Wenn ein ungleiches Paar zusammengehört
New York, ohne Glamour. Sylvia lebt seit dreizehn Jahren nüchtern. Sie hat sich eine funktionierende Routine erarbeitet, besucht weiterhin die Treffen ihrer Gruppe der Anonymen Alkoholiker, arbeitet als Betreuerin in einer sozialen Einrichtung und ist Alleinerzieherin einer Tochter im Teenie-Alter. Die Begegnung, die den mittlerweile geregelten Alltag der Protagonistin dieses wendungsreichen Dramas aufrüttelt, ereignet sich im Zuge einer High-School-Reunion und mutet zunächst bedrohlich an. Hier genau zu schildern, wer der mysteriöse Unbekannte – Saul ist sein Name – zu sein scheint, wer er wirklich ist, und wie Sylvia ihn trifft, nähme zu vieles vorweg, das der Film nach und nach für mehr und weniger grimmige Überraschungsmomente benötigt. Die Beziehung der beiden nimmt jedenfalls, so ungewöhnlich, wie sie begann, wider Erwarten ihren besonderen Lauf: Jessica Chastain und Peter Sarsgaard (dafür 2023 als Bester Darsteller in Venedig ausgezeichnet) stellen nach allen Regeln der Kunst zwei Verletzte dar, zwei vom Leben Beschädigte, die sich in einem zarten, heilsamen Liebensverhältnis wiederfinden, ohne es in dieser Form gesucht zu haben. Da Saul an früh einsetzender Demenz leidet und seinen Alltag nicht mehr allein bewältigen kann, scheint vorgezeichnet, dass die asymmetrische Natur ihrer Romanze sich als die größte Hürde erweisen wird – doch auch Sylvia trägt eine unsichtbare Bürde mit sich.
So heißt dieser Film nicht nur Memory, weil er soziale, emotionale Facetten von Demenzerkrankungen ins Licht rückt. Fragen danach, was es bedeutet, sich zu erinnern, treten zudem schmerzhaft als ans Licht kommende traumatische Gewalterfahrungen zutage. So kann Sylvia, während Saul unaufhaltsam sein Gedächtnis einbüßt, bestimmte Kindheitserlebnisse niemals vergessen. Michel Francos über die Jahre vielfach geschwungene Handschrift der düsteren Menschlichkeitsstudie kommt einerseits typisch zur Anwendung: Seine Figuren schweben in existenzieller Rätselhaftigkeit, sie leben von Ungewissem und Verdrängtem – und die Handlung wiederum davon, dass stetig neue aufschlussreiche Karten aufgedeckt werden. Bei aller thematisch naheliegenden Schwermut entwirft Franco diesmal durchgehend Szenen voller Hoffnung, gibt sich, obwohl sie immer wieder hereinzubrechen droht, schlussendlich nicht der totalen Tristesse hin. Insgesamt gelingt Memory aber wenn, dann als großes Schauspielkino, und auch als solchem haften ihm Charakterzüge einer ziemlich mühevollen Aufführung an. Flüchtiges Glück in schweren Schicksalen, inszeniert zugleich gekonnt, klug sowie als einziger langer Seufzer. (Jakob Dibold)