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Anora

Cinderellas Alptraum

| Jörg Schiffauer |
Mit „Anora“ konnte Sean Baker die Goldene Palme in Cannes erringen. Ein Triumph mit kleinem Fragezeichen.

Der Traum vom ganz großen Glück erfüllt sich zeitweilig auf ziemlich unerwartete Weise. Manchmal sogar für jemanden wie Anora, die nicht zu jenen Menschen zählt, die sich leichtfertig irgendwelchen romantischen Wunschvorstellungen hingeben und auf deren Erfüllung warten. Das wäre allein berufsbedingt auch ein wenig unangebracht, arbeitet Anora, die es jedoch bevorzugt, schlicht Ani genannt zu werden, in einem  Stripclub, also in einer Branche, bei der es von Vorteil ist, ein gewisses Maß an mentaler Robustheit mitzubringen. Die smarte junge Dame versteht es dann auch, mit ihrem Klientel samt dessen Wünschen auf stets souveräne Weise umzugehen. Zudem verfügt Ani aufgrund ihres familiären Hintergrunds über ganz gute Kenntnisse der russischen Sprache. Wohl mit ein Grund, dass sie eines Abends vom Besitzer des Clubs an den Tisch eines besonderen Kunden gebeten wird. Wanja, ein junger Bursche von nicht einmal zwanzig, ist der Sohn eines russischen Oligarchen, der offensichtlich über ein gigantisches Vermögen verfügt und den Sohnemann reichlich daran teilhaben lässt. Ani fällt es deshalb nicht schwer, Wanja zu einer individuellen Vorstellung, die unter dem Begriff Lapdance firmiert, zu überreden. Und weil sich die beiden ganz gut verstehen, überlässt Ani ihm ihre Telefonnummer, über die ausgewählte Kunden ihre Dienste als Escortdame in Anspruch nehmen können. Es dauert nicht lange, bis Wanja diesen Service ins Auge fasst und Ani in das Anwesen seiner abwesenden Eltern bestellt. Ein Besuch, der für Ani fast einem Kulturschock gleichkommt, ist sie doch dort mit einem Luxus konfrontiert, den sie sonst bestenfalls vom Hörensagen – oder aus dem Fernsehen – kennt. 

„Sean Baker hat einen höchst präzisen Blick für Menschen, die gesellschaftliche Randlagen samt den damit verbundenen Härten erleben müssen.“

Das erotische Tête-à-tête verläuft auf angenehme Art, Wanja ist zusehends angetan von der lebenslustigen Art, die Ani ausstrahlt. Nach einigen weiteren derartigen Verabredungen bucht er Ani schließlich für eine ganze Woche, sie soll ihm bei einem launigen Ausflug nach Las Vegas begleiten und dabei wie seine Freundin agieren. Es folgt ein ausschweifender Trip mit Champagner und Sex, bei der Ani und Wanja nach und nach eine tiefer gehende Zuneigung füreinander empfinden – oder das zumindest glauben. Und so wird, auch ein wenig im jugendlichen Überschwang, der Entschluss gefasst, gleich einmal zu heiraten. Man ist schließlich in Las Vegas, wo sich eine solche Zeremonie blitzschnell organisieren lässt. Doch zurück in New York wird das Paar schnell aus allen Träumen gerissen. Denn Wanjas Eltern, die mittlerweile von der Hochzeit erfahren haben, halten diese Eskapade ihres Sohns für eine zu viel. Also machen sie sich schnurstracks aus Russland in die Vereinigten Staaten auf, um dem Laissez-faire-Lebensstil ihres Sprösslings ein Ende zu bereiten. Die Ehe soll umgehend annulliert werden, und um diesen Vorgang zu beschleunigen, sollen drei in New York ansässige Helfershelfer der Familie gleich einmal alles Nötige in die Wege leiten. Doch da haben sie nicht mit Ani gerechnet, die sich mit aller Kraft dagegen sträubt. Die Vehemenz, mit der sie um ihre Beziehung zu Wanja kämpft, hinterlässt den Eindruck, es gehe ihr tatsächlich um eine große Liebe und nicht um die finanzielle Ausstattung ihres frisch Angetrauten. Der verhält sich jedoch zu Anis Verblüffung zunächst überaus passiv. Und dann überschlage sich die Ereignisse, ein wenig nach dem Motto „Big Trouble in Little Odessa“. 

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Kreativer Geist

Angesichts Sean Bakers bisherigen Œuvres wird es keine große Überraschung sein, dass Anora, eine Art postmoderne Variation des bekannten Cinderella-Motivs, nicht so wirklich in Richtung Romantik abbiegt. Für den Regisseur und Drehbuchautor brachte sein neuer Film aber tatsächlich ein geradezu märchenhaftes Ende mit sich, gewann er doch damit die Goldene Palme in Cannes. Mit dem Hauptpreis des renommierten Filmfestivals ist Baker in jenem Olymp angekommen, in dem sich die ganz Großen des Weltkinos – der erste Gewinner 1946 war übrigens David Lean – versammeln. Zu dieser Kategorie zu zählen, ist für einen Filmemacher wie Sean Baker auch deshalb eine besondere Leistung, weil er als prototypischer Repräsentant des Independent-Films gilt, der im bisherigen Verlauf seiner Karriere mit extrem schmalen Budgets auskommen musste und fehlende Ressourcen durch ein hohes Maß an Kreativität und Improvisationstalent zu kompensieren wusste. 

Sean Baker, 1971 geboren, durchlief seine filmische Ausbildung zunächst mit einem Studium an der in New York beheimateten Tisch School of Arts. Mit Four Letter Words lieferte Baker 2000 sein Regiedebüt ab, bei dem er für Regie, Drehbuch und Schnitt verantwortlich zeichnete. Für sein nächstes Projekt, Take Out, in dessen Mittelpunkt ein illegaler chinesischer Immigrant steht, der sich abmüht, seine Schulden an die Schlepper zu bezahlen, die ihn in die Vereinigten Staaten brachten, hatte Baker gerade einmal 3.000 Dollar zur Verfügung. Prince of Broadway (2008) dreht sich um einen Einwanderer aus Ghana, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf gefälschter Markenartikel bestreiten muss. Die langen Pausen zwischen diesen ersten Filmen verweisen schon darauf, dass der Beginn von Bakers Karriere sich durchaus schwierig gestaltete. Seine Filmbegeisterung zeigt sich aber auch darin, dass es Sean Baker auch während Durststrecken wichtig war, in irgendeiner Form in der Filmbranche tätig zu bleiben, und sei es an äußersten Rändern. So verdingte er sich zeitweilig damit, Hochzeitsvideos zu kopieren, ein Job, der ihm deswegen zufiel, weil er mehrere Videorekorder besaß.   

Die frühen Regiearbeiten brachten ihm durchaus Anerkennung ein, doch so richtig auf sich aufmerksam machen konnte er schließlich mit Starlet (2012), der exemplarisch für Sean Bakers Arbeitsweise steht. Starlet richtet den Fokus auf die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Jane, einer jungen Frau von Anfang Zwanzig und einer 85-jährigen Dame namens Sadie. Neben diesen beiden Protagonistinnen, die mit allen ihren Unterschiedlichkeiten erst langsam zueinander finden, beleuchtet Baker aber auch ihre Lebenssituation und damit jene Bürger der Vereinigten Staaten, die den so gern zitierten „Amerikanischen Traum“ bestenfalls vom Hörensagen kennen. Sean Baker beweist bereits mit Starlet – und das setzt sich konsequent in seinen weiteren Arbeiten fort –, dass er einen höchst präzisen Blick für Menschen hat, die gesellschaftliche Randlagen samt den damit verbundenen Härten erleben müssen. Dabei pflegt Baker mit schöner Regelmäßigkeit, eingefahrene Denkmuster zu unterwandern. In Starlet bedient er sich dabei eines dramaturgischen Kunstgriffs. Erst gegen Ende erfährt man, welcher Profession Jane eigentlich nachgeht, sie verdient sich ihren Lebensunterhalt als Darstellerin in pornografischen Filmen. Doch Vorurteile aller Art, die man möglicherweise gegenüber in der Hardcorebranche Beschäftigten pflegt, lösen sich in Luft auf, denn man hat Jane bis zu diesem Zeitpunkt als herzensguten Menschen kennen gelernt. Etwaige negative Konnotationen wegen ihres Mitwirkens in einschlägigen Filmen wollen da einfach nicht mehr passen.

Bakers erfrischend unverkrampfter Zugang zu ambivalenten Themen wie Sexarbeit – wie das auf Neuhochdeutsch heißt – ist eines seiner  Markenzeichen, das sich auch in Tangerine findet. Gedreht mit Smartphones und einem 100.000-Dollar-Budget rückt Tangerine eine Transgender-Prostituierte in den Mittelpunkt. Auch der Protagonist von Red Rocket hat einschlägige Branchenerfahrung. Nachdem die langjährige Karriere des Pornostars Mikey Davies sich ihrem Ende zuneigt, ist er gezwungen, in seine Heimatstadt Texas City, Texas zurückzukehren, wo sich auch seine Ex-Frau (und vormalige Kollegin in Sachen Hardcore) Lexi wieder angesiedelt hat. Doch der Neuanfang in dem verschlafenen Provinznest erweist sich als schwierige Angelegenheit für den abgehalfterten Erotikdarsteller. 

Bis Anora konnte Baker mit The Florida Project (2017) seinen größten Erfolg verbuchen. Eine junge Frau namens Hallee schlägt sich mit eher dubiosen Geschäften mehr schlecht als recht durchs Leben. Zuflucht haben sie und ihre kleine Tochter in einem billigen Motel gefunden, das sich nicht weit vom berühmten Vergnügungspark Disney World in Florida befindet und eine Art von Refugium für gestrandete Existenzen bildet. Als guter Geist und Helfer in allen Lebenslagen fungiert dabei der von Willem Dafoe verkörperte Manager des Motels. 

Bakers Regiearbeiten kreisen immer um Protagonisten, die sich – vorsichtig formuliert – in sozial prekären Situationen befinden. Diese Milieus versteht Sean Baker atmosphärisch dicht in Szene zu setzen, dass er mit Vorliebe „on Location“ dreht, trägt wesentlich zur Authentizität bei. Doch diesen Realismus verbindet Baker mit poetischen Elementen, die entscheidend dazu beitragen, dass seine Erzählungen trotz der oft harten Lebensrealitäten nicht in Tristesse versinken, sondern immer auch Hoffnung samt einem Sinn für Humor in sich tragen. Zudem merkt man Sean Bakers Regiearbeiten in jedem Kader an, dass hier ein leidenschaftlicher Filmemacher ans Werk gegangen ist. Seine Filme strahlen eine Vitalität und Energie aus, die für den Zuschauer spürbar wird und man dabei quasi das filmische Äquivalent von Roland Barthes’ viel zitierter „Lust am Text“ erfährt.

Am Gipfel

Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass Sean Bakers bisheriges Schaffen mit dem Gewinn der Goldenen Palme einen verdienten, vorläufigen Höhepunkt, erfahren hat und die perfekte Cinderella-Geschichte – vom No-Budget-Filmemacher zum Triumphator in Cannes – repräsentiert. Wäre da nicht ein kleines „Aber“, das hartnäckig Zweifel anmeldet, ob Anora wirklich Bakers feinste Arbeit ist.  

Doch zunächst zu jenen Qualitäten, die auch in Anora sofort wiederzufinden sind. Da ist zunächst jene geradezu vibrierende Energie zu nennen, die Bakers Inszenierungen auszeichnet und auch hier ein wesentliches, konstantes Element bildet. Geschuldet ist das zu einem nicht unwesentlichen Teil der Darstellerin der Titelheldin, Mikey Madison, die mit ihrer schauspielerischen Tour de Force sowohl komödiantische als auch dramatische Schattierungen zu meistern versteht. Mit der Wahl seiner Hauptdarstellerin hat Sean Baker erneut ein unglaubliches Gespür für bislang unbekannte Talente unter Beweis gestellt. Das hat sich bereits in Starlet gezeigt: Dree Hemingway – die Urenkelin von Literaturnobelpreisträger Ernest – versteht als Jane in ihrer ersten großen Rolle ebenso zu überzeugen wie die Darstellerin der zunächst etwas widerborstigen alten Dame Sadie. Besedka Johnson fungiert dabei im Alter von 85 Jahren zum ersten – und einzigen – Mal als Schauspielerin. Auch Bria Vinaite agierte als Hallee in The Florida Project zum ersten Mal auf der Kinoleinwand und das in einer höchst überzeugenden Art. 

Mikey Madison wiederum konnte bereits einige Auftritte absolvieren, so wurde sie von Quentin Tarantino für Once Upon a Time in Hollywood gecastet, in dem sie Susan Atkins, eines der mörderischen Mitglieder der berüchtigten Manson-Family, verkörperte. Die Art und Weise, in der sie das Kraftzentrum von Anora bildet, lässt die Prognose, dass man sich ihren Namen wird merken müssen, als wenig gewagt erscheinen. 

Auch Sean Bakers Blick treffsicherer für Schauplätze, die seinen Filmen eine ganz spezielle Textur verleihen, kommt erneut zum Tragen. Das winterliche Brighton Beach, einem im New Yorker Bezirk Brooklyn gelegenem Viertel, das traditionell eine hohe Zahl an russischsprachigen Einwohnern aufweist und in dem Ani wohnt, bildet jene Kulisse, die die Atmosphäre von Anora stimmig prägt. Doch bei allen Qualitäten, die sich in Sean Bakers neuem Film finden lassen, bleibt doch der eine oder andere Einwand. Zunächst einmal setzt sich wiederholt der Eindruck fest, dass Baker, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, ganz im Gegensatz zu seinen bisherigen Regiearbeiten im Fall von Anora ein bisschen sehr auf den Effekt hin geschrieben hat und auf sichere, aber ziemlich erwartbare Pointen setzt, um die Mischung aus Drama und romantischer Komödie am Laufen zu halten. Dass er anhand der Oligarchenfamilie und ihrer Helfer auf etwas abgegriffene Klischees zurückgreift, verwundert noch mehr. Denn gerade die nuancierte Zeichnung seiner oftmals schillernden Charaktere zählt zu jenen Qualitäten, die Sean Bakers Arbeiten ihre besondere Authentizität verleiht. Zudem drängt sich mit Fortdauer des Geschehens, die Frage auf, was eine selbstbewusste, smarte Frau wie Ani – die wiederum erweist sich als prototypische Sean-Baker-Figur – an einem Typ wie Wanja eigentlich anziehend findet, der sich als ein verwöhnter, oberflächlicher und reichlich kindischer Charakter erweist. 

Ungeachtet dieser Einwände ist der Gewinn der Goldenen Palme für einen Filmbesessenen wie Sean Baker, der trotz schwieriger Produktionsbedingungen bemerkenswerte Filme zu kreieren verstanden hat, eine höchst verdiente Auszeichnung. Doch ein wenig fühlt man sich dabei an Martin Scorsese erinnert: Der erhielt seinen ersten Oscar nicht für grandiose Filme wie Taxi Driver, Raging Bull, Goodfellas oder Casino, sondern für The Departed, einen grundsoliden, recht feinen Gangsterfilm, der jedoch nicht an die genannten Geniestreiche Scorseses
heranreicht.