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Inland Empire – Kaninchen im Kopf

Kaninchen im Kopf

| Ralph Umard |

David Lynch hat mit Inland Empire ein knapp dreistündiges beklemmendes Mysterienspiel inszeniert, das als unverständliche Spinnerei eines Cineasten abgetan werden kann – oder als mutiges Vexierspiel eines kompromisslosen Filmkünstlers bewundert. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Ratlosigkeit an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Im September 1979 schrieb ich in der Nacht nach der Kino­vorstellung von Eraserhead fasziniert und verstört zugleich einen langen Brief an meinen besten Freund, dem ich mit beschwörenden Sätzen ein einzigartiges Filmerlebnis nahe bringen wollte, und den ich mit imperativen Vokabeln drängte, dass er sich diesen Film unbedingt ansehen müsse. Am übernächsten Abend bekam ich einen Anruf von meinem hörbar derangierten und düster gestimmten Freund. Er teilte mir mit, dass er gerade Eraserhead gesehen habe, und dass ich, der ihn ja zum Filmbesuch genötigt hätte, nun auch gefälligst für den Psychotherapeuten aufkommen müsse. Den würde er jetzt nämlich brauchen, um sein seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen.

Der Schrecken von David Lynchs phantastischem Kinodebüt aus dem Jahr 1977, in dem eine unheimliche Heizung eine Hauptrolle spielt, hat nichts gemein mit dem infantilen Horror von Filmen wie Halloween. Es ist ein surrealistischer Alptraum, höchstens vergleichbar mit Un chien andalou von Luis Buñuel, den Lynch zu seinen Vorbildern zählt – in seiner wechselvollen Kinokarriere hat der exzentrische Regisseur bis jetzt nichts vergleichbar Originelles mehr hervorgebracht. Sein zweiter Spielfilm The Elephant Man (1980) war anrührend, aber konventioneller gestaltet. Die Kinoadaption von Frank Herberts Science-Fiction-Saga Dune (1984) bekam Lynch dramaturgisch nicht in den Griff, und die bunten Bildkreationen in Blue Velvet (1986) waren beeindruckend, doch inkohärent und manieriert. Wild at Heart (1990) schließlich war eine Stilübung in Werbefilm-Ästhetik, ein hochglanzpolierter, suggestiver visueller Kraftakt, in dem paradoxerweise Isabella Rossellini, mit deren Gesicht damals für Lancôme-Kosmetikprodukte geworben wurde, wie ein Fremdkörper wirkte.

Schlaglichter und Traumbilder

Inland Empire ist nun auf ähnliche Weise verstörend wie Eraserhead, allerdings fehlt ihm die formale Geschlossenheit des genialischen Erstlingswerks. Er ist kryptischer als Twin Peaks: Fire Walk With Me (1992), Lost Highway (1997) oder Mulholland Dr. (2001), weist aber viele für Lynch typische Gestaltungsmittel auf: extreme Nahaufnahmen von Gesichtern und vor allem der Augen, rote Vorhänge und Schlaglichter, unheimliche Szenenbilder, frappierende Montagen, dräuende Musik, eigenartige Geräusche, verwirrender Persönlichkeitswandel bei Hauptfiguren, schwer durchschaubare Wechsel von Traumbildern und Filmwirklichkeit. Auch einige von Lynch bevorzugte Darsteller sind wieder dabei: Laura Dern dominiert den (von ihr koproduzierten) Film völlig und wird immer wieder groß in Szene gesetzt. Leinwandveteran ­Harry Dean Stanton, der bereits in Wild at Heart, Twin Peaks und The Straight Story (1999) mitwirkte, spielt eine Nebenrolle als ständig schnorrendes Faktotum eines Filmregisseurs (Jeremy Irons). Justin Theroux, der in Mulholland Dr. einen Regisseur verkörperte, mimt nun einen Filmstar.

Die rudimentäre Rahmenhandlung von Inland Empire – wenn man bei diesem ohne Drehbuch über den Zeitraum von mehreren Jahren episodenweise gedrehten, postmodernen „Mysterienspiel“ überhaupt von einer solchen sprechen kann – zeigt die zunehmende Verwirrung der bekannten Schauspielerin Nikki Grace (Dern), die bei den Dreharbeiten für ein Liebesdrama ihrem Filmpartner Devon Berk (Theroux) auch privat näher kommt. Die Filmarbeit wird dabei zu einer Art Vexierspiegel für die intime Beziehung der zwei Schauspieler, und während seltsame Dinge geschehen, verschwimmt die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Projekt um das Remake einer polnischen Produktion handelt, die nie fertig gestellt wurde, weil die beiden Hauptdarsteller unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Ist es möglich, dass Nikki eine Reinkarnation der toten Schauspielerin ist?

Für David Lynch, der sich erklärtermaßen zwei Mal täglich für zwanzig Minuten in „transzendentale Meditation“ versenkt, dürfte das zumindest denkbar sein. In seinem Buch Catching the Big Fish (Tarcher/Penguin 2006) erläutert er den Einfluss der vom ehemaligen Beatles-Guru Maharishi Mahesh Yogi entwickelten Erleuchtungstechnik auf seine kreative Arbeit. Doch Lynch sträubt sich wie immer einer Deutung seines kaleidoskopischen Werks: „Das Leben ist eine irrationale, verwirrende Reihe von zufälligen Ereignissen, sagt er und meint, dass Filme über das menschliche Leben auch kompliziert und unerklärlich sein sollten. Bedeutung erhalten sie durch die subjektive Wahrnehmung und individuell unterschiedliche gedankliche Verarbeitung des Zuschauers. Tatsächlich sind die Publikumsreaktionen auf seine Filme kontrovers: Blue Velvet beispielsweise wurde in den USA von Woody Allen als Lieblingsfilm des Jahres 1986 bejubelt und vom damaligen Filmkritiker-Papst Roger Ebert geschmäht. Von Fans wurde er als Kultfilm gefeiert, von Verächtern wegen filmkompositorischer Inkompetenz und inhaltlicher Öde als verführerisch bildschöne, aber letztlich sinnleere, postpubertäre Filmfantasie abgetan, die mit schockierenden Szenen auf die Sensationslust des Publikums spekuliere, dem Lynch das seinerzeit weltberühmte Fotomodell Isabella Rossellini nackt und bei der Fellatio vorführte.

Im Falle von Inland Empire kommen ebenfalls verschiedene Rezeptionsmöglichkeiten in Betracht: Man kann das 172 Minuten lange Lichtspiel als unverständlich und verworren abtun, als Spinnerei eines selbstgefälligen Cineasten, der öffentlich seinem Filmspieltrieb frönt. Oder man kann den Mut eines kompromisslosen Filmkünstlers bewundern, der avantgardis­tisch wie Matthew Barney (The Cremaster Cycle) seinem visionären Schöpferdrang freien Lauf lässt, ohne sich dabei von filmmarktwirtschaftlichen Erwägungen beirren zu lassen.

Digitale Verfremdung

Inland Empire ist in mancherlei Hinsicht eine Art „Back to the Roots“-Projekt des 61-jährigen Regisseurs, der ursprünglich Malerei studiert hatte und im März 2007 eine große Ausstellung seiner Bilder und Fotografien in Paris präsentieren konnte (siehe den folgenden Beitrag). Bereits 1970 wurde er mit dem teilweise animierten, halbstündigen Filmexperiment The Grandmother (über einen vernachlässigten Jungen, der sich aus Saatgut eine Großmutter heranzieht) auf Kinofestivals mit Preisen ausgezeichnet. Wie bei Eraserhead drehte Lynch Inland Empire ohne Rücksicht auf kommerzielle Kinokonventionen und unabhängig von Filmstudios oder Fernsehanstalten. Erneut versuchte er, mit Bildern und Tönen weniger den Intellekt als die Gefühle des Rezipienten anzusprechen: Diesmal bedient er sich jedoch der Digitaltechnik, um Farben zu verfremden oder Geräusche, Geistererscheinungen, Unschärfen, Überbelichtungen, Ein- und Ausblendungen zu erzeugen. Bewusst lässt er beim Filmschnitt krasse Farbkontraste, Bild- und Achsensprünge zu und verzichtet auf eine klar erkennbare narrative Struktur, einen rational nachvollziehbaren Handlungsverlauf, um eine Atmosphäre des Unbehagens zu erzeugen – was ihm mit gespenstisch wirkenden Szenenbildern oder zunächst ganz alltäglich erscheinenden Begebenheiten, wie dem Besuch einer alten Dame bei Nikki, gelingt: Als Gast aus der Nachbarschaft stellt sich diese bei der Schauspielerin in deren Luxusdomizil vor und beginnt, den Filmstar erbarmungslos mit rätselhaften Worten niederzureden. Dabei nimmt der Gast zunehmend bedrohliche Züge an, bis er fast wie eine Hexe mit bösem Blick (beängstigend gespielt von Grace Zabriskie) erscheint. Eine extravagante Hochfrisur (die an John Nance erinnert, dem in Eraserhead die Haare bizarr zu Berge standen) und der Verzerrungseffekt durch Weitwinkelaufnahmen des Gesichts aus extremer Nähe verstärken diesen dämonischen Eindruck zusätzlich.

Normale Menschen?

Der verwirrende Gesamteindruck dieses hermetischen Films hängt nicht zuletzt mit seiner Entstehungsgeschichte zusammen. Wie zuvor schon Mulholland Dr. (dessen inhaltliche und stilistische Motive teilweise wieder aufgegriffen werden) war Inland Empire ursprünglich nicht als Kinofilm konzipiert. Nachdem sich Lynch einen digitalen Sony PD 150 Videorekorder zugelegt hatte, regte ihn das handliche Aufnahmegerät zu allerlei Filmexperimenten an. Er drehte Szenen mit Laura Dern und filmte während einer Polenreise einige von ihm kurzfris­tig ausgedachte Handlungsfragmente mit einheimischen Darstellern in Łodz. Daheim in Los Angeles inszenierte er eine Sitcom-Parodie über menschliche Wesen mit Kaninchenköpfen, acht kurze Filmfolgen von insgesamt 50 Minuten Länge. Die Miniserie Rabbits (2002) veröffentlichte Lynch auf einer eigenen Website im Internet (eine andere Serie mit dem Titel Dumb Land erschien auf www.davidlynch.com, wo der Exzentriker auch einen täglichen Wetterbericht für L.A. verbreitete). Aus Teilen dieses Materials, ergänzt durch zusätzliche Szenen, für die er Dialoge meist erst kurz vor Drehbeginn schrieb, montierte er schließlich Inland Empire.

Den nachhaltigsten Eindruck dürften die Kaninchen-Sequenzen hinterlassen, absurdes Theater, das merkwürdig faszinierend und zugleich beklemmend wirkt. Sie zeigen ein Männchen und zwei Weibchen, eingeschlossen in einem düsteren, rotbraun getönten Zimmer, die unzusammenhängende Sätze sprechen – unterbrochen in Sitcom-Manier von eingespieltem Applaus und Gelächter. Man hört Schritte, Telefonklingeln, die Tür wird geöffnet. Doch eine Handlung gibt es nicht. Meist sitzt ein Paar steif auf dem Sofa, die zweite Frau mit Kaninchenkopf bügelt. Es scheint ihnen bewusst zu sein, dass sie beobachtet werden. Oder nicht? Fühlen sie sich eingesperrt? Jedenfalls ist die Stimmung klaustrophob, ungemütlich, alptraumhaft – wodurch die eingeblendete Publikumsreaktion umso verstörender wirkt. Waren sie einst normale Menschen? So wie der über Nacht zum Riesenkäfer mutierte Handlungsreisende Gregor Samsa in der Verwandlung von Franz Kafka, den Lynch ausgesprochen schätzt? Wer weiß …