In „Für immer hier“ beleuchtet Walter Salles die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien.
Es ist einer jener wunderschönen Tage in Rio de Janeiro, der nahezu alle Klischeevorstellungen von der brasilianischen Metropole zu bestätigen scheint: strahlender Sonnenschein, das Meer mit herrlichen Sandstränden gleich vor der Haustür, kurzum ein Ort, an dem man das Leben genießen kann. Das gedenken auch einige Mitglieder der Familie Pavia an besagtem Tag im Jahr 1970 an einem dieser herrlichen Strände zu tun. Eunice (Fernanda Torres) kann die Pflichten als Mutter von fünf Kindern für einen Moment hinter sich lassen und beim Schwimmen im kristallklaren Meerwasser entspannen. Eliana, eine ihrer vier Töchter, spielt mit ihren Freundinnen und Freunden Volleyball am Strand, ihr Bruder Marcello findet einen kleinen, herumstreunenden Hund, den er flugs mit nach Hause nimmt. Dort, in einem weiträumigen, in Strandnähe gelegenen Haus, bespricht Vater Rubens Pavia (Selton Mello) gerade mit seinem Geschäftspartner letzte Details eines Projekts, das der Bauingenieur gerade umsetzt.
Doch diese Idylle im privaten Rückzugsort steht im krassen Gegensatz zur politischen Lage in der sich Brasilien befindet. Denn das Land wird seit einem Militärputsch im Jahr 1964 autoritär regiert. Wie schnell die Normalität des Alltagslebens davon betroffen sein kann und brüchig wird, bekommt die älteste Tochter der Pavias, Vera, zu spüren. Als sie eines Abends nach einem Kinobesuch mit Freunden angehalten wird, ist schnell klar, dass es sich um keine normale Verkehrskontrolle handelt. Denn die dabei agierenden Soldaten sind nicht auf der Suche nach Verkehrssündern, sondern nach (vermeintlichen) Terroristen. Und dabei reicht es schon, als Mann lange Haare zu haben, um von den Vertretern der Staatsmacht nicht gerade zimperlich behandelt zu werden. Vera kommt auch deshalb noch einigermaßen glimpflich aus der prekären Situation, weil einer ihrer Bekannten zufällig den Ausweis der brasilianischen Anwaltskammer, der sein Vater als Jurist angehört, vorweisen kann. Schlagartig wird nach Veras Ankunft im elterlichen Heim allen wieder vor Augen geführt, dass die herrschende Militärjunta es mit Demokratie und Bürgerrechten – sehr zurückhaltend formuliert – nicht so genau nimmt.
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Bleierne Zeiten
Walter Salles, gegenwärtig einer der bekanntesten Repräsentanten des brasilianischen Kinos greift in Für immer hier (Ainda estou aqui / internationaler Titel I’m Still Here) eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte seines Heimatlandes auf. Nach dem erwähnten Putsch am 31. März 1964, bei dem der amtierende Präsident João Goulart gestürzt wurde, sah sich Brasilien mehr als zwei Jahrzehnte einer Militärdiktatur gegenüber, eine Herrschaft, die erst durch den Wahlsieg von Tancredo Neves ihr Ende fand. Salles stützt sich dabei auf wahre Begebenheiten, beruht doch seine neue Regiearbeit auf dem 2015 erschienen Buch „Ainda estou aqui“, in dem sich der Journalist und Autor Marcelo Rubens Paiva mit der Biografie seiner Familie, insbesondere mit der seiner Eltern Rubens und Eunice befasst und dabei aufarbeitet, welche Auswirkungen die Umtriebe dieses autoritären Regimes auf seine Familie hatte – und das nicht nur auf einer politischen sondern vor allem auf einer sehr privaten Ebene.
Dass Walter Salles die Geschichte der Familie Pavia aufgreift, um sich der Zeit, in der sich Brasilien mit harter Hand von den Militärs regiert worden war, anzunähern, hat auch einen sehr persönlichen Hintergrund. Denn Ende der sechziger Jahre hatte Salles, 1956 geboren, die Pavias kennengelernt und war selbst des Öfteren in dem eingangs erwähnten Haus zugegen. Das galt als Treffpunkt für Freunde und enge Bekannte von Familie Pavia, ein weltoffener Platz, wo über Politik ebenso offen diskutiert wurde wie über Kunst. Doch Salles macht in seiner Inszenierung Zug um Zug deutlich, dass die gelöste Atmosphäre in diesem Refugium, wo man eben nicht befürchten muss, für eine offene Äußerung seiner Meinung sanktioniert zu werden, Risse zu bekommen droht, sobald man sich jenes Brasilien begibt, wie es außerhalb des Anwesens von Familie Pavia existiert. Auch dort erscheint der Alltag an der Oberfläche zunächst einigermaßen normal abzulaufen, doch Salles veranschaulicht mit ruhiger, aber umso eindringlicherer Präzision in Für immer hier, wie die Angst vor staatlichen Repressalien gleichsam wie das viel zitierte Schwert des Damokles über den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger hängt.
Als etwa Vera nach ihrem Schulabschluss eine längere Reise nach England antritt, denken ihre Eltern darüber nach, ob es nicht klüger wäre, wenn die Tochter dort auch ihr Studium aufnehmen würde. Denn an der heimischen Universität würde die rebellische Vera der Einschätzung ihrer Mutter zufolge, sich gewiss den studentischen Protesten gegen das Militärregime anschließen, im Brasilien der frühen siebziger Jahre eine durchaus riskante Sache. Auch im Freundeskreis der Pavias, die man einem linksliberalen, durchaus bürgerlichen Milieu zurechnen würde, tritt immer wieder eine gewisse Anspannung, eine Art von Vorsicht, mit der man die potenzielle Gefahr zu antizipieren versucht, zutage. Im Fall von Familie Pavia ist die Sorge – wie man im Verlauf der Ereignisse erfahren wird – ins Visier des Regimes zu geraten noch mehr berechtigt. Denn Rubens war als Vertreter der Brasilianischen Arbeiterpartei Anfang der sechziger Jahre zum Abgeordneten des Bundesstaates São Paulo gewählt worden. Nach dem Putsch von 1964 ging Rubens nicht nur zwangsweise seines Amtes verlustig, er verließ sicherheitshalber für mehrere Monate seine Heimat. Nach seiner Rückkehr übersiedelte er schließlich mit seiner Familie nach Rio de Janeiro, wo er seinen Beruf als Ingenieur wieder aufnahm und sich nach außen hin nicht politisch betätigte.
Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich schließlich an einem Tag im Jänner 1971. Beamte der Sicherheitsbehörden stehen vor der Tür, um Rubens Pavia zum Zweck einer Befragung unverzüglich mitzunehmen. Der versucht die Situation herunterzuspielen, vor allem um seine Kinder zu beruhigen. Doch dass es sich um eine ernste, höchst gefährliche Situation handelt, wird allen spätestens dann klar, als sich einige der Beamten im Haus breit machen und jede Kontaktaufnahme nach außen verhindern, nachdem Rubens abgeführt wurde. Das alles läuft in einer seltsamen Ruhe ab, die jedoch die Bedrohlichkeit der Ereignisse nur verstärkt. Es soll nicht lange dauern, bis auch Eunice und ihre 15-jährige Tochter Eliana zu einem Verhör abgeführt werden. Und spätestens in dem gefängnisartigen Gebäude, in das die beiden verbracht werden, wird klar, wessen Geistes Kind dieses Regime ist, als die Schreie von Folteropfern hinter mancher Zellentür zu hören sind. Man ist an einen Dialog aus Costa-Gavras État de siège (Der unsichtbare Aufstand, 1972) erinnert. In diesem Klassiker des Politthrillers, der in einem ebenfalls autoritär regierten südamerikanischen Land – klar als Uruguay erkennbar – spielt, kommt es zu einem politischen Diskurs zwischen einem US-amerikanischen Agenten und seinen Kidnappern, den als Stadtguerilla aktiven Tupamaros. Einer der Entführer verweist dabei auf die Grausamkeit, mit der Militärregimes in dieser Region zu agieren pflegen: „In Brasilien wurden Kinder gefoltert, damit die Eltern reden.“
Angesichts solcher Verhältnisse wird der Druck geradezu spürbar, unter dem Eunice steht, als man ihr eine Reihe von Fotos zeigt – man sollte übrigens vorsichtshalber die Ohren spitzen wie ein Luchs, wann immer Politiker in Fantasien über potenzielle Fahndungslisten schwelgen – und die vernehmenden Beamten nachfragen, ob sie jemanden erkenn würde. Was ein eigentlich unlösbares Dilemma für Eunice Pavia bedeutet, denn einiger der Bilder zeigen Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, doch die Preisgabe würde diese in höchste Gefahr bringen. Dem gegenüber steht die Sorge um Ehemann und Tochter für den Fall der Aussageverweigerung. Zwar wird Eliana bald schon wieder entlassen, doch Eunice muss zwei Wochen voller Ungewissheit in Gewahrsam des Sicherheitsapparats verbringen, ehe auch sie wieder nach Hause zurückkehren darf. Über das Schicksal ihres Mannes erfährt sie jedoch weiterhin nichts,
Rubens bleibt spurlos verschwunden.
Gespenstische Ruhe
Die Bemühungen von Eunice, den Verbleib ihres Ehemanns aufzuklären, würden einen dramaturgisch erprobten und auch erwartbaren Ansatz bieten, um den entsprechenden Spannungsbogen effektvoll anzuziehen. Doch Walter Salles entscheidet sich dafür, seiner Inszenierung eine andere, ziemlich konträre Richtung zu verleihen. Die Suche nach Rubens Pavia verläuft nämlich ziemlich unspektakulär, auch weil die Behörden jede Anfrage abblocken und einfach unverfroren mauern. Zunächst hat die Familie noch die Hoffnung, dass sich Rubens’ Aufenthaltsort ermitteln lässt oder er einfach eines Tages vor der Haustür steht. Doch das Warten zieht sich immer mehr in die Länge und neben der nun ständigen Überwachung durch die Schergen des Regimes, die dabei auch psychologischen Druck ausüben, steht die Familie Pavia vor ganz profanen Herausforderungen, die durch Rubens’ Absenz auftauchen. So hat etwa Eunice Schwierigkeiten, ohne ihren Mann Zugang zum gemeinsamen Bankkonto zu bekommen, wodurch sich die materiellen Sorgen noch zuspitzen. Zwischen diesen Kämpfen, um den Alltag zu meistern, verschwindet Rubens gleichsam nach und nach aus dem Leben seiner Familie. Der Verlust des Ehemanns und Vaters erfolgt nicht mit dem Knall eines tragischen Höhepunkts, es ist vielmehr ein stiller, schleichender Prozess, der fast noch schmerzhafter erscheint. Salles präzise und ruhige Inszenierung macht dies eindrucksvoll deutlich. Im Zentrum steht dabei die von Fernanda Torres verkörperte Eunice Pavia, die von einem Moment auf den anderen die ganze Verantwortung für ihre Familie übernehmen muss und auch hartnäckig immer wieder nachforscht, was eigentlich mit Rubens geschehen ist.
Die Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Verhältnissen hat im Œuvre von Walter Salles wiederholt eine zentrale Rolle gespielt, doch sein Schaffen weist auch andere Facetten auf. Salles hatte bereits mehrere Jahre als Dokumentarfilmer gearbeitet, ehe er 1991 mit dem international besetzten – zum Cast gehörten Peter Coyote und Tchéky Karyo – Krimi/Thriller Exposure (A Grande Arte) seinen ersten Spielfilm drehte. Mit Central Station (Central do Brasil, 1998), in dem sich eine pensionierte Lehrerin und ein neunjähriger Bub, die sich auf dem titelgebenden Bahnhof von Rio de Janeiro getroffen haben, unter widrigen Umständen zusammenraufen müssen, konnte Salles international auf sich aufmerksam machen. Central Station gewann einen Golden Globe und wurde für den Oscar nominiert. Eine weiter Golden-Globe-Nominierung konnte Salles für das sich um Blutrache drehende, im Brasilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielende Drama Behind the Sun (Abril Despedaçado, 2001) einheimsen. Vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund angesiedelt ist das Roadmovie Die Reise des jungen Che (Diarios de motocicleta, 2004), das auf Aufzeichnungen Che Guevaras über einen Trip durch Südamerika beruht, den der legendäre Revolutionär zu Beginn der fünfziger Jahre unternommen hatte. Mit On the Road (2012) verfilmte Salles den gleichnamigen Roman von Jack Kerouac, zum hochkarätigen Ensemble zählten Sam Riley, Kristen Stewart, Kirsten Dunst, Viggo Mortensen und Steve Buschemi. Zwischenzeitlich hatte sich Walter Salles mit dem Horrorfilm Dark Water (2005) einem ganz anderen Genre zugewandt – mit einem höchst respektablen Resultat.
Knapp zwölf Jahre hat es nun gedauert, bis Salles nach On the Road mit Für immer hier eine neue Regiearbeit fertiggestellt hat. Das mag auch daran gelegen haben, dass Walter Salles sich dieser speziellen Epoche Brasiliens mit besonderer Sorgfalt und Genauigkeit annähern wollte. Denn die Zeit der Militärdiktatur mit ihren Repressionen gegen Oppositionelle hat Spuren hinterlassen, die in der brasilianischen Gesellschaft immer noch sichtbar werden. „Die 2011 von Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzte offizielle Wahrheitskommission kam“, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt, „nach zweieinhalb Jahren Recherche und Anhörungen von über tausend Zeugen zu dem Schluss, dass die Menschenrechtsverletzungen und die Ausschaltungen von politischen Gegnern das Resultat einer systematischen Aktion des Staates gewesen seien.“ Die Kommission kam auch zu dem Schluss, dass mindestens 434 Menschen vom Regime ermordet wurden, etliche Fälle von Verschwundenen gelten immer noch als unaufgeklärt. Der Umgang mit dieser Vergangenheit trägt nicht unwesentlich zur Polarisierung bei, die sich gegenwärtig im politischen System Brasiliens konstatieren lassen. Roussef und der derzeitige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva engagierten sich Ende der sechziger Jahre in der Opposition gegen die Militärs, während Jair Bolsonaro, ehemalige Offizier und von 2018 bis 2022 Präsident, ziemlich unverhohlen seine Sympathie für einen vom Militär autoritär geführten Staat wiederholt zum Ausdruck brachte.
Walter Salles findet mit unaufgeregter Präzision genau den richtigen Duktus, um die brutale Unmenschlichkeit des Militärregimes ebenso deutlich sichtbar zu machen, wie die nötige Sensibilität, um der Geschichte von Familie Pavia mit gebührendem Respekt zu begegnen. Das brachte Für immer hier bei den Oscars 2025 die selten geschafften Nominierungen in den Kategorien Bester Film und Bester internationaler Film ein.