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"Scenes from the Class Struggle in Portugal"(Robert Kramer, 1975)
"Scenes from the Class Struggle in Portugal"(Robert Kramer, 1975)

Viennale

Politkino

| Oliver Stangl |
Die Viennale findet zum 62. Mal statt. Ein Überblick.

Wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen spürbar zurückgehen, ziehen sich kultur-affine Menschen wieder verstärkt in Konzertsäle, Museen und Lichtspieltheater zurück. Ein filmkultureller Indikator für den Herbst ist dabei stets die Viennale, die unter Direktorin Eva Sangiorgi einen Mix aus internationalem und heimischem Kino anbietet und Arthouse mit Populärem durchmischt. Traditionell gastiert das Filmfestival in ebenfalls traditionell zu nennenden Spielstätten: Gartenbaukino, Stadtkino im Künstlerhaus, Urania, Österreichisches Filmmuseum und METRO Kinokulturhaus.

Eine weitere Tradition: die von Viennale und Filmmuseum zusammengestellte Retrospektive, die sich umfangreich mit dem Werkkörper eines ausgewählten Filmschaffenden auseinandersetzt. 2024 fiel die Wahl auf den US-Amerikaner Robert Kramer (1939–1999), der im Lauf seiner Karriere als Spielfilmregisseur, Dokumentarist, Drehbuchautor und Schauspieler tätig war. Der studierte Philosoph und Historiker sympathisierte mit der radikalen Linken und war Mitgründer des Newsreel-Kollektivs; Kino als Massenmedium, das mit der Kraft des Bildes unmittelbare Wirkung entfalten konnte, galt ihm als ideale Ausdrucksweise politischer Ideen. Am bekanntesten dürfte wohl die Polit-Trilogie In the Country (1967), The Edge (1968) und Ice (1970) sein. Letzterer Film, der unschwer Einflüsse Godards erkennen lässt, ist ein Mix aus Dystopie und Thriller: In teils dokumentarisch anmutendem Stil schildert Kramer den Alltag einer Gruppe von Underground-Revolutionären, die in einem diktatorischen Amerika der (damals) nahen Zukunft versuchen, das System zu stürzen. Politisierende Sitzungen gehören ebenso zum Tagesablauf wie Guerilla-Aktivitäten. Formal ist das Werk dabei von großer Dialogdichte und einem fragmentarischen Erzählstil geprägt, wobei Kramer auch zur „Film-im-Film“-Taktik greift; manche Passagen wirken regelrecht wie eine Anleitung zum Umsturz. Für Kramer, der in den achtziger Jahren nach Europa übersiedelte, war Kino nach eigener Aussage ein Medium, das für Klarsicht sorgen sollte: „Jeder denkt bei Filmen vorwiegend an etwas, das gemacht wird, um einem etwas zu erzählen. Ich denke, das Wichtigste ist, zumindest für mich, dass sie mir erzählen, begreiflich machen, was hier wirklich vor sich geht.“ Breitenwirkung blieb seinen Filmen auch wegen ihrer nicht unbedingt leichten Zugänglichkeit aber versagt. Zur Retrospektive wird ein Begleitband erscheinen.

INDIVIDUEN UND INSTITUTIONEN

Ebenfalls sehr politisch ist die „Monografie“-Schiene, die dem mexikanischen Colectivo Los Ingrávidos gewidmet ist. Das Kollektiv, das die Filmavantgarde des 20. Jahrhundert zu seinen Vorbildern zählt, nimmt sich politischen Brennpunkten in Lateinamerika an, wozu politische Unterdrückung, Repression und mediale Manipulation zählen. Bei der Viennale laufen zwei Kurzfilm-Programme, zudem wird, in Zusammenarbeit mit Sixpackfilm, die jüngste Kollektiv-Arbeit von einem Musikprogramm umrahmt.

Politik nimmt auch in einem der „Kinematografie“-Programme eine zentrale Rolle ein: „Haunted by History“ widmet sich der Darstellung der japanischen Kolonialzeit im koreanischen Kino. Gemeinsam mit dem Korean Film Archive (KOFA) zeigt die Viennale klassische koreanische Filme, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen – jener Zeit also, zu der die Halbinsel eine japanische Kolonie war. Die Annäherung an dieses Thema erschöpft sich allerdings nicht in direkten Zugängen, sondern zeugt von großer Genre-Vielfalt: Kriegsfilme, Spaghetti-Western und Horror sind ebenso dabei wie Dokumentationen, Gangsterfilme und Arthouse. Eine Gelegenheit, koreanische Raritäten in Originalkopien sowie in restaurierten Digitalfassungen zu sehen. Eine weitere, mit „Out of the Spotlight“ überschriebene „Kinematografie“, ist einer österreichischen Schauspielerin gewidmet: „Helene Thimig: (K)eine Filmkarriere“. Thimig (1889–1974), in einen Theaterclan hineingeboren und von 1935 bis 1943 mit Max Reinhardt verheiratet, ist heute vor allem für ihre Darstellungen in klassischen Theaterstücken bekannt, doch übernahm sie auch immer wieder kleinere Kino-Rollen. Gezeigt werden ihre Auftritte in US-Produktionen (Thimig lebte von 1937 bis nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA und trat dort in 18 Hollywoodfilmen auf) ebenso wie Filme, die nach ihrer Wien-Rückkehr entstanden.

In der Sektion „Features“ ist erneut der Amerikaner Sean Baker dabei; mit seinen preisgekrönten Werken, die sich bevorzugt mit marginalisierten US-Bevölkerungsgruppen beschäftigen, war der Filmemacher ja schon des Öfteren im Programm der Viennale vertreten. Sein aktueller Film, Anora, in Cannes 2024 mit der Goldenen Palme prämiert, schildert die Ehe eines russischen Oligarchen-Sohns mit einer New Yorker Prostituierten – bzw. die Anstrengungen der reichen Eltern, diese Ehe annullieren zu lassen. Auch abseits von Cannes nahmen Kritiker Bakers Dramedy hervorragend auf; gelobt wurde u. a. Hauptdarstellerin Mikey Madison.

Ein weiterer Viennale-Stammgast ist die französische Filmemacherin Mati Diop: In ihrem neuen Dokumentarfilm Dahomey geht es um die Rückführung von Kunstschätzen aus einem Pariser Museum in das afrikanische Königreich Dahomey. Für diese Annäherung an das Restitutionsverfahren gab es in Berlin 2024 den Goldenen Bären. Bereits 2023 wurde Nicolas Philibert mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet: Sur l’Adamant zeigte den Alltag einer Tagesklinik, in der psychisch Erkrankte behandelt werden. Nun läuft mit Averroès & Rosa Parks sozusagen das Sequel auf der Viennale: „Averroès“ und „Rosa Parks“ sind zwei psychiatrische Abteilungen in Paris, die zum selben Verbund gehören wie die „schwimmende Klinik“ Adamant. Philibert gibt den Patienten und dem Pflegepersonal viel Raum, geht aber auch auf ein Gesundheitssystem an der Belastungsgrenze ein. Individuelle Schicksale treffen auf ein Institutionenporträt.

Der preisgekrönte russische Filmemacher Victor Kossakovsky ist mit der deutsch-französisch-amerikanischen Produktion Architecton vertreten: Die bildgewaltige Architektur-Meditation beschäftigt sich mit der Geschichte des humanen und inhumanen Häuserbaus, mit menschlichem Größenwahn, Umweltzerstörung, aber auch Hoffnung auf Wandlung. Im Zentrum steht dabei das landschaftsgärtnerische Projekt eines italienischen Architekten. Der in den USA lebende italienische Regisseur Roberto Minervini, bislang auf Dokumentarfilme spezialisiert, legt mit The Damned einen historischen Spielfilm vor: Im Zentrum seiner Regiearbeit steht eine Gruppe freiwilliger US-Bürgerkriegs-Soldaten, die im Winter 1862 zur Grenzerkundung in die Westlichen Territorien geschickt wird – und in eine Sinnkrise gerät. Der Antikriegsfilm lief 2024 in der Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes.

Grand Tour des Portugiesen Miguel Gomes erzählt in Hälfte eins von einem britischen Kolonialbeamten aus Birma, der während des ersten Weltkriegs Angst vor der Hochzeit bekommt und die Flucht antritt; in Hälfte zwei steht die Geschichte der Verlobten im Mittelpunkt. Gomes wurde für den stilistisch vielfältigten Schwarzweiß-Film, der in Kritiken gern als poetisch bezeichnet wird, mit dem Regiepreis in Cannes ausgezeichnet. Weiters dabei: Die Filmbiografie In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen (siehe dazu den Thementext in diesem Heft), das in der nahen Zukunft angesiedelte Drama Happyend des Japaners Neo Sora, das sich um das Überwachungssystem an einer Hochschule in Tokio dreht oder der neue, Familienkonflikte thematisierende Film des Schweizers Ramon Zürcher, Der Spatz im Kamin. Wie gewohnt darf auch mit Rahmenprogrammen – Filmtalks, Musik, Partys – gerechnet werden.

Und wie jedes Jahr stehen auch aktuelle Arbeiten österreichischer Filmschaffender auf dem Programm, von denen die meisten bereits auf internationalen Festivals zu sehen waren: The Village Next to Paradise von Mo Harawe etwa widmet sich einer Vater-Sohn-Beziehung in einem Somalia, das von Konflikten, Naturkatastrophen und US-Drohnen heimgesucht wird; Bernhard Wengers Pfau (wie bei Harawe ein Langfilmdebüt) schildert die Identitätskrise eines Verwandlungskünstlers; Henry Fonda for President (das filmische Debüt des langjährigen Filmmuseum-Direktors Alexander Horwath) ist ein Essayfilm, der ein Jahrhunderte umspannendes Amerika-Bild anhand der Person und der Filmrollen Henry Fondas zeichnet. Weitere österreichische Beiträge sind u. a. Zwischen Gott und uns von Rebecca Hirneise (ein Dokumentarfilm über christlichen Glauben) oder Mond von Kurdwin Ayub (eine Martial-Arts-Trainerin soll im Nahen Osten drei von der Außenwelt abgeschottete Töchter einer reichen Familie trainieren). Zu den hier genannten österreichischen Filmen können sie beim jeweiligen Kinostart mehr in „ray“ lesen.

Das diesjährige Festivalsujet zeigt übrigens eine Meeresalge, die laut Viennale dazu einladen soll, einen großen Sprung zu tun und „niemals aufzuhören eine andere Wirklichkeit zu ersinnen“.