für ihre jeweiligen Sinneseindrücke; die Aussetzer und Ausscheidungen der Mutter, die kulinarischen Meisterwerke des Kochs, zuweilen in ihrer minutiösen Beschreibung unfreiwillig ähnlich. Marcon spielt sehr geschickt mit der Dualität menschlicher Wahrnehmung. Dieselbe Nase meint mit beiden Extremen mitzuriechen, innerhalb von wenigen Minuten von Genuss zu Ekel und wieder zurück.

Das fiktiv-olfaktorische Schleudertrauma wird musikalisch unterlegt von einem von Frederico Chiari komponierten Orgelstück, das im Dom von Bergamo aufgenommen wurde. Fugenartig und klerikal anmutend, unterstreicht es die Flüchtigkeit, die in La Gola unterschwellig thematisiert wird. Nur kurz hat man den Geschmack der Zuppa Pavese im Mund, bis man den Suppenlöffel dann auch wieder abgibt. Es ist ein passendes Musikstück für diese Art von Film. Es treibt voran, wo Handlung es nicht tut, lenkt aber nicht von den Feinheiten des poetischen Textes ab. Die dem Film vorangestellte Ouvertüre wirkt zur buchstäblich schwer verdaulichen Thematik des Filmes fast selbstironisch. Rote Schreibschrift mit bonbonrosa Hintergrund, gewichtige Orgelmusik. Die Ouvertüre verkündet bereits die Dualität, die sich durch das Werk hindurchzieht.

Es ist schwer, La Gola einem Genre zuzuordnen. Nichtsdestotrotz reiht Diego Marcon sich in eine Tradition des „uncanny valley“-Horrors ein; die leise Beklommenheit von La Gola, unaufdringlich aber unaufhörlich, ist vergleichbar mit David Lynchs Lost Highway oder Gerard Johnstones M3GAN.

Voller Dualismus und kontrastierenden Elementen ist Diego Marcons La Gola insgesamt eine Abhandlung von Fragen: Auf welcher Seite dieser Polarität steht man selber? Verpflichtung oder Vergnügen, Leiden oder Leidenschaft? Wie auch das Ende bleiben diese Fragen offen und man selbst ein wenig ratlos zurück. Ratlos und beunruhigt, vor allem durch die Frage der menschlichen Existenz selbst: Dasein zwischen dem puren Leben und dem Tode nahe sein.