„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“. Zur Retrospektive der diesjährigen 75. Berlinale.
Verfolgungsjagden in VW-Käfern! Schießereien mit Platzpatronen! Mini-Röcke, Schlaghosen, Koteletten und toupierte Haare! Revolution, Resignation, Kritik und Krawall! Verächtlich schaut der Nachwuchs auf Opas Kino: Der Neue Deutsche Film wird aus der Taufe gehoben – die Jungen können es besser, und freilich auch das Genre. Also gehen das Schwarzwaldmädel und der Heide-Förster in Rente und die coolen Kerle und die heißen Bräute treten auf. Provinz war gestern. In Berlin-Kreuzberg schaut es aus wie in der New Yorker Bronx, in München geht es noch einigermaßen normal zu und Hamburg ist eben Hamburg. Großstädtische Schauplätze und bizarre Ereignisse ergeben Unterhaltung auf niedrigem Niveau, Exploitation befriedigt primitive Instinkte. Blut spritzt, Fäuste fliegen, es wogt der bloße Busen und der knackige Hintern wackelt, während Bankräuber, Vampire, nichtsnutzige Eckensteher, melancholische Anti-Helden Abenteuer zwischen Sozialrealismus und wüster Fantastik bestehen. Es sind die Siebziger und das deutsche Genrekino lebt.
Reiches Erbe
Tot war es sowieso nie. Es wurde nur immer wieder totgesagt. Bei welcher Gelegenheit dann auch gleich ohne Not die Verdienste des frühen deutschen Kinos um Fantasy-, Science-Fiction- und Horrorgenre unter den Tisch fielen: Der Student von Prag (Hanns Heinz Ewers, 1913; Henrik Galeen, 1926), Der Golem (Paul Wegener, Heinrich Galeen, 1915; Paul Wegener, Carl Boese, 1920), Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920), Nosferatu (F. W. Murnau, 1922), Alraune (Henrik Galeen, 1928; Richard Oswald, 1930), Metropolis (Fritz Lang, 1927), Orlac’s Hände (Robert Wiene, 1924) – blühende Landschaften! Bevor die Nazis dem Film der Weimarer Republik mitsamt seinen verdächtigen, expressionistisch-experimentellen Methoden den Stecker zogen. Danach hat es eine ganze Weile gedauert, bis wieder Schwung in den Laden mit der B-Ware kam. Beziehungsweise andere Ware in den Laden kam, der ja nicht geschlossen war, sondern nur bevorzugt andere Genres bediente. Und nur weil einem jene – beispielsweise Heimatfilm, Melodram und Krimi(-Komödie) – nicht passen, heißt das ja noch lange nicht, dass die Beiträge zu denselben nichts taugen. Die filmgeschichtliche Rehabilitierung derselben steht jedoch auf einem anderen Blatt, das ohnehin von Engagierten seit einigen Jahren bereits eng beschrieben wird.
Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 02/25
Das Blatt mit der Überschrift „dreckige Exploitationfilme und anverwandter Unfug“ nehmen sich nun Dr. Rainer Rother (Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Sektionsleiter von Retrospektive, Hommage und Berlinale Classics) und Annika Haupts (Programmleitung Berlinale Classics und Retrospektive) vor und stellen die zentrale historische Filmreihe des diesjährigen 75. Berliner Filmfestivals unter das Motto „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“. Verdienstvolle Sache das. Rother, der mit der Retro der Festival-Jubiläumsausgabe die letzte vor seinem Abschied in den Ruhestand verantwortet, erklärt: „Wir schauen mit unserer Retrospektive auf Filme, die inmitten von Filmbewegungen wie dem Neuen Deutschen Film auf Genreformen setzten und damit spielten. Beeinflusst von der zeitgenössischen Exploitationfilmwelle sind die 1970er-Jahre eine Fundgrube für ausgefallene Filmproduktionen, die erzählerisch und ästhetisch neue Wege suchten. Eine jüngere Generation von Filmschaffenden probiert sich in dieser Dekade aus und testet die Grenzen zwischen den Genres.“ Äh, genau.
Präsentiert werden insgesamt 15 Werke aus BRD und DDR. Dabei stehen elf Filme aus Westdeutschland, in denen es überwiegend mörderisch ernst bis kriminell zugeht, vier Filmen aus dem Osten gegenüber, die leichte, fröhliche Genres wie Operette, Musical und Satire vertreten. Das kann einem schon mal zu denken geben. Dass sich in der gesamten Auswahl kein einziger Film von einer Frau findet, ist hingegen kein ignorantes Versäumnis, sondern spiegelt den betrüblichen Umstand, dass die ohnehin viel zu wenigen Regisseurinnen jener Zeit mit Genrefilmen eher nichts am Hut hatten. Wobei umgekehrt mal wieder ein Schuh draus wird und sich durchaus fragen lässt, ob das nicht auch daran lag, dass man(n) den Frauen die „harten“ Genres (Horror, Thriller, Exploitation usw.) gar nicht erst zutraute. Doch damit genug des Allgemeinen. Wenden wir uns endlich den dargebrachten Juwelen zu und umreißen vermittels einiger Schlaglichter die Verdienste des Unterfangens.
Sexpoitation, Paranoia und Auflehung
Im Motel Honeymoon in New Mexico – gedreht wurde an Originalschauplätzen – wandelt sich der Hippie-Traum der frisch Verheirateten zur Höllenfahrt: Mike wird von der Ambulanz des Grauens entführt und Monica heftet sich gemeinsam mit Trucker Bill an seine Fersen, ihn zu retten. Mit Fleisch ist Rainer Erler 1979 seiner Zeit voraus, er erzählt vom illegalen Transplantationsgeschäft mitsamt verbrecherischer Organentnahme lang bevor dergleichen als nicht ungewöhnliche Praxis in schlecht beleumundeten, eher armen Ländern Schlagzeilen macht. Beerdigungen werden hier einmal „Verschwendung von Rohstoffen“ genannt und zwischendurch unternimmt das Roadmovie ausgedehnte Ausflüge in den Paranoiathriller. Kaum zu glauben, dass der Film im Auftrag des ZDF entstand.
Irgendwo im Nirgendwo, jenseits von Gut und Böse kreist Deadlock, eine Art post-apokalyptischer Post-Western von Roland Klick aus dem Jahr 1970, um die Fragen: Wo ist das Geld? Und: Wer fährt am Ende damit davon? Drei auch moralisch schmierige Männer kämpfen in Schmutz und Staub um einen Koffer voller Schotter und schenken sich nichts. Eine unerbittliche Sonne – die Dreharbeiten fanden in der israelischen Negev-Wüste statt – verbrennt die Gehirne, löst eine Schraubbewegung in den Abgrund aus. Der Nihilismus, der sich in der Folge auf der Leinwand breit macht, schwappt als Entsetzen in den Zuschauerraum. Und das derangierte Mädchen, das für alles dies nichts kann, zieht den Kürzesten.
Übrigens ergeht es ihren Geschlechtsgenossinnen in den anderen Filmen nicht wesentlich anders. Schnell ist der Mann bei der Hand, die Frauen verächtlich zu machen, ihnen ins Gesicht zu schlagen, ihnen die Kleider vom Leib zu reißen etc. Allein, die Mädels lassen sich das nicht mehr so ohne weiteres gefallen, worin ein Reflex der Emanzipationsbewegung zu sehen ist (sowie erbitterter männlicher Gegenwehr). Als würde er dies illustrieren wollen, bringt Roger Fritz in Mädchen mit Gewalt (1970) zwei schwanzgesteuerte Männer und ein zeittypisch freigeistiges Mädchen in einem Steinbruch im Münchner Umland gegeneinander in Stellung. Rasch bereut die junge Frau ihre Naivität. Statt billiger Sexploitation gibt es dann aber eine Lektion in Sachen patriarchaler Perfidie, wenn nach der Vergewaltigung einer der beiden Täter dem Opfer auseinandersetzt, was es bei der Polizei zu erwarten hat. Will sie angesichts dessen wirklich Anzeige erstatten? Klar und deutlich werden hier geschlechtspolitische Misstände adressiert, übernimmt der Genrefilm die Aufgabe der Gesellschaftskritik. Den Rest der (Lauf-)Zeit bringen die beiden Männer damit zu, sich gegenseitig auf die Glocke zu hauen, während das Mädchen sich hartnäckig weigert, das Wort „bitte“ zu verlernen. Eine von großer Traurigkeit durchdrungene Bestandsaufnahme der Dinge zwischen Mann und Frau.
Vom Münchner Umland nach München-Pasing, wo Rolf Olsen mit Blutiger Freitag 1972 einen Heist-Film ansiedelt, frei nach dem schlagzeilenträchtigen Banküberfall mit Geiselnahme in der Prinzregentenstraße im Jahr zuvor. Aber auch in Anspielung auf die Beschaffungskriminalität, die die Frühphase der RAF prägte. Während drinnen Raimund „Kartoffelquetsche“ Harmstorf in Lederkluft, mit Pilotenbrille und Zigarre als Anführer der Bande herumpoltert, werden draußen die Schaulustigen (d. i. Zaungäste des Drehs) zum Geschehen befragt. Man müsste die Todesstrafe wieder einführen, so die vorherrschende Meinung, garniert von klassenkämpferischen Parolen – „die da oben, wir hier unten“ –, die in etwas abgewandelter Form auch von den Gangstern als Motiv für ihr Treiben ins Treffen geführt werden.
Olsens Beitrag, der zudem mit einer überraschenden Porno-Montage aufwarten kann, ist nicht der einzige, in dem das Mittel des Genres dem Zweck der systemkritischen Befragung dient. Ebenso thematisieren Rocker (Klaus Lemke, 1972) und Einer von uns beiden (Wolfgang Petersen, 1974) Chancenungleichheit und Träume vom Glück, denen das kapitalistisch-patriarchale Regelwerk entgegen steht. Und wie im realen Leben scheitert die Revolution – die Geste der Auflehnung – im Kugelhagel der Ordnungsmacht.
Im Nachbarland hinter dem Eisernen Vorhang, in dem die Brüder und Schwestern den real existierenden Sozialismus leben, lässt man sich im Übrigen gleichfalls nicht lumpen und jubelt den Herrschenden im Gewand von Scherz, Satire und Ironie die tiefere Bedeutung unter. Nelken in Aspik von Günter Reisch, in dem es 1976 Witze vom Kaliber „Dürer war dürrer“ gibt, setzt als geradezu anarchischer Blödsinn Maßstäbe. Die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg eines talentfreien Werbezeichners – als sich ein junger Armin Müller-Stahl für nichts zu schade ist – zum Generaldirektor der Zentralstelle für leichte Druckerzeugnisse wartet unter anderem mit einer geradezu beängstigend gegenwärtigen Sequenz auf einer ewigen Flughafenbaustelle auf. Ein hochkomischer Höhepunkt dieser reichlich unverblümten (haha!) Verhohnepiepelung von Kader-Katastrophe und Fünf(zig)-Jahres-Verplanung. Zum Trost und zur Verdrängung kann man anschließend in die Operette gehen. Beziehungsweise mit Orpheus in der Unterwelt (Horst Bonnet, 1974) eine inspirierte und musikalisch makellose Filmadaption (auf 70mm gedreht!) der gleichnamigen Opéra bouffe von Jacques Offenbach goutieren. Und sei es nur, um einmal wieder gehörig die herausragende Arbeit der Tricktechnik-, Ausstattungs- und Kostüm-Abteilungen der DEFA zu würdigen; nicht zu vergessen eine 1A-superprima Can-Can-Szene.
Apropos fantastisch. Auch der gut abgehangene Dracula-Stoff feiert fröhliche Wiederauferstehung: rätselhaft mystisch den Blutrausch und die sadistische Gewalt zelebrierend in Jonathan (Hans W. Geißendörfer, 1970), anrührend von der Einsamkeit der Perversion erzählend in Die Zärtlichkeit der Wölfe (Ulli Lommel, 1973) sowie klamaukig bis zur Schmerzgrenze und dass die Sargdeckel nur so klappern in Lady Dracula (Franz Josef Gottlieb, 1978).
Die Siebziger, sie waren nicht nur in Sachen Mode und Design ein großes Jahrzehnt – diese Retro beweist das.
(*) Mein herzlicher Dank für wertvolle Hinweise gilt Waco Wagner vom Münchner Werkstattkino.