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Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

Wer bin ich?

| Alexandra Seitz |
Die dokumentarische Auseinandersetzung mit dem Werk der Fotografin Libuše Jarcovjáková wird zur Suche nach künstlerischer und persönlicher Identität.

Die Ausgangssituation: Im Zuge der Vorbereitungen für eine ihrem Werk gewidmete Ausstellung sichtet die Fotografin ihre Arbeiten. Es sind abertausende Bilder, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind. Was soll am Ende an den Wänden hängen? Was soll ihre spezifische ästhetische Herangehensweise belegen? Was Zeugnis ablegen von ihrem kreativen Impuls? Was ihre Identität als Künstlerin repräsentieren? Schon gerät die Frau ins Stolpern, denn: Hat sie überhaupt eine Identität als Künstlerin? Ist sie tatsächlich Künstlerin? Und hat sie eigentlich eine Identität?

Der Dokumentarfilm Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte (Ještě nejsem, kým chci být) von Klára Tasovská ist kaum eine Viertelstunde alt, da tut sich bereits der Abgrund auf zwischen Selbstwahrnehmung und Abbild und dem, was ist – denn nicht ein Vögelchen, sondern der Teufel ist es, der im Fotoapparat steckt. Er will einem weis machen, das aufs Fotopapier Gebannte sei die Wahrheit. Dabei ist das fotografische Abbild der Frau, die ihr Abbild im Spiegel fotografiert, kein Bild ihres Selbst.

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Unermüdlich schaut Libuše Jarcovjáková in den Spiegel, unermüdlich fertigt sie Selbstporträts an, unermüdlich ist sie auf der Suche nach dem Ich, unermüdlich und vergeblich. Warum ist das so schwierig? Warum ist es schwierig, man*frau selbst zu sein? Geschweige denn, einen Begriff von sich zu haben. Weil es kein richtiges Leben im falschen gibt. Manche lassen sich davon nicht irritieren, andere eben schon. Wir haben es also mit einer Künstlerinnen(auto)biografie zu tun, deren Gegenstand zur Abwechslung einmal nicht stolz die eigenen Verdienste präsentiert und selbstgewiss Reflexionsvermögen sowie Sendungsbewusstsein ausstellt. Vielmehr ist die alles bestimmende Grundströmung hier der Selbstzweifel, der immer wieder auch in eine existenzielle Verzweiflung hinüberreicht. Zugleich ist Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte  ein Fotoroman; wie gesagt, Jarcovjáková wählt die Bilder einer Ausstellung aus, sie blättert durch Berge von Abzügen, fächert Panoramen ihres Lebens auf. Ihre fotografische Kunst ist unmittelbar und autobiografisch: sie lichtet ab, wo sie ist, was sie sieht und was die Menschen, mit denen sie Zeit verbringt, so machen. Die spontaneistische Anmutung, die sich daraus ergibt, erinnert manch heutige Betrachter an den Content sogenannter sozialer Medien, beispielsweise Instagram. Ein zwar naheliegender Gedanke, der aber völlig Mühe und Aufwand, mithin die kreative Intention verkennt, die in Jarcovjákovás Fotografien stecken, und die sich doch wesentlich unterscheiden vom Anklicken des Auslösers einer Handykamera.

Sie fotografiert an Arbeitsplätzen, bei Festen, in Betten und in Spelunken, auf der Straße, am Strand und in der U-Bahn, sie fotografiert ihr erhitztes Gesicht nach dem Sex und die trunkene Visage des Freundes. Und weil sie zu Beginn der 1980er-Jahre umfangreich das ekstatische Treiben der Prager LGBTQ-Community in der Szene-Bar T-Club dokumentiert hat, wird sie des öfteren mit der US-amerikanischen Fotografin Nan Goldin verglichen, die mit „The Ballad of Sexual Dependency“ gleichfalls das Porträt einer Subkultur (New York, 1980er-Jahre) geschaffen hat.

Geboren wird Libuše Jarcovjáková am 5. Mai 1952 in Prag. Sie beginnt früh zu fotografieren, studiert Grafik, arbeitet in einer Druckerei, bringt vietnamesischen Gastarbeitern Tschechisch bei, beginnt schließlich ein Studium an der Film- und Fernsehschule der Prager Akademie der musischen Künste, das sie 1982 abschließt. Sie führt ein unstetes Leben. Mehrfach hält sie sich in Japan auf, wo sie kurzzeitig auch als Modefotografin reüssiert. Sie geht eine Scheinehe mit einem Bundesdeutschen ein und emigriert Mitte der Achtziger nach Westberlin. 1990 kehrt sie wieder zurück. Mal hält sie sich mit Jobs über Wasser, mal hat sie Lehraufträge inne. Sie erlebt hautnah den Prager Frühling und den Zerfall des Ostblocks. Dem Sturm der Geschichte hält sie ihr skeptisches, fragendes, forschendes Gesicht entgegen. Dass sie gerne feiert und zu viel raucht, ist ihr anzusehen. Ebenso wie die Reibung an der Wirklichkeit, die ihre Wahrnehmung prägt. An Komfortzonen jedweder Art hat Libuše  Jarcovjáková keinerlei Interesse.

Das heisst auch, dass wir, die Zuschauer, uns ein ums andere Mal konfrontiert sehen mit Intimität, dass wir mitten im Privaten landen und uns ungefragt ins Vertrauen gezogen sehen – obwohl wir das vielleicht eigentlich gar nicht wollen. Und so reagieren wir womöglich peinlich berührt. Was Jarcovjáková uns zumutet, ist uns zu eng, zu nah und zu detailliert. Doch ist eben dies eine selbstbetrügerische Distanzierung, die uns, sollten wir an ihr festhalten, den Film versemmeln wird.

Also tun wir’s nicht, und lassen stattdessen diese Frau mit ihrer trügerischen Schnappschussfotografie und ihrer selbstquälerischen Nabelbeschau an uns heran. Gelegenheiten wie diese bieten sich schließlich selten genug: dass sich einem ein Anderer, Fremder derart rückhaltlos offenbart und das allgemein Menschliche, das, was uns alle verbindet, in dieser Offenbarung ersichtlich wird. Oder vielmehr: spürbar. Spürbar und nachvollziehbar als konstante Irritation über das In-der-Welt-Sein: Das Leben vergeht, während wir lernen, wie es gehen könnte. Insofern ist Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte ein weiser Film.

Nicht zuletzt weil Regisseurin Tasovská, die den Bilderberg mit Jarcovjáková zusammen erklommen hat und mit Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte einem internationalen Publikum erschließt, zum großen Glück auf den in dokumentarischen Formen betrüblich modisch gewordenen Animationsfirlefanz verzichtet. Weder künstliche Bildbewegungen noch dreidimensionale Effekthascherei, oder was es an dergleichen entbehrlichen Manövern der Zuschauerbespaßung weiters geben mag, fallen einem hier auf den Wecker. Die Fotografien werden vielmehr klassisch präsentiert in Form einer Diashow, manchmal ergeben sich kurze Daumenkinofilme, die zwanglos auf die Geschichte des Laufbild und das in ihnen wohnende Leben verweisen – es ist eben doch ein esoterischer Apparat! Über die Tonspur wird Schuhgetrappel, Gläserklirren, Rascheln und Rauschen, Knistern und Quietschen vermittlt – was die Geräuschebibliothek halt hergibt. Sowie die Tagebücher, aus denen Jarcovjáková gänzlich uneitel vorliest. Vieles an diesem Leben, das solcherart nachvollzogen wird, ist auch typisch für das Leben einer Frau: das ewige Vordrängen der Männer, das Verdrängen der eigenen sexuellen Bedürfnisse, die Fallstricke der Biologie, die Suche nach Sicherheit, das Enttäuscht- und Betrogen- und Marginalisiertwerden, die allzu lange vorenthaltene Anerkennung. Wenigstens das hat jetzt ein Ende.