Emanuele Crialese über Produktionsbedingungen in Europa und den amerikanischen Mythos.
Was hat Sie dazu bewogen, einen Film über sizilianische Bauern zu machen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika auswandern?
Ich mache einen Film nie aus nur einem einzigen Grund. Aber ich muss ihn erst machen, damit ich hinterher verstehe, warum ich ihn gemacht habe. Hätten Sie mich gefragt, bevor der Film fertig war, hätte ich ihnen keine Antwort gegeben. Heute kann ich Ihnen sagen, dass es drei grundsätzliche Dinge waren, die mich dazu angeregt haben. Zum einen die Möglichkeit, durch den Film die Metamorphose des vormodernen, des alten Menschen zum modernen Menschen zu beschreiben. Diese Epoche ist deshalb so interessant, weil damals zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine große Masse an Leuten innerhalb kurzer Zeit – wir sprechen von vier, fünf Wochen – von einem Ort zum anderen zog. Und in diesen vier, fünf Wochen wurden sie zu völlig anderen Menschen, weil sie ihre Heimat, ihren Lebensmittelpunkt, ihr Hab und Gut zurückließen, um zu etwas zu werden, von dem sie noch gar nicht wussten, was es sein würde. Mir gefiel diese Idee, dass innerhalb kürzester Zeit eine solch epische Reise stattfand, von einer Mentalität zur anderen.
Die Einwanderer kommen aber nicht wirklich an, zumindest nicht mental.
Das stellte ich fest, als ich mich mit der Lage von Migranten auseinander setze. Die erste Generation von Einwanderern gehört für gewöhnlich nicht mehr zu ihrer alten Heimat, weil sie diese verlassen haben. Aber sie sind auch nicht wirklich Teil der neuen Heimat, weil sie immer einen Akzent haben und immer ein wenig fremd wirken. Sie befinden sich also in einer existenziellen Situation, in der sie irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft hängen, ohne wirklich dazuzugehören. Und diese Situation bringt meiner Meinung nach viele Menschen dazu, kreativer und stärker zu werden. Wenn Sie ein Tier aus seinem natürlichen Umfeld nehmen und es in eine ihm fremde Umgebung bringen, wird es erst einmal schnüffeln und die Gegend erkunden. Weil ihm alles neu ist, wird es seine Sinne schärfen und besser einsetzen und dadurch im Laufe der Zeit das neue Territorium fast besser kennen als das alte. Wenn alles neu ist und entdeckt werden muss, erlebt man alles bewusster und schärft seine Sinne.
Haben Sie das auch selbst so erfahren, als Sie Anfang der 90er Jahre nach New York gegangen sind?
Genau so – auch wenn ich selbst natürlich ein Einwanderer in der Luxusversion war, verglichen mit dem, was ich in meinem Film zeige. Ich ging nach New York, um zu studieren, nicht auf der Suche nach Arbeit, um zu überleben. Aber die existenzielle Situation ist ähnlich. Du sprichst eine andere Sprache, du kennst keinen und fühlst dich komplett isoliert. Du bist gezwungen zu kommunizieren und stellst plötzlich fest, dass Kommunikation etwas unglaublich Schwieriges ist, wenn dein Gegenüber kein Wort von dem versteht, was du sagst. Zum Glück habe ich Filme gemacht und konnte mit Bildern kommunizieren. Aber wenn ich in einer Fabrik oder für eine US-amerikanische Firma hätte arbeiten müssen, hätte ich mich nicht verständigen können.
Die Metamorphose zum modernen Menschen und die Lage der Migranten haben Sie als Gründe genannt. Was war nun der dritte Grund für Sie, diesen Film zu machen?
Als ich über Ellis Island recherchiert habe, fand ich heraus, dass dort die Ankommenden nicht nur körperlich untersucht wurden, sondern auch ihre geistige und psychische Kondition geprüft wurde. Ich entdeckte einiges über die Anfänge der Psychologie und die ersten Studien und Versuche, menschliche Intelligenz zu messen. Mich interessierte: Warum wurden diese Studien durchgeführt, welchem Zweck dienten sie? Ich erfuhr, dass damals die ersten Genlabore in Cold Spring Harbor entwickelt wurden, deren Forschungen von Rockefeller, Carnegie und Kellog’s finanziert wurden. Durch diese Forschungen sollte der Anteil fremden Bluts kontrolliert werden, der sich mit dem der bereits hier Ansässigen mischte. Die herrschende Klasse hatte Angst, ihre Dominanz zu verlieren und hat durch Statistiken darzulegen versucht, dass innerhalb von 25 Jahren die Fremden die Macht übernehmen würden, wenn ihnen nicht Einhalt geboten wird. Damit kommen wir zum vierten wichtigen Punkt. Ich weiß, ich habe drei gesagt, aber es sind doch vier.
Nur zu …
Ich habe mich gefragt, wie sie das geschafft haben, wenn innerhalb von 20 Jahren Millionen von Menschen eingewandert sind. Und mir fiel auf, dass es dieselben Methoden wie heute sind: Durch die Manipulierung von Bildern. Damals haben sie Fotomontagen von kleinen Bauern und überdimensional großen Hühnern oder Gemüse gemacht und sie in Europa auf dem Land verteilt, dort wo Leute nicht Lesen und Schreiben konnten – und ihnen mit den gefälschten Fotos das gelobte Land vorgegaukelt. Damals wurden Neuigkeiten noch am Lagerfeuer oder am Marktplatz verbreitet. So entstand der Mythos Amerika. Diese Methode wurde nie aufgegeben. Bis zum heutigen Tag verbreiten die USA Bilder ihres Landes, die nicht echt sind. Heute ist es eine ganze Industrie und sie heißt Hollywood. Im Western wurden die Massaker an den Indianern exorziert – mit John Wayne. Nach dem Motto: Wir erklären der Welt, was unserer Meinung nach damals wirklich geschah.
Aber der amerikanische Traum hat doch zumindest ein paar unübersehbare Risse, wenn er nicht schon geplatzt ist.
Nein! Vielleicht Risse, aber er besteht nach wie vor. Durch die Kraft der Bilder und die Macht, die sie durch ihre Selbstdarstellung haben. Dadurch kolonialisieren sie die gesamte Welt. In Italien werden 90 Prozent der Kinokarten für Hollywoodfilme verkauft. In Deutschland, Österreich, Spanien und anderswo ist es ähnlich.
Sie haben mehrfach Intuition gepriesen. Schwer vorstellbar, wie in Ihrem Film Improvisation Platz findet, wenn er so durchkomponiert wirkt.
Das funktioniert sogar sehr gut. Ich nenne es kontrollierte Improvisation. Man kann nur improvisieren, wenn man gut vorbereitet ist. Dieser Film floss seit sieben Jahren in meinen Venen. Ich schrieb neun Drehbuchfassungen, vor und nach Lampedusa. Der Film wuchs und reifte mit mir. Wenn du von etwas so lange besessen bist, musst du an einem bestimmten Punkt einfach aufhören zu denken und deinen Instinkten vertrauen. Ich wusste genau, wo ich anfange und wo es hinführen sollte. Ich hatte große Angst vor den Visionen, weil sie in den meisten Filmen nur Masturbationen des Regisseurs sind. Nur er weiß, was sie aussagen sollen. Ich möchte hier den Gott der Visionen, Fellini, von meiner Polemik ausdrücklich ausschließen. Aber irgendwann dachte ich: „Fuck it. Es ist meine Vision. Es ist mein Unterbewusstsein. Ich dreh es einfach, und dann sehen wir schon, ob es passt.“
Gehörte dazu auch der Schluss, die Szene, in der alle Protagonisten in einem Meer von Milch schwimmen?
Nein, ich hatte zuerst überhaupt kein Ende. Ich habe gedreht und wusste nicht, wie der Film aufhören sollte! Und plötzlich kam mir die Idee mit der Milch. Aber überzeugen Sie mal Ihren Produzenten, dass sie Ihren fast dokumentarisch anmutenden Film mit einem surrealen Milchbad enden lassen wollen.
Ist der Film auch ein Kommentar zu den aktuellen Flüchtlingsströme aus Afrika, mit denen sich Italien auseinander setzen muss?
Nein, überhaupt nicht. Das Drehbuch entstand viel früher. Ich hatte nur den amerikanischen Traum und seinen Einfluss auf die heutige Zeit vor Augen, nichts weiter. Mein Film handelt von Immigration, aber mir werden Fragen dazu gestellt, mit denen ich nicht viel anfangen kann. Ich mag das Wort nicht. Keine Immigration ist wie die andere, hinter jeder einzelnen steckt ein individuelles Schicksal, ein Leben. Wir waren immer Wanderer, wir haben nie damit aufgehört. Wenn das Land unfruchtbar wurde, sind wir weitergezogen. So entstanden die verschiedenen Rassen. Heute nennt man es Migration. Warum muss man etwas zu einem sozialen Problem machen, was doch ein Millionen Jahre altes und natürliches Verhalten von Lebewesen ist? Es geht doch um Neugierde, wachsen wollen, sich weiterentwickeln. Heute entwickeln wir uns eher zurück. So inhuman die Aussortierung auf Ellis Island war: Die Leute, die durchkamen, wurden integriert. Heute werden Flüchtlinge in Käfigen gehalten. Und wir brauchen sie als billige Arbeitskräfte. Kein Italiener will in einer Bar Teller waschen. Dafür gibt es doch genug andere, die die Drecksarbeit machen, nur um hier bleiben zu dürfen.
Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie niemals nach Hollywood emigrieren würden?
Warum denn nicht? Wird ein Regisseur für den neuen Harry Potter gesucht? Ich würde es machen. Absolut! Weil ich mit der Maschine spielen will. Das Problem in Europa ist, dass keiner der Produzenten rechnen kann. Sie rechnen immer mit zu viel Geld, und dann muss plötzlich alles gekürzt werden. Wir haben keine Produzenten in Europa – aber wir haben Talente. In den USA gibt es kaum Talente, aber Produzenten, die ihr eigenes Geld investieren. Dort kann man als Regisseur gefeuert werden, das ist schlecht. Aber wenn etwas mit der Kalkulation nicht stimmt, ist es nicht mein Problem. Hierzulande muss ich die Probleme meines Produzenten lösen. Das ist in meinen Augen die große Tragik des europäischen Kinos. Und es wird immer schlimmer.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Diese Produzenten kommen von der Wirtschaftshochschule und haben keine Ahnung vom Kino. Ihre Aufgabe besteht darin, Briefe zu schreiben und Geld zusammenzubekommen. Aber es ist nicht ihr eigenes Geld. Meistens sind es sogar öffentliche Gelder. Das führt dazu, dass sich viele Produzenten erst einmal ihren Teil abzwacken, bevor sie einen Film produzieren. Also Geld, das eigentlich für den Film vorgesehen war. Meine Aufgabe als Regisseur in Europa ist also, gleichzeitig auch die Rolle des Polizisten zu übernehmen. Um sicherzu-stellen, dass das Geld auch wirklich auf der Leinwand landet. Und das ist der Tod jeder Regie, wenn es darum geht, die Finanzen zu kontrollieren.
Reden Sie über Erfahrungen im italienischen Kino?
Kaum zu glauben, aber ich rede über die Situation in Frankreich. Die Nonchalance, mit der mein französischer Produzent mir das Geld aus der Tasche gezogen hat! Er verlangte am Abend, dass ich am nächsten Morgen Szenen kürze. Szenen, über die ich jahrelang nachgedacht hatte. Weil er falsch kalkuliert hatte.
Sie finden sehr deutliche Worte für gegenwärtige Ereignisse. Trotzdem spielen Ihre Filme, wie etwa auch Lampedusa, in einer anderen Zeit.
Ich könnte die derzeitige Realität einfach nicht beschreiben, das ist die Wahrheit. Ich verstehe sie einfach nicht. Ich bin sehr verwirrt, was die Welt angeht, in der wir leben, und ihre Werte. Ich brauche Träume, an die ich mich halten kann. Ich bin kein zynischer, depressiver, düsterer Regisseur. Ich liebe es zu träumen. Ich liebe es zu hoffen. Und ich verbringe lieber einen Tag mit Fischern in einem Haus am Meer als mit Leuten in einem Salon, um über Picasso zu reden.
Sie sind also ein vormoderner Mensch?
Ja, absolut.