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Cannes Blog 5

Von Facetime und anderem Horror

| Pamela Jahn |

Cannes Blog 5

Zunächst ein Wort zu Godard: Man kann The Image Book, den jüngsten Essayfilm des großen, schwer fassbaren Kinophilosophen, finden, wie man will, aber sein virtueller Auftritt zur Pressekonferenz hatte zumindest etwas für Cannes Erstmaliges. Anstatt selbst zur Premiere anzureisen und den Journalisten in Person Rede und Antwort zu stehen, ließ sich der 87-Jährige am heutigen Samstag lieber per Facetime über ein Handy mit dem randvoll gefüllten Pressesaal verbinden. Wer eine Frage hatte, musste dicht ans Telefon herantreten, während Godard am anderen Ende der Leitung in die Kamera lugte. Immerhin, denn als sein Film Farewell to Language vor vier Jahren an der Croisette prämierte, hielt der gebürtige Schweizer und leidenschaftliche Provokateur es nicht für nötig, während des Festivals einen Kommentar zu seinem Werk abzugeben, geschweige denn den ihm damals gemeinsam mit Xavier Dolan (Mommy) verliehenen Jury-Preis am Ende persönlich in Empfang zu nehmen. Was das neue Werk selbst angeht, scheiden sich, wie so oft beim heutigen, späten Godard die Geister der Kritik. Während die einen in seinem fragmentarisch angelegten, wilden Kaleidoskop von Bildern, Archivmaterial und Filmausschnitten einen experimentellen Horrorfilm über das Hier und Jetzt sehen, haben andere Mühe, dem audiovisuellen Overkill an wenig Neuem über seine sparsame Laufzeit von 85 Minuten zu folgen. Das Urteil liegt jedoch wie immer im Auge des Betrachters, und man darf gespannt sein, ob Godards um die Goldene Palme konkurrierendes „Bilderbuch“ bei der diesjährigen Jury um Cate Blanchett Anklang findet.

Einer dagegen, dessen Beitrag allemal einen genaueren Blick der Jury wert sein dürfte, ist der chinesische Ausnahmeregisseur Jia Zhangke, der einem europäischen Publikum einst mit Filmen wie Platform, Still Life und A Touch of Sin bekannt wurde. Diesmal präsentiert er mit Ash is Purest White eine romantische Gangster-Tragödie in gewohnt stilsicherer, leise eindringlicher Manier. Ähnlich wie in seinem fabelhaften Melodram Mountains May Depart, das 2015 im Wettbewerb von Cannes lief, verbindet Jia auch in seinem neuen Werk Vergangenheit, Gegenwart und (wenn auch nur einen Hauch von) Zukunft in einer Geschichte, die sich über mehrere Jahre von 2001 bis 2017 hinstreckt und auch vor phantastischen Elementen nicht zurückschreckt. Im Zentrum steht die Kleingangster-Braut Qiao, die während eines Kampfes zwischen rivalisierenden Banden zur Waffe greift, um ihren Geliebten Bin und schließlich sich selbst vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch obwohl sie niemanden tötet und auch das Paar am Ende mit dem Leben davon kommt, landen beide zunächst für ein paar Jahre hinter Gittern. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis macht sich Qiao auf die Suche nach Bin, um nach neuem Halt zu suchen und zu sehen, was von ihrer Beziehung noch übrig ist. Allerdings muss sie bald feststellen, dass er sie weniger vermisst hat, als sie ihn. Doch wie immer bei Jia geht es auch in seiner neuesten Charakterstudie stets um mehr, als zwei Einzelschicksale, sondern überdies um die Entwicklung seines Heimatlandes im Allgemeinen wie im Speziellen. Manchmal hält er sich dabei zu lange in bestimmten Situationen und Einstellungen auf, so das Ash is Purest White streckenweise an seiner ruhigen Wucht verliert. Und dennoch schaut man seinen gebrochenen Protagonisten gerne bis zum melancholischen Ende zu, und es braucht ein, zwei Momente, bis man sich schließlich aus dem Kinositz erheben und wieder in das Menschenchaos vor dem Festivalpalais stürzen möchte.